Warum wollen kleine Kinder bestimmte Bilderbücher immer wieder vorgelesen bekommen? Bis sie diese auswendig können. Um diese selbst wieder und wieder durchzublättern und sich plötzlich eine eigene Lesefähigkeit vorzuspielen. Lesefähigkeit bedeutet Denkfähigkeit, sie führt zu Handlungsmöglichkeiten und ist keineswegs nur Ausdruck simpler Anpassung.
Einerseits wird die Phantasie geschult, andererseits die Gestaltung von Welt trainiert. Es gibt geniale Erfindungen, die nur um den Preis deutlich erhöhter Aufwendungen überbietbar sind. Das Rad gehört dazu und das Buch als eine Möglichkeit des geistigen Fortbewegens.
Es geht um den Erwerb der Sprache und um die Beherrschung der Schrift. Oder kann eine funktionierende Demokratie auf Dauer ein Heer von Analphabeten ertragen?
Die Schrift braucht ihren sinnlichen erlebbaren Auftritt, und das Buch ist ihre kultivierteste Erscheinungsform. Es stellt die Schrift in einen Raum, gibt ihr körperliche Gestalt – eine, die nicht per Knopfdruck auszulöschen ist. Das Buch verlangt nach Dauer, weil das, was der Mensch denkt und schreibt, wichtig sein kann. Es ist ein Halt, nicht nur für die Finger, die das Papier spüren und die Nase riecht es vielleicht. Das Buch spricht verschiedene Sinnesorgane an, und das Bilderbuch verknüpft die hoch abstrakten Schriftzeichen mit dem bildnerischen Schaffen des Illustrators.
So werden Werte vermittelt, lange bevor sie in der Schule vorkommen. Das Buch lehrt auch einen sorgsamen Umgang mit Material, wenn man es ein zweites oder ein zwanzigstes Mal lesen will. Es weckt den Ehrgeiz, weitere Bücher zu lesen. Und so lange in unseren Buchhandlungen noch Tausende von Büchern in Stapeln von 50 Exemplaren aufgestellt locken – und nicht nur 50 Bücher in Tausenden von Kopien zum Kauf verführen, stellt der Buchmarkt einen Platz dar, der zu Individualität, Persönlichkeit und Eigensinn anregt. Denn ein Buch wird ja nicht von zwei Menschen auf die gleiche Art gelesen, es regt an zum Gespräch.
Bücher sind Schlüssel zur Welt. Sie wecken Neugier und befriedigen diese, sie führen eine vielschichtige Realität sortiert vor: zu einem guten Ende oder einem nicht so guten, mit dem sich aber weiterleben lässt. Anders als in der oft unkontrolliert auf die Kinder eindringenden konkurrierenden Bilderflut des Fernsehens führen Bücher die Welt übersichtlich und gestaltbar vor, aber dennoch vielschichtig. Das Kind kann eine Seite zurückschlagen und nach Belieben entscheiden, wie lange es ein Bild und wie oft betrachtet. Über ihre Bücher denken die jungen Nutzer nicht einfach nach, sie leben und träumen sie neu. Das Erlebnis Bücher lesen zu können, macht unabhängiger und freier. Pathetisch verkürzt verschafft es eine Art von Freiheit.
Es ist kein Zufall, dass die schwierigen sozialen Milieus auch die bilderbucharmen sind. Spielzeugferne Kindheiten (und das Buch ist die anspruchvollste Art des Spielzeugs) verbauen Heranwachsenden früh, lustvolles Lernens zu trainieren: Eine Organisationsfähigkeit für das Erleben, die weiter führt, angetrieben von einer Neugier zu agieren statt nur auf Angebote zu reagieren. Das unterscheidet Lesen vom Einschalten des Fernsehens. Und wer das selbstbewusste Agieren nicht gelernt hat, für den wird das Spiel mit der Programmbedienung des Fernsehers oft zum prägenden frühkindlichen Aktivitätsmuster. Lesen ist Sozialisierung, damit eine Resozialisierung gar nicht erst nötig wird.
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