Wall Street in Trümmern

Schlimmer konnte es nicht kommen. Die weltweite Bankenkrise wurde vor allein durch unsinnige Immobilienspekulationen in den USA ausgelöst, aber allzu viele europäische Geldinstitute hatten sich daran beteiligt. Die deutsche Finanzwelt zumal hatte mit un­erschütterlichem Glauben auf die amerikanischen Auswüchse des Turbo-Kapitalismus geblickt, der sich kaum noch auf eigene Indus­trieproduktion, sondern auf das Erzielen von Rekordrenditen um jeden Preis konzentrierte. »Der Markt regelt alles«, hieß es noch unlängst bei jenen Börsen-Gurus, Analysten und Pseudo-Exper­ten, die sich in den seriösesten Gazetten als Künder unfehlbarer Urteile präsentierten. Es ist bezeichnend, dass auch jene liberalen Politiker, die den Staat aus der Wirtschaft verdrängen und ihm jede Regulierungsautorität absprechen wollten, heute nach riesigen Milliardenzuschüssen rufen, die nur der Staat erbringen kann und die aus den Steuergeldern des Durchschnittsbürgers stammen.

Die Ernüchterung ist grausam. Höchst konservative deutsche Blätter warten mit überraschenden Titeln auf: »Wall Street in Trümmern« oder »Sterben an der Wall Street«. Amerikanische Kommentatoren gehen weiter. Über den Zusammenbruch der bei­den Immobilien-Giganten Fannie Mae und Freddie Mac, bei de­nen der öffentliche Haushalt mit enormen Summen einspringen muss, schreibt der Präsident einer angesehenen Money-Manage­ment-Firma: »Der Mythos des freien Marktes endete mit der staat­lichen Übernahme von Fannie Mae und Freddie Mac.« Zwangs­läufig wendet sich Amerika einer Art »New Deal« zu, wie Franklin D. Roosevelt ihn nach dem Crash von 1929 einleitete. Die Finanz­thesen des belächelten Predigers einer interventionistischen Poli­tik sowie des »deficit spending«, John Maynard Keynes, finden plötzlich wieder zahlreiche Befürworter.

Welche Auswirkungen diese katastrophale Entwicklung, die zahl­lose US-Bürger, vor allem die bescheidenen Eigenheimbesitzer, trifft, auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf haben wird, ist noch nicht zu ermessen. Der Republikaner John McCain versucht verzweifelt, das Steuer herumzureißen, und geißelt heute mit den Tönen eines Gewerkschafters die unersättliche Gier sowie die Inkompetenz der Wall-Street-Banker. Ob ihm die Anwärterin auf den Posten des Vizepräsidenten, Sarah Palin, die Gouverneurin von Alaska, die sich vor allem durch das Abschießen von Elchen hervorgetan hat und sich selbst als einen »pitbull with lipstick«, also als gefährlichen Terrier mit Lippenstift bezeichnet, mit ihrem hem­mungslosen Populismus und ihren ultranationalistischen Parolen wirklich helfen kann, muss sich noch erweisen. Der demokratische Hoffnungsträger Barack Obama, der diese Chance seiner Partei nützen könnte, verharrt in einer seltsamen Passivität und scheint kaum noch fähig zu sein, entscheidende Vorteile aus der für ihn ex­trem günstigen Situation zu schlagen.

Die Krise der Wall Street ist auch auf Europa übergeschwappt. Sie dürfte sich nachhaltig auf die Rivalität zwischen Angela Merkel und ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier auswirken, de­ren Schlacht um die künftige Kanzlerschaft bereits entbrannt ist. Die Bundeskanzlerin, die niemals zögert, die russischen Autokra­ten oder die roten Mandarine von Peking ins Visier zu nehmen, sie zu demokratischem und marktwirtschaftlichem Verhalten zu er­mahnen, hatte unlängst noch eine verstärkte ökonomische Bindung der Europäischen Union an die USA gefordert. Solche Thesen sto­ßen heute auf resoluten Widerspruch. Die Große Koalition von Berlin, die das liberale Reformprogramm Agenda 2010 ihrer rot­grünen Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder voll über­nommen hat und weiter ausbauen wollte, stößt auf den wütenden Protest in weiten Schichten der eigenen Stammwählerschaft, ob es sich nun um Anhänger der CDU oder der SPD handelt. Auch in Berlin wird hastig umdisponiert, und jene Christdemokraten, die der Wirtschaft die Priorität vor dem Staat einräumen wollten, müs­sen ihre Blamage eingestehen.

Der Gewinner dieser deutschen Malaise heißt Oskar Lafontaine, der in seiner saarländischen Heimat bereits vorführt, wie seine fünfte Partei, »Die Linke«, Einfluss und Stimmen gewinnen kann. Die Linke wird zwar von ihren Gegnern weiterhin als Nachfolge­partei der kommunistischen Funktionäre der DDR diffamiert, aber das ist sie längst nicht mehr. Gegen Lafontaine wird zur Stunde in den deutschen Medien und politischen Versammlungen eine maß­lose Kampagne geführt. Gewiss hat der saarländische Links­sozialist, der als Vorsitzender der SPD von Gerhard Schröder sei­nerzeit aus dem Amt gedrängt wurde, seine Schwächen und seine Exzesse. Aber seine Warnrufe, seine Verdammung des Turbo-Kapitalismus haben sich plötzlich als weitgehend berechtigt erwie­sen. Hass kommt auf bei den übrigen etablierten Parteien, wenn Lafontaine – im Verbund mit seinem rednerisch hochbegabten Führungsgenossen Gregor Gysi – eine gesellschaftliche Wende, die Einführung sozialistischer Reformen als absolute Priorität ein­fordert.

Der Saarländer verfügt noch über zusätzliche Trümpfe. Er ist bislang der einzige deutsche Politiker von Rang, der das Engage­ment der Bundeswehr in Afghanistan und deren Teilnahme an dem globalen Kampf gegen den Terrorismus als strategisch verhängnis­vollen Irrweg anprangert. Sehr bald, wenn die Kämpfe am Hindukusch sich auf Pakistan ausweiten sollten, könnte er auch mit sei­ner Polemik gegen die unterwürfige Rolle der Bundesrepublik Deutschland in der NATO auf wachsende Zustimmung stoßen.

(c) Mit freundlicher Genehmigung der Ullstein-Buchverlage GmbH. Der Text ist ein Auszug aus: Peter Scholl-Latour, Der Weg in den neuen kalten Krieg, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008.

Finanzen

Über Scholl-Latour Peter 2 Artikel
Peter Scholl-Latour, geboren 1924 in Bochum gestorben 2014, Promotion an der Sorbonne in Paris, Diplom der Sciences Politiques. Seitdem in vielfältigen Funktionen als Journalist und Publizist tätig, unter anderem für die ARD und das ZDF. Seine TV-Sendungen erreichen höchste Einschaltquoten, seine Bücher machten ihn in Deutschland zum erfolgreichsten Sachbuchautor.

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