„Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus
Der Großteil der deutschen Bevölkerung besteht aus mehr oder weniger überzeugten neoliberalen Konservativen. Da sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Dies zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, wie Professor Heinz-Josef Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik bereits festgestellt hat. Doch das ist nicht den Menschen anzulasten, die am Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama den repräsentativ-demokratischen Kapitalismus nannte, angekommen sind und sich nun ihre Köpfe an dessen Mauern stoßen. Es scheint ja tatsächlich alles recht alternativlos zu sein. Und die Leute blicken sich um und denken sich, schau mal einer an, wie gut das System doch funktioniert, das kann ja so schlecht nicht sein. Aber das ist eben der Trugschluss, dass ein System das richtige sein soll, weil es genau das tut, was man von ihm erwartet. Etwas ganz Fundamentales fehlt in dieser heutigen Gesellschaftsordnung nämlich. Man könnte es vielleicht die Transzendenz nennen.
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Viele Menschen fühlen sich in die Enge getrieben und frustriert, haben aber zugleich ein schlechtes Gewissen. Schließlich ist es die unsichtbare Hand des freien Marktes, die sie nährt. Und die Hand, die einen füttert, beißt man bekanntlich nicht. Trotzdem ahnt man, dass etwas nicht stimmt; dass man eigentlich nur weitermacht, weil man nicht weiß, was man sonst tun soll. Ich hatte einmal in jungen Jahren eines Nachts einen Traum, in dem ich angestrengt nach etwas suchte. Es war äußerst wichtig es zu finden und ich suchte sehr konzentriert danach. Bis mir auffiel, dass ich gar nicht wusste, wonach ich eigentlich suche. Ohne eine transzendente Komponente läuft ein System orientierungslos im Kreis. Es läuft Amok. Man muss sich einmal die ganze Absurdität gegenwärtiger Situationen vor Augen führen:
Die deutschen Rüstungsexporte boomen. Waffen im Wert von 1,27 Milliarden Euro wurden von der BRD im dritten Quartal 2017 ins Ausland geliefert; der allergrößte Teil geht dabei an Länder, die noch nicht einmal militärische Verbündete Deutschlands sind. Die Nummer eins unter den Empfängern ist das menschenrechtsverletzende Regime in Ägypten, das einen brutalen Krieg gegen den Jemen führt. Der zweitgrößte Abnehmer ist die Diktatur in Saudi-Arabien, die ebenfalls in der Gemengelage im Jemen äußerst aktiv ist und zudem mutmaßlich Waffen an islamistische Terrormilizen liefert. Deutschland und die einflussreichsten westlichen Länder heizen die Eskalationen im Nahen Osten selbst mit Vollgas an, schicken Soldaten für „humanitäre Interventionen“ in das selbstverschuldete Chaos (die dann womöglich noch mit deutschen Waffen erschossen werden) und qualifizieren sich so als potentielles Ziel weiterer Terroranschläge.
Nicht anders der Irrsinn im Falle des Euros. Helmut Kohl erzwingt die Einheitswährung gegen gewaltige Widerstände, mit der Unerbittlichkeit eines Diktators, wie er später selbst zugab. Die Wechselkurse verschwinden, Zölle gibt es auch keine mehr. Die Regulation der jeweiligen Warenpreise wandert in die Löhne derjenigen, die die Waren herstellen. Deutschland, mit seiner gewaltigen Exportkraft und der Verweigerung die vertragliche Inflationsrate einzuhalten, überschwemmt den europäischen Markt mit seinen Produkten. Deutsche Marken und Firmen verdrängen die inländischen Anbieter auf dem griechischen Binnenmarkt. Und nachdem man Griechenland ökonomisch dem Erdboden gleichgemacht hat, wirft man ihm vor, dass es nichts auf die Beine gestellt bekommt.
In der Bundesrepublik klammern sich währenddessen Menschen in Massen für einen Hungerlohn an die stumpfsinnigsten Tätigkeiten, die ihnen später nicht einmal genügend Rente einbringen, um davon leben zu können, nur damit sie über das bisschen Geld verfügen, das ihnen heute das Recht gibt sich in diesem Land ernähren zu dürfen.
Inmitten von all dem strömen die Bürger an die Urne und wählen Parteien aus Gewohnheit oder aus Angst oder vielleicht auch aus Verzweiflung, aber kaum aus Überzeugung.
Man kommt sich tatsächlich wie in einem Monty-Python-Film vor. Es wäre fast schon komisch, wenn es nicht so tragisch wäre. Wir sind in ein sich selbst organisierendes System eingesperrt, das uns, auf Autopilot geschaltet, mit diesen paradoxen Situationen konfrontiert. Verliert man das große Ganze aus den Augen, fällt das Dilemma kaum auf. Nur unsere Seele rebelliert von Zeit zu Zeit und muss sediert werden.
Dabei sind transzendente Fragestellungen nichts außergewöhnlich Verworrenes. Auf jeden Fall nicht obskurer als empirische beziehungsweise logische Aussagen. Nehmen wir etwa die Feststellung „Am 24.12.2017 hat es in Berlin geschneit“. Ob dies wahr oder falsch ist, überprüft man indem man die Aussage mit dem tatsächlichen Sachverhalt vergleicht. Aber „Am 24.12.2017 in Berlin“ impliziert schon, ob es dort geschneit hat oder nicht. Es ist nur unsere Unwissenheit über die volle Bedeutung der Aussage, die sie „empirisch“ anstatt logisch macht. Sogenannte Tautologien, also rein logische Sätze, sind nur selbstevident, wenn man die entsprechende Definition kennt, genauso also wie empirische Aussagen; ein populäres Beispiel für eine Tautologie ist zum Beispiel „Alle Junggesellen sind unverheiratet“. Die scheinbar empirische Aussage „Unser Himmel ist blau“, ist aber genauso gerade deshalb wahr, weil in dem Begriff „unser Himmel“ schon drinsteckt, dass er blau ist, sonst wäre es ja nicht unser Himmel. Und wer nicht einsehen kann, dass unser Himmel blau ist, dem ist auch nicht weiterzuhelfen. Dass die Aussage 1+1=3 (oder um es stärker zu konkretisieren II=III) falsch ist, kann man schließlich auch nicht näher begründen; man muss es erkennen. Man sagt, diese Form von Sätzen ist allgemeingültig. Sind transzendente Fragen hierin prinzipiell anders?
Menschen scheinen doch zu wissen, was gut und schlecht ist. Selbst ein Sadist würde niemals behaupten, dass es moralisch ist jemanden zu quälen. Ja, er würde womöglich sogar sagen, dass es ihm, gerade weil es unmoralisch ist, gefällt. Menschen haben nicht unterschiedliche moralische Auffassungen, sondern unterschiedliche Einstellungen gegenüber Moral und abweichende Vorstellungen von Sachverhalten. Abtreibungsgegner sehen beispielsweise meist einen Fötus als ein menschliches Wesen mit einer Seele. Hätten Abtreibungsbefürworter die gleiche Vorstellung, so wäre ihr Werturteil auch ein anderes. Nicht unterschiedliche moralische Perspektiven sind das Problem; die verschiedenen Bilder in unseren Köpfen stiften die Verwirrung. Man kann die eigentliche moralische Wahrheit genauso wenig erklären wie 1+1=2, ohne dass diese Unfähigkeit etwas an deren Allgemeingültigkeit ändern würde.
Fühlen wir nicht, dass es ein menschliches Gewissen gibt, das wir alle teilen, und an das zu appellieren nicht vergeblich ist? Es scheint moralische Grundsätze zu geben. Es scheint etwas zu geben, das über die Tatsachen dieser Welt hinausweist: die Transzendenz.
Die meisten Menschen sind von morgens bis abends mit ihrer Arbeit beschäftigt und die kurze Zeit, die sie für sich haben, wollen sie natürlich mit ihrer Familie verbringen. So von jeder Reflexion befreit, kommt man nicht auf „dumme Gedanken“. Das aus dem Kapitalismus geborene Pflichtgefühl der protestantischen Arbeitsethik sitzt tief. Wer keine Arbeit hat, hat auch keine Würde. Eigentlich keine ethische, sondern eine manipulative Aussage, da sie das eigene Selbstwertgefühl anspricht. Übrigens eine Drehung um hundertachtzig Grad seit dem antiken Griechenland, wo genau das Gegenteil der Fall war: Wer arbeiten musste, hatte keinerlei Ansehen. Das war natürlich nur möglich, da jeder Bürger über Sklaven verfügte. Vielleicht entspringt der zunehmenden Automatisierung eines Tages ja ein ähnliches Zeitalter. Im antiken Griechenland wurden Sklaven als Sache angesehen, weshalb deren scheinbar notwendige Arbeit für die freien Bürger keine moralische Empörung erweckte; dass in der Zukunft womöglich echte Sachen zu unseren Sklaven werden könnten, wäre eine ironische Pointe der Geschichte.
Es gibt heute jedenfalls immer mehr Kritiker der Leistungsgesellschaft und vom Fleiß als Tugend abweichende Sichtweisen werden auch an prominenter Stelle geäußert.
Der Verlust der Arbeitsstelle, ohne ihn verharmlosen zu wollen, kann immerhin philosophische Fragen aufwerfen und neue Perspektiven öffnen. Diese erfüllen aus neoliberaler Sicht selbstverständlich überhaupt keinen Zweck und sind deshalb reine Zeitverschwendung. Das wird uns Philosophen ja auch immer wieder vorgeworfen, dass unsere Tätigkeit vollkommen unnütz sei. Diese Art der Kritik sollte bereits Motivation sein, sich mit philosophischen oder spirituellen Themen genauer zu befassen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das gegenwärtige Gesellschaftssystem nur funktionieren kann, weil es in das reduktionistische Weltbild der modernen Wissenschaft eingebettet ist. Um politisch subversiv zu sein, muss man sich nicht erst mit politischen Gedanken beschäftigen. Sich zu fragen „Was ist der Sinn des Lebens?“, „Was ist Wahrheit?“, „Was ist Gut und Böse?“ rüttelt am eigentlichen Fundament des neoliberalen Gebäudes. Die Herrschaft einer Doktrin, die alle metaphysischen Probleme als unwichtig verbannt hat, kann nur durch eine transzendente Dimension überwunden werden. Von dort können wir über die Grenzen unserer heutigen Welt emporsteigen und weiterfragen „Wollen wir Kriege verhindern?“, „Wollen wir hungernden Menschen helfen?“, „Wollen wir das Leid der Tiere beenden?“. Und dann kann man fragen „Was müssen wir dafür tun?“. So können wir vielleicht erkennen, dass wir nicht am Ende der Geschichte stehen, sondern an ihrem Anfang.
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