Warum Krieg? Zur Aktualität des Briefwechsels von Albert Einstein und Sigmund Freud

albert einstein porträt theoretikers arzt, Quelle: ParentRap, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Zwei der berühmtesten deutschsprachigen Denker des 20. Jahrhunderts hatten vor 90 Jahren einen bis heute vieldiskutierten Briefwechsel über die Entstehung von Kriegen. Albert Einstein (1879 – 1955) und Sigmund Freud (1856 – 1939) stellten sich dieser Aufgabe. Albert Einstein, der berühmte Physiker, hat mit seinen Forschungen und Erkenntnissen nicht unwesentlich zur Entwicklung der Atombombe beigetragen und hat letztlich in einem verhängnisvollen Brief dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zur Entwicklung der ersten Atombomben geraten. Der 23 Jahre ältere Sigmund Freud hatte sich als Psychoanalytiker intensiv mit den Wurzeln der menschlichen Aggression und Destruktivität beschäftigt. Beide Denker waren jüdischer Herkunft und mussten vor dem kriegslüsternen Diktator Adolf Hitler ins Exil fliehen.

Erschreckende Aktualität nach 90 Jahren

Nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs und dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 wähnten sich viele Menschen in den westlichen Demokratien in einer lang dauernden Phase des Friedens und Wohlstandes. Die deutsche Wiedervereinigung wurde möglich – und dies ohne jegliches Blutvergießen. Doch bereits wenige Jahre danach brachen die ersten Kriege im ehemaligen Jugoslawien aus. Diese erschienen noch als regionale und begrenzte Kriege. Russland war noch in der Phase kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion und trat nicht als drohende Atommacht auf. Die Ukraine war damals noch im Besitz von Atomwaffen und war immerhin damals die drittgrößte Atommacht. Auf Drängen der USA und Russland überließ die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal gegen umfassende Sicherheitsgarantien an Russland. Als Wladimir Putin im Jahr 1999 Präsident Russlands wurde, änderte sich bald die militärische Rhetorik, die immer mehr gegen den Westen gerichtet war. Bereits in seiner Rede auf einer Sicherheitskonferenz in München im Jahr 2007 wurde dies sehr deutlich. Die von Putin geführten Kriege gegen Tschetschenien, Georgien und Syrien sowie die Annexion der Krim im Jahr 2014 nahmen die westlichen Staaten zwiespältig und teilweise beschwichtigend hin. Diese Appeasementpolitik rächt sich jetzt bitter. Am 24. Februar 2022 hat das russische Militär die Ukraine angegriffen und führt seither im Nachbarland einen brutalen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Bereits zu Beginn des Krieges drohte Putin mit Atomwaffen und einem möglichen dritten Weltkrieg, um die NATO davon abzuhalten, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Der Krieg wird von Woche zu Woche brutaler und es gibt deutliche Hinweise auf Kriegsverbrechen und Völkermord. Wer kann den russischen Aggressor wie stoppen – dies ist jetzt eine existentielle Frage von globaler Tragweite.

In Zeiten wie diesen, in denen das militärische Agieren alles dominiert, erscheint eine Besinnung auf die Grundfragen des Krieges sinnvoll. So wie es eben auch Albert Einstein und Sigmund Freud getan haben.

Entstehungshintergrund und Initiative für diesen Briefwechsel

Nach den verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges wurde am 10. Januar 1920 der Völkerbund gegründet, dem 58 Mitgliedsstaaten angehörten. Eines der Ziele und Hauptaufgaben war die Kriegsverhütung. Ein weiterer Weltkrieg sollte verhindert werden. Im Jahr 1932 wurde Albert Einstein gebeten, sich einen Briefpartner auszuwählen, mit dem er wichtige Fragen der Kriegsverhütung diskutieren könnte.  Einstein entschied sich für Sigmund Freud und dieser willigte ein. Im August 1932 überbrachte Leon Steinig als Vertreter des Völkerbundes persönlich den Brief Einsteins in Wien. Freuds Antwort, die in der Originalausgabe 37 Druckseiten umfasst, ließ nicht lange auf sich warten.

Der Brief von Albert Einstein vom 30. Juli 1932

 Der initiale Brief von Albert Einstein ist im Vergleich zur Antwort Freuds wesentlich kürzer und steht auf zehn Druckseiten. Einstein führt ins Thema ein. Ihn interessiert die Frage, wie große Menschenmassen im Krieg zu willenlosen Werkzeugen werden können. Er fragt: „Wie ist es möglich, dass sich die Masse durch die genannten Mittel bis zur Raserei und Selbstaufopferung entflammen lässt?“ Schließlich kommt er zur zentralen Frage an Freud: „Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?“

Die Antwort von Sigmund Freud vom September 1932

Die Antwort Freuds ist wenig optimistisch. Freud hatte seit der Diagnose seiner Krebserkrankung im Jahr 1923 seine vorher schon bestehende Tendenz zum Pessimismus noch deutlich verstärkt. Im Verlauf der 16 Jahre seiner Krebserkrankung kam es zu zahlreichen eingreifenden Operationen (Csef 2017). Mit dem Phänomen Krieg hatte sich Freud bereits kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1915 auseinandergesetzt. In seiner Abhandlung „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (Freud 1915) ist bereits der pessimistische Grundakkord zum Thema des Krieges spürbar. Freud betont, dass die menschliche Anlage zu Krieg und Frieden zu jenen großen anthropologischen Antinomien gehört wie Liebe und Hass, Eros und Thanatos oder Gut und Böse. Er betont, dass menschliche Gemeinschaften durch zwei wesentliche Faktoren zusammengehalten werden: durch den Zwang der Gewalt und durch Gefühlsbindungen. Die letzteren entstehen nach Freud durch den psychischen Prozess der Identifizierung. Bedeutsam erscheint ihm auch die Beziehung des Kriegsführers oder Kriegsherren und dem kriegswilligen Volk. Hierzu führt er folgendes aus:

„Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen, dass sie in Führer und in Abhängige zerfallen. Die letzteren sind die übergrosse Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen“ (Freud 1933, S. 54)

Freud kommt zu dem Fazit, dass die kulturelle Entwicklung und die Angst vor den Folgen eines Krieges eine kriegsverhütende Funktion haben könnten: „Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.“

Die weitere Entwicklung zwischen 1933 und 1939

Sigmund Freud und Albert Einstein sind sich nach dem Briefwechsel nicht mehr persönlich begegnet – ihre Wege haben sich überhaupt nur einmal zufällig im ganzen Leben gekreuzt. Albert Einstein war bereits im Jahr 1933 die USA ausgereist. Freud ging erst spät – quasi in letzter Minute und unter Aufwand großer diplomatischer Anstrengungen – im Juni 1938 ins Exil nach London. Die beiden Briefe von Einstein und Freud wurden vom Völkerbund im Jahr 1933 veröffentlicht. Im selben Jahr kam Adolf Hitler an die Macht und es folgten die ersten Bücherverbrennungen jüdischer Autoren. Die Bücher Freuds wurden ebenfalls Opfer der Flammen. Freud verdrängte in seinem langen Brief wohl die Bedrohung durch den Nationalsozialismus, den Antisemitismus oder Faschismus. Er erwähnte wohl den Bolschewismus und historische Diktaturen, aber nicht die höchst aktuelle Bedrohung durch Hitler. In Wien, wo Freud wohnte, als er diesen Brief schrieb, war bereits der Antisemitismus sehr virulent. Der mit ihm befreundete und auch in Wien lebende Schriftsteller Arthur Schnitzel hat die antisemitische Bedrohung in seinem Theaterstück „Professor Bernhardi“ bereits 1912 drastisch beschrieben. Hitlers Putschversuch und sein Marsch auf die Feldherrnhalle in München waren im November 1923 und damit fast zehn Jahre vor dem Brief Freuds. Offensichtlich war Freud durch seine Krebserkrankung und die politische Lage sehr verbittert und pessimistisch. Er hatte am Schluss nur noch den Wunsch, „mit Anstand aus dieser Welt zu verschwinden“ (Csef 2019).

Der deutlich jüngere Albert Einstein hat Freud um 16 Jahre überlebt und hat noch an der Entwicklung des Krieges mitgewirkt. Bereits vor dem Angriff Hitlers auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges schrieb er gemeinsam mit Leo Szilard einen Brief an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, in dem beide den Präsidenten aufforderten, die Atombombe zu entwickeln, um den nuklearen Plänen Hitlers zuvorzukommen. Dieser Brief aus dem August 1939 hatte große Folgen. Roosevelt setzte diesen Vorschlag im sog. Manhattan-Projekt um und im Juli 1945 folgte der erste Atombombentest. Adolf Hitler hatte sich bereits vorher am 30. April 1945 im Führerbunker suizidiert und am 8. Mai 1945 erfolgte die Kapitulation Deutschlands. Der Krieg zwischen den USA und Japan dauerte noch an. Franklin D. Roosevelt ist vor Hitler am 12. April 1945 an einer Hirnblutung gestorben, so dass die ersten Atombomben auf Befehl seines Nachfolgers Harry S. Truman im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Albert Einstein hat später seinen Brief an Roosevelt als den größten Fehler seines Lebens bereut.

Internationale Tagung zum Briefwechsel im Jahr 2005 durch das Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog

Im Jahr 2005 war der 50. Todestag von Albert Einstein. Zu diesem Anlass veranstaltete das Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog in Wien eine internationale Tagung zum Thema „Warum Krieg“. Cathrin Pichler, die Herausgeberin des Tagungsbandes, schrieb im Vorwort, dass der Briefwechsel Einstein-Freud aus dem Jahre 1932 „eines der letzten Signale europäisch-jüdischer Kulturweltbürger (Freud), eine der letzten Gesten europäischen Geistes“ sei und damit den Rang eines Vermächtnisses habe. Namhafte Experten zu Krieg und Frieden hielten Vorträge zum Thema. Die Kriege auf dem Balkan im ehemaligen Jugoslawien standen in vielen Beiträgen wegen der Aktualität im Vordergrund. Wladimir Putin, der Angst und Schrecken verbreitende Kriegsherr, war damals bereits sechs Jahre lang russischer Präsident. Zwei Jahre später sollte der auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 die ersten aggressiven Kriegsdrohungen an den Westen verkünden. Seinen ersten brutalen Krieg gegen Tschetschenien hatte er damals als erschreckendes Mahnmal bereits aufgerichtet. Im Jahr 2008 erfolgte der Einmarsch in Georgien, im Jahr 2014 die Annexion der Krim und am 24. Februar 2022 begann er den grausamen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Wieder einmal hat die westliche Staatengemeinschaft einen gefährlichen Diktator und Kriegstreiber zu lange gewähren lassen.

Quo vadis? –  Die neuen Kriege

Zur Zeit der Napoleonischen Kriege galt der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz als einer der führenden Kriegsstrategen. Sein Buch „Vom Kriege“ (1832-1834) gilt auch heute noch als ein Klassiker der Militär- und Kriegsstrategie. In den folgenden zwei Jahrhunderten hat sich das Gesicht des Krieges gewandelt. Der bekannte britisch-australische Historiker Christopher Clark hat kürzlich aufgewiesen, dass vor allem die Vernichtung der Zivilbevölkerung ein erschreckendes neues Merkmal der Kriege sei (Clark 2020). Zu Zeiten von Napoleon Bonaparte und Clausewitz, und auch noch im Ersten Weltkrieg geschah die brutale Gewalt des Krieges überwiegend auf den Schlachtfeldern zwischen den sich bekämpfenden Soldaten. Die Schlachtfelder von Verdun oder an der Marne waren die Schauplätze des Ersten Weltkrieges. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges zeigten die höchsten Opfer bei der Zivilbevölkerung – der Genozid an den Juden, mehr als sechs Millionen Opfer in Konzentrationslagern, Millionen Opfer durch Stalin, Bombardierungen von Städten – etwa 60 Millionen Menschen kostete dieser brutale Krieg das Leben. Die Getöteten waren überwiegend Zivilisten, unschuldige Frauen, Kinder und alte Menschen, die gar nicht in die kriegerischen Kampfhandlungen einbezogen waren. Der Historiker Christopher Clark spricht von einem „überproportionalen Anstieg der zivilen Todesopfer“, der offensichtlich immer erschreckender wird. „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag das Verhältnis militärischer Opfer zu zivilen bei rund 8 : 1; in den Kriegen der 1990er Jahre betrug es 1 : 8 (Clark 2020, S.258). Es kam also zu einer kompletten Umkehr der Proportionen. Im Zweiten Golfkrieg bereits noch extremer: mehreren zehntausend militärischen Opfern standen etwa 460.000 zivile Todesopfer gegenüber – also eine rechnerische Relation von etwa 1 : 20! (Clark 2020, S. 258). Der renommierte deutsche Historiker Herfried Münkler, der lange die deutsche Bundesregierung beraten hat, schrieb mehrere Bücher über moderne Kriege. Er betonte ebenfalls die überproportionale Vernichtung der zivilen Bevölkerung (Münkler 2002, 2015). Wer heute die erschreckenden Bilder der Bombardierung ukrainischer Städte sieht, dem wird drastisch diese Entwicklung vor Augen geführt, die offensichtlich der Kriegsführer Wladimir Putin grausam und unerbittlich auf die Spitze treibt.

Literatur

Clark, Christopher, Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. Deutsche Verlagsanstalt, München 2020

Clausewitz, Carl von, Vom Kriege. Band 1 – 3. Ferdinand Dümmler, Berlin 1832 – 1834

Csef, Herbert, Sigmund Freud und Thomas Mann als Krebskranke. Eine vergleichende Darstellung ihrer Krankheitsverarbeitung. Onkologische Welt 08/01, 2017, S. 8 – 13

Csef, Herbert, „Mit Anstand von dieser Welt verschwinden“. Zum 80. Todestag von Sigmund Freud. Tabularasa Magazin vom 5. September 2019

Einstein, Albert, Freud, Sigmund, Warum Krieg? Ein Briefwechsel. Völkerbund. Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit 1933

Freud, Sigmund, Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X S. 323 -355

Münkler, Herfried, Die neuen Kriege. Rowohlt, Reinbek 2002

Münkler, Herfried, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. Und 21. Jahrhundert. Rowohlt, Berlin 2015

Pichler, Cathrin (Hrsg.) Thema: Warum Krieg? Texte und Protokolle zum Briefwechsel Albert Einstein – Sigmund Freud. Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog. Schlebrügge. Editor Wien 2006

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Csef_h@ukw.de

Über Herbert Csef 153 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.