Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann im Gespräch mit Holger Fuß über die Trägheiten des Herzens und Gott als Kritik des Menschen
Herr Professor Moltmann, Sie stellen die verblüffende Behauptung auf, dass Jesus nicht eine neue Religion in die Welt gebracht habe, sondern neues Leben. Was meinen Sie damit?
Zunächst einmal habe ich diese Einsicht von Dietrich Bonhoeffer übernommen, einem Theologen und Widerstandskämpfer, der 1945 von den Nazis hingerichtet wurde. Bonhoeffer wiederum hat diese These von Johann Christoph Blumhardt, einem Theologen aus dem 19. Jahrhundert. Sie können diesen Satz sehr einfach überprüfen, indem Sie die Evangelien lesen. Ist Jesus dort aufgetreten und hat gesagt: Ich bringe euch eine neue Religion mit Meditation und Gottesdiensten? Oder hat er Kranke geheilt? Wenn er kranke Menschen geheilt hat, dann hat er ihnen neues Leben gebracht. Wenn er Ausgestoßene angenommen hat und mit ihnen zu Tische saß, dann hat er ihnen neues Selbstwertgefühl gegeben. Und das ist ein neues Leben.
Aber eine Art Kirchengründung hatte Jesus wohl doch im Sinn, als er sagte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde.“
Erst die Urchristenheit hat daraus später eine Religion gemacht, um mit den anderen Religionsgemeinschaften im Römischen Reich konkurrieren zu können.
Im Sinne einer Kultgemeinschaft, die ihr Selbstverständnis wesentlich aus dem Vollzug ihrer Riten zog?
Ja, richtig.
Sie hingegen scheinen das Christentum weniger als Kultgemeinschaft oder Religion zu betrachten, sondern eher als eine Seinspraxis, also eine spezielle Art zu leben?
So könnte man es ausdrücken, ja. Für mich ist wesentlich, dass der göttliche Lebensgeist in Jesus war. Dieser Lebensgeist hat sich offenbar auch ohne sein Zutun verbreitet. Da gibt es die Geschichte von der blutflüssigen Frau, die nur von hinten das Gewand Jesu berührt und daraufhin geheilt ist. Er muss also ein Mensch gewesen sein, von dem Lebenskräfte ausgegangen sind. Heilungskräfte, die einen Menschen wieder aufgebaut haben. Kräfte, die Menschen, wenn sie ausgestoßen oder verachtet waren, dazu ermutigt haben, ein aufrechtes und erfülltes Leben zu führen.
Dann ist die Bedeutung und Wirkung Jesu gar nicht so sehr eine Angelegenheit des Glaubens?
Für mich war immer wichtig, dass sich das Christentum nicht in Streitereien um Konfessionen und Religionen verzettelt. Es sollte sich stattdessen für die Heilung des Lebens einsetzen, für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft und für eine starke Hoffnungsmentalität der Menschen. Dabei sollte das Christentum dem religiösen Menschen ebenso nahe sein wie den atheistischen Menschen, die keine Religion haben. Religiöse Menschen neigen heutzutage dazu, sich in eine Nische zurückzuziehen, dort ihren Dialog miteinander zu führen und den Rest der Welt in Ruhe zu lassen. Das möchte ich nicht.
Was ist Gott für Sie?
Es ist ein Doppelgefühl. Zum einen ist Gott ein Gegenüber, zu dem ich bete und der mich im Gebet erweckt, der meine Sinne wachruft, so dass ich aufmerksamer lebe. Ein Gegenüber, zu dem ich schreie und spreche, danke und lobe, und vor dem ich mein Leben führe. Zum anderen ist Gott eine große Umgebung, in der ich lebe. Eine große Atmosphäre des Vertrauens, die mich von allen Seiten umgibt. So, wie es im Psalm 139, Vers 5, anklingt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Dieses Doppelgefühl von Gegenüber und Gegenwart weist für mich auf Gott hin.
Das klingt, als richten Sie sich im Gebet aus auf die Lebenskraft.
Die Lebenskraft erfahre ich dadurch. Aber ich kann nicht zu einer Lebenskraft beten. Dazu benötige ich ein Gegenüber, zu dem ich sprechen kann. Dieses Gegenüber kann ich nicht ersetzen durch den Grund des Seins oder die Lebenskraft. Zu einem Neutrum kann ich nicht sprechen.
Sie brauchen im Gebet den Dialog?
Ja, natürlich. Ich bin ein sprechendes und hörendes Wesen. Im Gebet erfahre ich, wie meine Augen, meine Sinne geöffnet werden für das Leben.
Erinnern Sie sich noch, wie dieser Gebetsdialog für Sie begonnen hat? War das 1943, als Ihre Geburtsstadt Hamburg in den Bombennächten zerstört wurde?
Ja. Da habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien.
Sie waren 17 Jahre alt und wären beinahe umgekommen.
Die „Operation Gomorrha“, wie die bibelfesten Engländer die geplante Zerstörung der ersten deutschen Großstadt getauft hatten, richtete neun Nächte lang ein unbeschreibliches Inferno an. Ich war eingezogen als Luftwaffenhelfer. In der letzten oder vorletzten Nacht traf eine Sprengbombe die Plattform mitten auf der Alster, wo wir mit unserem Kommandogerät aufgebaut standen. Die Splitter zerrissen meinen Schulfreund Gerhard Schopper neben mir. Ich erhob mich wieder, taub und geblendet mit nur geringen Splitterwunden an Schulter und Backenknochen.
Sie wundern sich noch heute darüber, dass Sie überlebt haben?
Ja, das war wirklich ein Wunder. In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und in gewisser Weise mein Leben in seine Hände gelegt.Ich war wie tot und habe danach jeden neuen Tag wie ein Geschenk empfunden. Meine Frage war nicht: Warum lässt Gott das zu? Sondern: Mein Gott, wo bist du? Damit fing mein Suchen nach Gott an.
Das heißt, Ihr Dialog mit Gott begann nicht mit einer Frage, die eine unmittelbare Antwort erfuhr. Stattdessen blieb die Antwort zunächst aus und Sie machten sich auf die Suche. Was gab Ihnen denn in all den folgenden Jahren die Gewissheit, dass Sie nicht einer Illusion nachjagen?
Ich hatte das Gefühl, dass ich Gott nicht suchen würde, wenn er mich nicht ziehen würde. Oder wenn er mich nicht schon gefunden hätte. Warum sonst sollte ich nach Gott suchen? Da muss schon irgendetwas sein, das mich gefunden hatte.
Hat Ihnen diese existenzielle Gewissheit eine Art Erfüllung beschert?
Auf der einen Seite durchaus. Man hat natürlich das Gefühl, das ist wichtig, das macht Sinn. Und du selbst bist nicht sinnlos oder verloren. Sondern du selbst bist offenbar auch wichtig dafür. Auf der anderen Seite macht es einen natürlich ewig unzufrieden.
Inwiefern unzufrieden?
Man kann sich nicht abfinden mit der Situation, in der man ist. Man rebelliert dagegen. Dieses Gefühl hatte ich in der englischen Kriegsgefangenschaft sehr stark. Ich war fünf Jahre lang eingesperrt in Kasernen und Lagern.
Die Gefangenschaft hat Ihre Widerstandskraft gestärkt?
Am Anfang überwog natürlich die Depression über die Kriegszerstörungen und diese Gefangenschaft ohne absehbares Ende. Dazu kam das Gefühl von tiefer Scham, die Schande des eigenen Volkes mittragen zu müssen. Das schnürte einem die Luft ab. Und im Grunde hat mich dieser Druck bis heute nicht verlassen.
Wie fanden Sie aus diesen Depressionen heraus?
Es gab zwei Erfahrungen, die für mich eine Wende zu neuer Lebenshoffnung bedeuteten. Zum einen erlebte ich in dem Lager an der schottischen Küste viele menschenfreundliche Begegnungen mit den einheimischen Arbeitern und ihren Familien. Zum anderen wurden Bibeln verteilt und ich las abends darin. Die Klagepsalmen im Alten Testament sprachen mir aus der Seele. Dann las ich die Passionsgeschichte im Markusevangelium und vernahm den Todesschrei Jesu: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich erfuhr zwar keine Erleuchtung, aber ich spürte die wachsende Gewissheit: Da ist jemand, der dich versteht, der die gleiche Verlassenheit gefühlt hat, in der du jetzt bist! Das brachte mir neuen Lebensmut zurück.
Und Sie lernten zu hoffen?
Ja. Ganz langsam, aber sicher ergriff mich eine große Hoffnung auf die Auferstehung in Gottes „weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist“, wie es im Buch Hiob heißt.
Diese Hoffnung ist dann Ihr Lebensthema geworden. 1964 veröffentlichten Sie Ihr berühmtestes Werk: die „Theologie der Hoffnung“. Die Hoffnung bezeichnen Sie als Zentrum und Lebenskraft der christlichen Existenz: „Wir sind ausgerichtet auf die noch ausstehende Zukunft. Der Geist ist das Angeld zu Größerem.“ Warum ist die Hoffnung so wichtig für uns Menschen?
Die große Hoffnung sagt: Eine andere, eine gerechtere Welt ist möglich. Gib dich nicht auf, setz’ dich ein!
Also ist über unser Dasein, das soviel Leid und Ungerechtigkeit aufweist, noch nicht das letzte Wort gesprochen?
Ganz gewiss nicht. Wir Menschen sind auf Hoffnung hin geschaffen worden, auf das Gelingen unserer wahren Menschlichkeit. Jedes Kind, das zur Welt kommt, verkörpert einen erneuten Anlauf zu diesem Gelingen. In jedem Kind wartet Gott sozusagen auf den menschlichen Menschen.
Das stellt eine unerhörte Aufwertung des Menschen dar, die vielen von uns gar nicht geläufig ist.
Aber diese Wertschätzung macht das Leben erst menschlich. Das menschliche Leben ist angenommenes, geliebtes und erlebtes Leben. Wo Leben nicht angenommen, geliebt und erlebt werden kann, haben wir es nicht mehr mit menschlichem Leben zu tun. Wenn ein Kind nicht erfährt, dass es angenommen wird, wird es krank. Wenn ein Mensch sich selbst nicht annimmt, verliert er seine Lebendigkeit. ER wird müde und gibt sich auf.
In dem christlichen Glauben, dass wir Menschen von Gott geliebt werden, steckt also die Erfahrung, dass wir Menschen in dieser Welt willkommen sind?
Ja, natürlich. Wir Menschen sind Gottes große Liebe. Das ist die Botschaft des Evangeliums. Und Gott hofft auf das Gelingen seiner riskanten Geschöpfe. Er hofft darauf, dass wir die Gottesebenbildlichkeit, die in uns angelegt ist, verwirklichen werden. Wir können sagen: Menschsein ist Menschwerden. Wir werden erwartet.
Gott wartet auf uns. So lautet die Verheißung der Bibel. Aber was kann uns veranlassen, den Auskünften dieser Heiligen Schrift zu vertrauen?
Für das Volk Israel war die Verheißung oder vielmehr der verheißende Gott deshalb so gewiss, weil sie aus der Gefangenschaft in Ägypten tatsächlich heil herausgekommen sind. Das Gelobte Land sah dann zwar etwas anders aus als sie geträumt haben, aber sie haben auf ihrer Wanderung offenbar die Treue Gottes erfahren. Denn es war nicht nur eine Verheißung Gottes, die ihnen voran gegangen ist, sondern auch die Schechina, also die Einwohnung Gottes auf Erden. In der Wolke, mit der Moses sprach, war Gott gegenwärtig wie ein Mann zu seinem Freund. Oder in der Feuersäule, die den Israeliten den Weg wies. Für die Christen ist das Treueereignis Gottes die Auferweckung Christi. Oder allgemeiner gesagt: das Kommen Christi. Weil er gekommen ist, ist die Hoffnung auf die Zukunft Gottes und die neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt, gewiss.
Sie vertrauen Ihre Hoffnung Ereignissen an, die viele tausend Jahre alt sind?
Wenn man daran zweifeln sollte, muss man sich zurückerinnern, was damals geschehen ist. Das ist immer so. Wir kennen das doch aus dem zwischenmenschlichen Bereich: Da wird ein Versprechen gegeben – und wenn sich die Erfüllung längere Zeit verzögert, dann erinnert man sich daran, wie das Versprechen zustande kam.
Das erklärt aber noch nicht, weshalb sich ein halbwegs aufgeklärter Mensch heute auf die Aussagen der Bibel verlassen darf. Welchen Beleg gibt es denn für die Authentizität biblischer Auskünfte?
Es gibt keine naturwissenschaftlichen Beweise. Aber es gibt eine Wolke von Zeugen. Wenn ich an Menschen denke wie den erwähnten Dietrich Bonhoeffer oder an Martin Luther King, dann fühle ich mich in meiner Zuversicht gestärkt.
Die Katholiken sprechen von der Gemeinschaft der Heiligen.
(Lacht.) Ja, der heiligen Sünder.
Am Ende sind es also Menschen, denen wir vertrauen müssen? Menschen, die eine bestimmte Wirklichkeit bezeugen? Nämlich die Wirklichkeit Gottes?
Ja. So ist es im menschlichen Leben überall und immer wieder. Mit Menschen erleben wir diese Wirklichkeit. Denn menschliches Leben ist auf natürliche und soziale Kommunikation angewiesen und existiert nur darin. Leben ist Beziehung und Austausch. Menschliches Leben ist das, was zwischen den einzelnen Menschen geschieht.
Und in diesem Bereich des Zwischenmenschlichen können wir Gott finden?
Richtig. Der Geist Gottes ist das, was lebenfördernd zwischen den Menschen stattfindet: die Liebe und die Gerechtigkeit.
Was genau ist das Lebenfördernde daran?
Das Erleben unserer Wirklichkeit wird erweitert. Die Wirklichkeit besteht ja immer aus Realität und Möglichkeit. Die Realität ist verwirklichte Möglichkeit. Deshalb greift ein Realismus, der nur auf die verwirklichte Möglichkeit sieht, zu kurz. Der herkömmliche Realismus lehrt uns, die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist. Die Hoffnung jedoch lehrt uns, die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie möglich ist und werden kann. Das heißt, in der Hoffnung wird unsere Phantasie angeregt, unsere Möglichkeiten zu erkunden und unsere Chancen zu ergreifen. Der Realist hingegen geht an den Möglichkeiten, die er hat, vorbei, weil er sie nicht wahrnimmt. Ihm fehlt der Möglichkeitssinn.
Dann ist christlicher Glaube vor allem der Glaube an Möglichkeiten?
Ja. Von diesem eigentümlichen Möglichkeitsglauben ist im Markus-Evangelium die Rede: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“, denn „alle Dinge sind möglich bei Gott“. Das ist mit dieser Lebenförderung gemeint: Der Glaubende stellt in seinem Gottvertrauen die Grenzen seiner persönlichen Wirklichkeit in die unbegrenzte Möglichkeitsfülle Gottes.
Schwer vorstellbar, wie ich als Mensch Anteil nehme an den unbegrenzten Möglichkeiten Gottes.
Damit ist keine Selbstvergottung des Menschen gemeint. Es ist eine in dem Menschen einwohnende und in ihm verborgene Kraft des Gottesgeistes, die in einem solchen tiefen Vertrauen, einem solchen Möglichkeitsglauben erwacht. Sie macht das Herz weit und den Geist offen. Neugier ist eine Tugend der Hoffnung.
„Gott liegt verborgen in dem Grunde der Seele“, heißt es beim mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart.
Deshalb sind es die Kranken, die es Jesus ermöglichen, sie zu heilen. Denn die Heilungen ereignen sich dort, wo die Heilkraft des Gottesgeistes im Leben Jesu auf die Glaubenskraft in den kranken Menschen trifft, wo also seine Wirksamkeit und ihr Möglichkeitsvertrauen sich begegnen.
Und das Ergebnis dieser Heilkraft ist die Lebendigkeit?
Wir werden durch die Heilung zugänglich für die Lebendigkeit, die Lebenskraft, die Lebensfülle. Für die Fülle unserer Möglichkeiten, die uns umgeben.
Lebendig bin ich also dann, wenn ich mich den Möglichkeiten nicht verschließe? Wenn ich die Fließbewegung zwischen Möglichkeit und Verwirklichung nicht blockiere?
So ist es. Max Frisch hat mal gesagt: „Die Liebe befreit aus jeglichem Bildnis.“ Wenn wir lieben, sehen wir alles neu. Die Welt der Möglichkeiten öffnet sich uns. Wir halten einander in der Liebe die Zukunft offen.
Die Liebe macht uns wacher und aufmerksamer. Demnach ist das Christentum ein spiritueller Übungsparcours zu mehr Lebendigkeit?
Zweifellos. Wer betet, lebt aufmerksamer.
Inwiefern?
Nun, beten tun ja alle Religionen auf irgendeine Weise. Was im Neuen Testament zum Beten hinzu kommt, ist das Wachen. In Gethsemane sagt Jesus nicht zu seinen Jüngern: Betet mit mir! Sondern: Wachet mit mir!
Was ist mit diesem wachenden Beten gemeint?
Augen auf! Ohren auf! Alle Frühwarnsysteme der Sinne aufspannen, um die Möglichkeiten, die kommen, wahrzunehmen. Um die schrecklichen Möglichkeiten abzuwehren und die guten Möglichkeiten anzunehmen. Dieses Wachen, das mit dem Beten verbunden ist, ist die Hoffnung.
Hoffnung als eine existenzielle Grundhaltung?
Ja. Es ist ein Erwecken der Sinne. So dass ich das Leben geradezu riechen, schmecken, hören, sehen und fühlen kann. Ich habe das bei meinem Freund Helmut Gollwitzer erlebt. Als seine Frau starb, versank er in tiefe Trauer. Er sagte mir: Das war eine Zeit, in der ich nichts schmecken und riechen konnte. Ich konnte keine Musik hören. Ich hörte gar keine Töne mehr. Alle meine Sinne schrumpften. Nach einiger Zeit und mit Hilfe von Freunden konnten seine Sinne wieder erwachen und er hörte wieder Musik, sah wieder Farben und fühlte das Leben wieder.
Das Schrumpfen der Sinne, die Abwesenheit des Wachseins ist das, was wir Depression nennen. Mit dem Wachwerden der Sinne erblüht unsere Lebendigkeit.
Und wir können wieder „Ja“ zum Leben sagen. Ich erinnere mich an eine Erweckung im Mai 1945. Wir waren in einem schrecklichen Gefangenenlager in Belgien. Alles war dunkel. Keiner von uns hatte mehr Lust zu leben. Meine Sinne waren völlig zu. Eines Tages mussten wir so einen Wagen aus dem Lager rausschieben. Auf einmal sah ich vor mir einen blühenden Kirschbaum. Mir sind die Knie weich geworden. Mit einem Mal guckte mich das Leben wieder an. Und da erwachten meine Sinne.
Diese „Spiritualität der wachen Sinne“, wie Sie es nennen, trennen Sie ausdrücklich von Mystik. Sie unterscheiden zwischen mystisch beten und messianisch beten. Worin besteht der Unterschied?
Die Mystiker in den meisten Religionen möchten aufgehen in der Unendlichkeit. Sie wollen wie ein Tropfen im Ozean der Gottheit, im All-Einen verschwinden. Das halte ich aber für keine christliche Mystik. Christlich ist für mich die Vorstellung, dass das Bild Gottes in einem eingebildet wird. Christliche Mystik ist diese „Bildung“ der Seele, nicht ihre Auflösung. Messianisch beten heißt deshalb, wie die Urchristen zu rufen: „Maranatha“ – Komm, Herr Jesus! Also um das Kommen Gottes zu bitten. Dieses Beten ist nicht auf die Ewigkeit des Himmels ausgerichtet, sondern auf die Zukunft der Erde. Das nenne ich messianisch beten.
Sie halten sich nicht nur von Mystik fern, sondern auch von Jenseitsvorstellungen. Sie sprechen davon, dass die Verstorbenen nicht etwa in ein jenseitiges Totenreich eingehen, sondern „vielmehr in einer Art zweiten Gegenwart gegenwärtig“ sind. Das erinnert an das Jesus-Wort: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Obwohl wir es nicht sehen, ist es schon da.
Abgesehen von der europäischen Moderne, die 300 Jahre alt ist, haben alle Völker und Kulturen den Ahnenkult betrieben. Das heißt, in Afrika und Asien sind die Ahnen nicht weg, sondern sehr gegenwärtig mit ihrem Segen und in ihrem Zorn. Sie sind anders da, natürlich. Aber sie sind da und fordern die Lebenden.
Wie habe ich mir das vorzustellen?
Wir alle kennen die Erfahrung, dass ein geliebter Mensch stirbt. Auf einmal hat man das Gefühl: Er ist gar nicht weg. Er ist nun allgegenwärtig! Bevor mein Vater starb, wusste ich, er sitzt jetzt dort in Hamburg an seinem Schreibtisch, guckt vor sich hin oder liest etwas. Wenn ich an ihn dachte, habe ich immer daran gedacht und habe ihn telefonisch angerufen. Und als er gestorben war, hatte ich das Gefühl, er ist immerzu und überall bei mir und sieht mir über die Schulter.
Hat Sie diese persönliche Erfahrung zu der Vorstellung von einer Gegenwart der Toten inspiriert?
Nein. Das geschah gemeinsam mit meinem katholischen Kollegen Johann Baptist Metz, als wir uns fragten: Wo sind die Toten von Auschwitz? Sitzen sie uns nicht im Nacken? Ich habe 1961 das ehemalige Konzentrationslager Majdanek in Polen besucht. Da ist mir bewusst geworden, dass man nicht sagen kann, dass diese Menschen tot sind. Sie sind da. Und sie fordern etwas von uns. Metz hat ähnliche Erfahrungen gemacht und daraus seine politische Theologie entwickelt. Im Grunde können wir ja auch gar nicht behaupten, dass jemand tot ist. Wir können nur sagen, dass er gestorben ist.
Weil wir über den Tod nichts wissen.
Vielleicht sind die Verstorbenen ja sehr gegenwärtig. Wir wissen nicht, dass nach dem Tod nichts kommt. Also sollten wir auf jeden Fall neugierig sein.
Ihre Theologie kommt erstaunlich diesseitig daher. Die konventionellen Bilder von einem Jenseits oder Himmelreich ersetzen Sie durch die Zukunft. Bei Ihnen gibt es keine Wunder, sondern unendliche Möglichkeiten. Die Kräfte der zukünftigen Welt, so sagen Sie, sind keine übernatürlichen Wunderkräfte.
Gewöhnlich sagt man ja, dass die Gottesgaben, die Charismata, vom Heiligen Geist vom Himmel herabkommen. Aber laut dem biblischen Hebräer-Brief kommt das von vorne. Die Urchristen spüren „die Kräfte der zukünftigen Welt“. Und dadurch verändern sie sich. Sie fühlen sich wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung, dass diese Welt in das Gottesreich der zukünftigen Welt verwandelt wird.
Dann sind Sie eine Art Mystiker des Diesseits? Sie tauschen den transzendenten Raum des Himmels mit dem zeitlichen Jenseits der Zukunft? Einem Bereich jenseits der Gegenwart?
Üblicherweise sagt man ja, das Jenseits ist der Himmel und die Gegenwart ist unsere Erde. Sie haben recht: Mein Jenseits ist die Zukunft – aber nicht nur zukünftige Geschichte, sondern auch die Zukunft der ganzen Geschichte.
Warum ist Ihnen diese Unterscheidung von herkömmlichen Jenseitsvorstellungen so wichtig?
Weil das Reich Gottes ja auf Erden, also im Diesseits, stattfinden soll. Nicht im Himmel. Wir beten um das Reich Gottes „wie im Himmel so auf Erden“. Ich habe keinen Gott im Himmel. Das ist etwas für die Engel. Ich bin ein Mensch und brauche Gott hier auf Erden.
Das Reich Gottes auf Erden ist schwer vorstellbar.
Wir hoffen auf „die neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt“, wie es im zweiten Petrus-Brief heißt. Darunter kann ich mir durchaus etwas vorstellen. Gerechtigkeit unter den Menschen, Gerechtigkeit zwischen den Menschen und den Tieren, Gerechtigkeit zwischen den Tieren und auf Gottes geliebter Erde. Da kommt eine großartige ökologische Utopie zustande. Gott ist die Kritik des Menschen.
Kritikwürdig ist der Mensch weiß Gott. Aber ist er auch verbesserungsfähig? Ist der fehlbare oder, wie die Kirche sagt, sündige Homo Sapiens überhaupt in der Lage, eine gerechte Welt zu bewohnen?
Mit „Sünde“ ist kein moralischer Fehler gemeint, sondern, wie das deutsche Wort schon sagt, die Absonderung von Gott und von dem Leben, das Gott gibt. Man sagt zwar, die Ursprüngssünde sei jener Hochmut, dass der Mensch sein wolle wie Gott. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist die viel weiter verbreitete Resignation. Die Traurigkeit, die zur Trägheit führt. Die Verzagtheit, die alles Lebendige im Keim erstickt.
Diese Resignation nennen Sie Sünde?
Ja. Die Versuchung besteht heute weniger darin, dass Menschen Gott spielen wollen. Sondern vielmehr darin, dass die Menschen sich nicht mehr das Menschliche zutrauen, das Gott von ihnen erwartet. Diese Angst des Kleinglaubens und der Feigheit führt zur Kapitulation vor den Mächten des Bösen. Gott hat den Menschen erhöht. Er hat ihm die Aussicht ins Freie und in die Weite eröffnet. Die Menschen aber bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück und versagen sich. Gott verheißt die Neuschöpfung aller Dinge. Aber die Menschen tun so, als bliebe alles beim Alten. Dies ist die Absonderung von Gott und vom Leben.
Die Verwirklichung einer gerechten, mithin wahrhaft menschlichen Welt ist also eine Frage unseres Zutrauens in unsere eigenen Fähigkeiten?
Ganz recht. Nicht nur das Böse, das Menschen tun, klagt sie an, sondern vor allem das Gute, das sie nicht tun. Nicht nur ihre großen Untaten, sondern ihre vielen kleinen Versäumnisse sind der Skandal. Die erste Sünde auf der Liste der sieben Todsünden des Mittelalters ist die acedia, die Traurigkeit, Verzweiflung und Trägheit. Die Trägheit des Herzens. Diese Tristesse ist die Sünde wider den Geist des Lebens, aus der alle anderen Laster folgen.
Und was tun wir gegen diese Trägheit des Herzens?
Am besten ist ein Tritt in den Hintern. (Lacht.) Aber im Ernst: Ich kenne diese Trägheit aus eigener Erfahrung. In diesem Kriegsgefangenenlager in Belgien hatte ich eine Krankheit, eine Furunkulose am ganzen Körper. Ich wollte nicht mehr leben. Ich lag da und ging auch nicht zum Sanitäter. Schließlich kam ein älterer Mitgefangener und gab mir diesen Tritt. Er sagte: Steh auf! Du gehst jetzt zum Sanitäter! Dann haben sie mich ins Lazarett gebracht und so wurde ich gerettet. Man braucht also bei einem solchen Versinken in Resignation die Hilfe von anderen, die einen dann aufrichten und wieder Mut geben. Aber man kann sich auch selber sagen: Sei nicht träge! Steh morgens auf! Don’t cry, tu was, wie die feministische Theologie den Frauen sagt.
Dann ist diese Trägheit des Herzens nicht nur eine Verneinung des Lebens, sondern eine Haltung der Unachtsamkeit?
Da haben wir wieder dieses Wachen, das zum Gebet gehört. Aber in der Achtsamkeit ist auch die Verantwortung enthalten, die mit Antwort zu tun hat. Das bedeutet, dass wir Menschen Ansprechpartner sind – für Gott wie für die Menschen. Indem wir hinhören, wird unser Leben zu einer erwidernden Existenz. Wir antworten und verantworten uns.
Ist ein derart dialogisches Leben das wahrhafte Menschsein?
Darin steckt die Aufmerksamkeit und die Zuwendung zu Gott und den Menschen. Wir können auch von Verehrung sprechen. Vom Reformator Johannes Calvin stammt der schöne Satz: Die Verehrung Gottes – das ist Humanitas. Das wirkliche Menschsein – darin besteht unsere Verehrung Gottes.
Menschsein erfüllt sich demnach im Füreinanderdasein?
Noch nicht ganz. Das Für-Andere-Dasein ist notwendig zur Befreiung und Erlösung des bedrückten und schuldig gewordenen menschlichen Lebens. Durch Liebe wird Freiheit konkret ermöglicht. Aber das Für-Andere-Dasein ist nicht das Letzte, auch nicht das Ziel und noch nicht einmal die Freiheit selbst. Es ist der Weg, und zwar der einzige Weg, der zum Mit-Anderen-Dasein führt. Erst das Mit-Anderen-Dasein ist das erlöste, befreite Leben. Das Für-Andere-Dasein ist das Mitfühlen und das Mitleiden. Aber das Mit-Anderen-Dasein ist die Mitfreude, die seltene.
Zur Person:
Prof. Jürgen Moltmann, Jahrgang 1926, lehrte zuletzt von 1967 bis 1994 Systematische Theologie an der Universität Tübingen.
Literatur:
> Jürgen Moltmann: „Im Ende der Anfang. Eine kleine Hoffnungslehre“, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2007
> Jürgen Moltmann: „Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte“, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006
> Jürgen Moltmann: „Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie“ (1964), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
> Jürgen Moltmann: „Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie“ (1999), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
> Jürgen Moltmann: „Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie“ (1972), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2002
Erstveröffentlichung in Chrismon – Das evangelische Magazin, Ausgabe 04/2009. Copyright (c) by Holger Fuß, Hamburg 2009. Alle Rechte vorbehalten
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