Ob in den Medien, in der Politik oder im Freundeskreis – wer auf Traditionelles setzt wird nicht selten und oft in die rechte Ecke geschoben und verdammt. Das Prinzip der Toleranz hat in Zeiten von Fake News, neuen Ideologien und einer bis ans Unerträgliche grenzenden neu umstellten Intoleranz ein Stück weit an Geltungskraft verloren. Und gerade in diesen Zeiten lohnt sich zumindest ein An-denken des Toleranzprinzips.
Die Aura des Konservativen umflankt was Mythisches, aber auch ein müdes Abgegriffensein, ein Denken und Verweilen im Gestern; der Konservative hängt am Vergangenen, glorifiziert es und ist dem zukunftsweisendem Blick hingegen unaufgeschlossen Doch derartige Stereotypen haben sich mit Blick auf den neuen Konservativen verändert. Gleiches gilt für den Liberalen. Während er für grenzenlose Offenheit stand, für die Weite des Raums, den Individualismus und für Laissez-faire in Wirtschaft und Politik, so hat der neue Liberale begriffen, dass er die Welt nur modernisieren kann, wenn er Altbewährtes bewahrt. Die alten sich ausschließenden Kampfbegriffe sind obsolet geworden. Sie verfangen in ihrer Einseitigkeit nicht mehr.
Toleranz gegenüber Andersdenkenden
Doch nach wie vor geht die Gesellschaft zum Konservativen auf Distanz – und mag er noch so liberal sein. Das Stigma haftet wie ein altes Eisen an seiner Existenz, zieht ihn in die Abgründe einer einsamen Existenz, schmiedet ihn in die Ketten der Verdammnis. Was fehlt ist Toleranz, ein gemeinsames Auf-einander-Zugehen, eine neue Debatten- und Diskussionskultur, die das alte Lagerdenken, das gerade heute in Zeiten der höchsten Aufklärung in Wissenschaft und Technik sich zumindest auf Seiten des politischen Diskurses immer wieder und weiter verengt, was dem alten Kulturkampf zwischen Bewahrern und Erneueren eine ungeheure negative Triebkraft verleiht, die an sich total unmodern ist und die Früchte der Aufklärung, die Deutschland die letzten zweihundert Jahre nach Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant geprägt haben, vernichtet. Toleranz hingegen scheint so das Zauberwort der Stunde – und statt Spaltung geht es um Versöhnung. Und das beides sich miteinander verbinden lässt, dafür steht letztendlich unter anderem Alt-Bundespräsident Joachim Gauck Sich selbst nennt er einen „linken, liberalen Konservativen“, einen „aufgeklärten Patrioten“, für den Freiheit nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern eine Liebhaberei ist, etwas, das angeht, das tief geht, das erstritten, erkämpft werden muss.
Auch Gauck moniert ein politisches Lagerdenken, das sich aufschaukelt, wenn es um die Meinungsfreiheit geht, wenn der Konservative deklassifiziert und der links-grüne Liberale zum Non plus Ultra, zur Tugendinstanz, zum Heilsretter und Weltbewahrer hochstilisiert wird. Es läuft etwas mächtig schief in unserem Land, wenn sich die Prioritäten des Denkens derart verschieben, wenn sie neue Grenzen der Intoleranz aufrichten.
In seinem neuen „Toleranzbuch“ heißt es dann auch: „Wogegen ich mich allerdings wehre, ist wenn politisch Korrekte ein Monopol ihrer Ansichten im öffentlichen Raum durchzusetzen versuchen. […] Moral wird hier ein Mittel der Nötigung, Intolerant ein inakzeptables Mittel zur Durchsetzung des angeblich Guten. So können aus liberalen Anhängern einer offenen Gesellschaft, illiberale Rechthaber werden, die Pluralität einschränken.“
Toleranz, so Gauck, der in einer intoleranten DDR-Gesellschaft sozialisiert wurde, wo das Konservativ-Sein als Makel galt, als Stigma des Ewig-Gestrigen begreift Toleranz damit auch nicht als Tugend allein, sondern als ein Gebot der politischen Vernunft, die er jeder Form des Extremismus als Korrektiv und Imperativ gegenüberstellt. Toleranz ja, aber bitte keine gegenüber Intoleranten. So wird für Gauck Toleranz zudem, was sie auch sein muss, zu einer Zumutung. Sie wieder zu erlernen, auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, gebiert die Vernunft, die durch die Extreme des dunklen 20. Jahrhunderts hindurchgegangen ist. Und wer diese Toleranz, auch gegenüber dem Konservativen, missbraucht, der stellt letztendlich auch die Demokratie in Frage, die derzeit nicht nur in einem nach rechts rückendem Europa, sondern auch in einem deutlich rechtslastigem Deutschland mehr denn je auf dem Spiel steht.
Persönliche Anmerkung
Als Ostdeutscher mit österreichisch-katholischem Hintergrund, als Priesterkind mit Flüchtlingseltern aus Böhmen und Oberschlesien, spielte der Begriff des Konservativen bereits in der DDR für mich eine Rolle. Man war entweder staatstreu oder bürgerlich-konservativ und damit per se verdächtig. Die allgegenwärtige Staatssicherheit setzte mich während des Abiturs an Nummer eins der besonders zu beobachtenden Schüler. Und spätestens dann galt ich wieder als konservativ, als ich in den Wirren der Nachwendezeit ins Priesterseminar einrückte, beseelt von der Idee eines christlichen Humanismus abendländischer Wertekultur, erweitert um die soziale Dimension des Humanen, eines toleranten Christentums also, das die Weite der Philosophie, auch Karl Marx, die utopischen Sozialisten und die englischen Aufklärer in sich aufgesogen hatte. Und dennoch habe ich die Freiheit nicht verleumdet, bin liberal und aufgeschlossen geblieben. Votiere für die Rettung des Klimas, was mich als Liberalen auszeichnet, will diese aber nicht durch eine Verbotskultur, was mich zum Konservativen macht. Ich votiere aus meiner in DDR-sozialisierten Erinnerungskultur für eine plurale, offene Gesellschaft, jedoch nicht um den Preis des Ausverkaufs der abendländischen Wertekultur zugunsten des Multikulturalismus, der Nation und Geistestradition aus den Geschichtsbüchern streicht und stattdessen die Sprache genderisiert, die Abtreibung legalisiert und die aktive Sterbehilfe als den letzten Akt der Mündigkeit glorifiziert. Und als ehemaliger alter und neuer Konservativer bin ich sogar links, wenn es darum geht, sich gegen die Ungerechtigkeit und eine schier aufklaffende Differenz zwischen arm und reich aufzurichten, gegen eine Welt der Extreme, die zu Lasten der Schwachen geht. Aus versehen links. Gerade diese explosive Mischung aus konservativ, liberal und links steht meines Erachtens für eine qualitative Erweiterung des Wissens, für ein Wissen der Weite, das verschiedene Denktraditionen miteinander synthetisiert und sich damit zu einem Geschichtsbild fügt, das für eine Erweiterung des Vernunftbegriffs plädiert, für einen Synkretismus, der Tradiertes kritisch prüft und die Puzzle zu einem neuen System oder Weltbild zusammenfügen will. Joseph Ratzinger, Papa Emeritus, hat es einmal in dem Text „Glaube zwischen Vernunft und Gefühl“ so formuliert: „Der Radius der Vernunft muss sich wieder weiten. Wir müssen aus dem selbstgebauten Gefängnis wieder herauskommen und andere Formen der Vergewisserung wieder erkennen, in denen der ganze Mensch im Spiel ist.“