Das Christliche an Elbe und Spree ist fast erloschen

Die Kirchen in Deutschland leeren sich, die evangelischen mehr noch als die katholischen. Immer mehr Gotteshäuser werden „umgewidmet“, werden Kulturstätten und Ausstellungsräume. Der Kirchgang wird zum kulturellen Event, entleert jeder Form des religiösen Be­kenntnisses. Gebaut werden nur noch Moscheen. Der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden war die große Ausnahme, und er war kein christlich-religiöses, sondern ein kunsthistorisches, bzw. kulturpolitisches Ereignis. Die christlichen Kirchen im Osten fristen nur noch eine gesellschaftliche Randexistenz, vergleichbar mit der SPD im sächsischen Landtag. Nirgendwo in Europa ist die Zahl der Kirchenzugehörigkeit so dramatisch gesunken wie in der DDR und im Osten nach der Wiedervereinigung. Während in Amerika über 80 Prozent an einen persönlichen Gott glauben, sind es in Ostdeutschland nur 14 Prozent.

Das Gespenst der Säkularisierung geht um. Nichts hält sich hartnäckiger als das bewußte Eingeständnis zum A-Religiösen. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, zwanzig Jahre in einer – auch in religiösen Dingen – freien Demokratie bleibt zumindest dieses Phänomen konstant – der bewußte Verzicht zum religiösen Bekenntnis. Vierzig Jahre Totalitarismus, vierzig Jahre Zwangsideologie, all dies ist verloren, dem Zeitstrom zum Vergessen gereicht. Doch: Die Ideologie hat gewirkt – der deutsche Osten bleibt in Sachen Religion protestantisch, er protestiert in aller Nachhaltigkeit. Fast, so könnte man glauben, kämpft er gegen jede neue Zwangsvereinnahmung. Die neue Freiheit, selbst wenn diese durch Arbeitslosigkeit und Depression zerrüttet ist, gilt es zu retten. Im frenetischen Freiheitstaumel wird das Religiöse, zumindest in seiner christlich-kirchlichen Ausprägung, ignoriert. Die Angst ist die Angst vor dem Zwangskorsett, vor einer domestizierten Vereinnahmung, wie sie der pragmatische Sozialismus praktizierte. Man fürchtet Übereinstimmungen mit dem alten System. Alles, so der neue Imperativ der Freiheit, was sich einer wie auch immer geprägten Autonomie andersartig verpflichtend gegenüberstellt, schadet dem Subjekt.

Die Politikverdrossenheit, die Depression – all dies reicht zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit in Sachen religiöse Einkehr nicht aus. Statt dessen versteift man sich auf einen Pseudo-Kommunismus, der sich nachhaltig in der Links-Wählerschaft hält, und glaubt mit ihm die geistige Situation der Zeit umzuprogrammieren. Das klassische Religiöse hat dabei keine Chance, es ein Stück weit zurück zu erobern, das kann und soll – dies haben Feuerbach aus philosophischer Sicht und Marx und Engels aus einer antidokrinär soziologischen Sichtweise „wissenschaftlich nachgewiesen“ – nicht gelingen.

Insbesondere an ostdeutschen Schulen hält sich der Antireligionseffekt stoisch. Hier wird jede Resozialisation in Sachen Religion verweigert. Ohne das eineindeutige Zuge­ständnis des Lehrers, keine Überzeugungsarbeit zu leisten, an deren Ende ein Taufbekenntnis steht, „Sie machen uns nicht religiös“, läuft nichts. Ja, die ausdrückliche Rückversicherung im Religionsunterricht nur geschichtliche Daten zu liefern, ist geradezu die Voraussetzung, um überhaupt Wissen zu vermitteln, was in Anbetracht des schlechten Abschneidens bei der Pisa-Studie auch tatsächlich notwendig ist. Die Vermittlung religiöser Sinn- und Wertvor­stellung­en wird zum Kampf mit einer Schülerschaft, die dieses Wissen radikal absorbiert, der Mathe­matik- oder Sportlehrer hat es da einfacher.

Zwar weiß man von Jesu Christus, nur man verlegt seine Existenz auch gern einmal in das 19. Jahrhundert oder datiert diese in die Zeit des alten Ägyptens vor. Schon auf die Frage, wer denn dieser Jesus sei – fragende Gesichter und der Informationskampf, mehr über diesen zu berichten, wird zum Grabenkampf gegen die Bildzeitung, die eine größere Faszination aus­löst, und gegen die man permanent streitet und natürlich verliert. Es ist für viele junge Ost­deutsche überhaupt unschicklich, passt überhaupt nicht in ihr Weltbild, sich mit dem klassischen Kanon abendländischer, und dies heißt auch christlicher Kultur zu beschäftigen. Spätestens beim Reformationsthema ist man schockiert, Reformation, Novemberrevolution? Immerhin ist Luther bekannt, der ja schließlich für die Bauernaufstände verantwortlich gewesen sein soll und in Mühlhausen enthauptet wurde – so die überzeugte Leer-Meinung.

Doch: Gelingt es dem Lehrenden, von der tradierten, rein funktionalen Wissensver­mittlung abzusehen, und Inhalte ohne religiösen Hintergrund zu liefern, ohne den damit verbundenen Glaubensbezug zur Bergpredigt beispielsweise, dann wächst Interesse, dann entscheiden sich zumindest die in der Kernzeit des Sozialismus Geborenen zu einem kurz geführten Stellungskrieg, dann kommt soziales Engagement und das Interesse an einer sozialeren Gesellschaft zum Ausdruck. So sehr die Rede vom Religiösen, insbesondere die Generation zwischen 30 und 60 erschreckt, so sehr läßt sich mit der Idee des Humanen zumindest kurzfristig überzeugen.

Ja, der Sozialismus war revolutionär, war revolutionär, was zumindest die Leugnung des religiösen Wissens betrifft. Absorbiert wurde, zumindest in DDR-Zeiten aber nicht nur das Religiöse, sondern auch die indoktrinierte Lehre, über die Geschichte des Sozialismus und Kommunismus ausgiebig informiert zu sein. Auch hier schreckte jeder Informationsgewinn ab, der durch eine starre Wissensvermittlung erkauft wurde. Religion und sozialistischer Parteipragmatismus waren beide verpönt, reizten nicht, waren nicht en vogue.

Was vom sozialistischen Bildungskanon übrig blieb, war ein Lippenbekenntnis, das bereits 1994, als die viel gehüteten sozialen und familiären und freundschaftlichen Bünde zusammenbrachen, erlosch. Für das Christliche kam das unspektakuläre Aus schon viel eher. In polemischer Absicht hatte bereits Kierkegaard auf das Phänomen der Säkularisierung in Dänemark hingewiesen, als er schrieb: „Jedermann ist heute Christ, ohne daß irgend jemand wirklich Christ ist. Daß Gott in Jesus Christus Mensch geworden und in der Welt erschienen ist, was hat dieser Glaube, der dem Verstand ewig paradox, ja, absurd erscheinen muß, der uns nur geschenkt werden kann als eine Gnade von oben her, dann aber einen Sprung darstellt in einen Bereich jenseits aller Vernunft, was hat dieser Glaube, frage ich, mit jener lauen, äußerlichen Bürgerlichkeit zu tun, in der unsere Bürger ohne die mindeste innere Bewegung durch Taufe, Konfirmation, Trauung hindurchgehen?“

Die Religionsferne, so scheint es zumindest, ist genetisch und geschichtlich codiert, ist einer ganzen Generation im Osten in die Wiege gelegt, antrainiert. Nicht nur der Kommunis­mus zeitigt sich für die Absorbierung des Religiösen verantwortlich, auch ein Blick in die Geschichte belehrt über antireligiöse Affekte. Der deutsche Osten war lutherisch-protest­antisch. Diese von Anfang an bestehende „Staatstreue“ der evangelischen Kirchen hat zweifellos viel zur inneren Entleerung des Protestantismus beigetragen, wie sie nun heute in den neuen Ländern zu beobachten ist. Lange, allzu lange galt eben auch „der Sozialismus“ als Staatsdoktrin und Glaube der Herrschenden, inklusive der verbissene Atheismus, und das Volk stellte sich wohl oder übel, meist widerwillig zwar, aber früh resignierend, darauf ein, was offenbar nicht ohne langfristige seelische Beschädigungen geblieben ist.

Auch die Aufklärung mit ihren Zentren in Berlin und Halle war prägend; der deutsche Idealismus mit seiner Wiege in Jena, für die philosophische Infragestellung des Religiösen verantwortlich. Ebenfalls war die deutsche Klassik in Weimar nicht dem Ideal des Glaubens, sondern einer strengen Geschichts- und Naturwissenschaft verpflichtet. Die deutsche Klassik um Goethe und Schiller hatte wesentliche Teile der christlich-protestantischen Botschaft in einen, wenn nicht glaubenslosen, so doch glaubens-indifferenten, allgemein „modern-humanistischen“ Geisteskanon überführt, und in den Bildungszirkeln der Sozialdemokratie waltete eine entschieden atheistische, „streng wissenschaftliche“ Weltanschauungslehre, wie sie der in Jena lehrende einflußreiche Darwinist und „Monist“ Ernst Haeckel vertrat. Die Aussichten für traditionell christlich orientiertes Denken und Alltagsleben standen schlecht, und der Kampf Bismarcks nach der Reichsgründung 1871 gegen den katholischen „Ultra­montanismus“ als Störfaktor für die in Berlin praktizierte nationale Politik tat ein Übriges.

Man kann die Feststellung wagen: Seit etwa 1880 war der weitaus größte Teil der Bevölkerung auf dem Gebiet der späteren DDR, also die (im Vergleich zu anderen Ländern) gut gebildeten Arbeiter- und Kleinunternehmermassen in Berlin, Leipzig, Halle, Magdeburg, Merseburg, Bitterfeld, im Erzgebirge und im Thüringer Wald, bereits weitgehend ent­christlicht. Das religiöse Gefüge wurde immer wieder gesprengt, das Licht der Aufklärung überwucherte den Glauben.

Im Grunde bedurfte es gar nicht der Dazwischenkunft diktatorischer, streng atheistisch ausgerichteter Regimes wie Nationalsozialismus und Kommunismus, um die heutigen Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gründlich von der christlichen Kirche und ihrer Botschaft wegzurücken. Ihre Kirchenferne ist zur Zeit vielleicht noch etwas prononcierter als etwa in Bayern oder im Rheinland, sie ist aber habituell dieselbe wie dort und wie in anderen Ländern Westeuropas.

Doch, was ließe sich fragen, ist das Prinzip der Verweigerung noch heute? Die Gründe für das ausgeprägte Religionsdefizit sind vielfältig. Das sogenannte kollektive Sozialgefüge, das die Idee der christlichen Nächstenliebe säkularisiert hat, der blinde Glaube an die Rettung durch den Kommunismus, an ein Wertesystem, das sich zumindest vordergründig einer sozialen Utopie verschrieb, sind zerbrochen. Der Ostdeutsche bleibt, was soziale oder religiöse Versprechen und Heilserwartungen betrifft, indifferent. Was bleibt ist Gesinnungs­leere und altbewährte Alltagsflucht. Ohne es zu wissen, stellt man sich apodiktisch auf den Standpunkt, um es mit Hegel zu formulieren, daß man aus der Geschichte nichts lernen kann; was bleibt ist der Versuch bescheidener Selbsterfahrung, der sich jeder Form von Verbindlichkeit verweigert. Die neue Form des Religiösen kulminiert in der Bindungs­un­fähigkeit, im Single-Sein, denn hier muß man sich auf nichts Verbindliches ein­lassen, hier ist man Mensch, hier darf man sein. Anything goes – so auch die vielver­breitete Gesinnung im Osten. Man flüchtet sich also lieber in Dance Floors, Events und in den, so es möglich ist, Konsumrausch.

Doch, wie Hölderlin meinte, „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Im Kleinen keimt Hoffnung. Neben der Fitness-Religion, die als pseudokultureller Ersatz über die Tage der Einsamkeit hinweghilft, neben dem zunehmenden Interesse an einer mystischen Sekten­kultur, die „Erlösung“ verspricht, zeigen sich gegenläufige Tendenzen. Es fällt auf, daß sich neuerdings gerade in den neuen Ländern im Raum der evangelischen Kirche spontan „christliche Bruderschaften“ und „christliche Orden“ zusammenfinden und formieren, die ein von Grund auf erneuertes Christentum anstreben, eine leidenschaftliche, aus tiefer Lebenser­fahrung gespeiste Erneuerung des Glaubens und eine „Reform an Haupt und Gliedern“, wie sie einst auch Luther ins Auge gefaßt hatte.

 

Der Text erschien zuerst bei „Cicero“ Online im Jahr 2006  Leider hat die Redaktion die alten Texte von ihrer Webseite genommen. Auf Anfrage kann man aber dort den Text erhalten.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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