Was darf man wissen? Was darf man sagen? Wie muss man reagieren? Was ist wichtiger: Fakten oder Ideologie? Oder: Warum Argumente oft nur stören. Ein politisch nicht ganz korrektes und aktuelles Plädoyer für die vom Aussterben bedrohte Vernunft.
Gibt es eine phobische Abneigung gegen Fakten? Ist längst, wie es der Bonner Philosoph Wolfgang Kluxen vor vier Jahrzehnten formulierte, eine Gefahr allgegenwärtig, dass das Ethos der Machbarkeit an die Stelle des Wertekonsens getreten? Ist unser demokratischer Dialog inzwischen in der selbstgewählten Seifenblase der Selbstzerstörung gelandet? Müssen wir heute konstatieren, dass die für eine freiheitliche Rechtsordnung notwendige faire und Achtsamkeit wie Respekt als Mittel beanspruchende Kommunikation in der Totalblockade gefangen?
Man könnte und dürfte es wohl nicht ganz ausschließen. Selbst in der Kirche scheinen Faktenwissen und Maßstabsgerechtigkeit dessen, worum es in vielen Fragen geht, immer wieder als störend empfunden zu werden. Einmal abgesehen davon, dass das Wort „synodal“ aus dem Griechischen kommt und sich aus „syn“ und „odos“ zusammensetzt, was übersetzt gemeinsamer Weg bedeutet, reden selbst Bischöfe gerne von einem gemeinsamen synodalen Weg. Doch das ist – wegen der Weiße-Schimmel-Logik – noch ganz hübsch und eher ein Hinweis auf den Bildungsgrad dessen, der so zu reden versteht. Wenn aber diejenigen, die sich – leider und sträflicherweise – nicht an die Sexuallehre gehalten haben und auf Kosten schutzbedürftiger Anempfohlener gegen sie verstießen, vielfach zur Begründung für eine völlig neue Lehre herhalten sollen, dann ist jedes logische und faktenorientierte Argument gegen eine neue deutsche Gefühligkeit ausgetauscht. Das neue „Argument“ hat dieselbe intellektuelle Faszination, als würde man jeden fahrlässig herbeigeführten schweren Verkehrsunfall als Beweis dafür hernehmen, dass die Straßenverkehrsordnung nun rasch abgeschafft werden müsse – weil sich einige verantwortungslos nicht an sie gehalten haben. Logik, Fakten, Gefühl und Ideologie – wo sind die Grenzen, wo der Übergang, wo der Ersatz?
Schauen wir einmal auf den demokratischen Diskurs in wichtigen Fragen wie Klimaschutz, Klimawandel, Erderwärmung, CO2-Anstieg und heißem Wetter mit angeblich neuen Rekorden, dann stellt sich schon die Frage: Was ist jetzt eigentlich? Haben diejenigen, die medienunterstützt und medial wirksam mit Demonstrationen und neuen Kultfiguren die Angst markieren, wecken und zur Triebkraft für Radikalverbote zu nutzen verstehen, Recht? Oder haben jene Recht, die auf seit Jahrhunderten und zumeist in 500-Jahre-Schritten daherkommende bekannte Phasen der Erwärmung und der Erkaltung hinweisen? Ist wirklich alles menschengemacht? Ist es angesichts einer zur pseudoreligiösen Moral hochstilisierten Denk- und Urteilswelt nicht gar unverschämt, wenigstens ab und an auf Fakten hinzuweisen? Wer das macht und offensichtlich berechtigte Fragen stellt, sieht sich heute sehr schnell einer neuen pseudoreligiösen Inquisition ausgesetzt, die gerne mediale Scheiterhaufen bereithält für jeden, der den neuen Denkgeboten zu widersprechen wagt. Die alten Mechanismen funktionieren offenbar, und sie werden schamlos benutzt. Da kennt die schöne neue „grüne“ Welt keine Gnade. Exekution inbegriffen. All inclusive.
Aber gelegentlich muss man daran erinnern, dass all dies nicht über Nacht gekommen ist und augenscheinlich eine kalte Systematik hat, die schon vor einem halben Jahrhundert installiert wurde. Wiederlesen bildet da ebenso wie Lesen ohnehin. 1987 erschien ein Buch von Elisabeth Noelle-Neumann und Heinz Maier-Leibnitz, das einen keineswegs veralteten Titel trägt: Zweifel am Verstand – Das Irrationale als die neue Moral. Renate Köcher schrieb in ihrem Vorwort damals: „Nur durch eine Zurückdrängung der Ideologie kann die Versöhnung von Fakten und Wertvorstellungen gelingen.“
Noelle-Neumann bringt es bereits vor vier Jahrzehnten auf den Punkt: „Die Vorstellung, die sich seit Anfang der sechziger Jahre ausgebreitet hat, dass alle Erkenntnis von Interesse bestimmt ist, scheint die Erwartung und den Anspruch an eine selbstkritische, sich selbst reinigende Fähigkeit des Verstandes gänzlich zerstört zu haben.“ Hier hat die frühe Beschreibung von Jürgen Habermas zu Erkenntnis und Interesse aus dem Jahre 1968 eine Bestätigung auf ganzer Linie gefunden. Eine fatale und gefährliche Wirklichkeit. Die Grande Dame der Meinungsforschung und Gründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach wusste bereits 1987, dass die von der 68er Protestbewegung betriebene Professorenbeschimpfung („Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“) nicht der Versuch war, nach mehr Sinn und Verstand zu suchen. Vielmehr war diese Beschimpfung „von Anfang an vor allem gegen den Sachverstand gerichtet, der diesem Berufsstand damals wie heute in besonderem Maße abverlangt wird“.
Doch Sachverstand, zumal wenn er sich der Angstbetreibung und ideologischer Hysterie widersetzt, ist heute nicht nur in Misskredit geraten, sondern wird in die Zone des Bösen und Verbotenen geschoben. Samt ihrer Sachverständiger. Wer zum Beispiel Fakten zu CO2 nennt oder darauf verweist, dass in Europa die mittlere Temperatur in den vergangenen 150 Jahren zwar um etwa 1,5 Grad Celsius gestiegen ist, dass aber davor eine kleine Eiszeit herrschte, der Anstieg weit vor der Massenindustrialisierung einsetzte und immer wieder von längeren Abkühlungsperioden unterbrochen wurde; wer auf die Tatsache hinweist, dass es Feinstaub auch ohne Dieselautos immer gab, und dass es einen 500jährigen Zyklus von Erwärmung und Abkühlung seit Jahrtausenden gibt, wer gar – Vorsicht: Logik! – noch weiß, dass Grönland von den Wikingern vor rund 1000 Jahren als grüne Insel entdeckt wurde, weshalb es ja auch Grünland hieß, der wird nicht etwa zu einem dialogfähigen Partner eines notwendigen Diskurses zum Klimawandel, sondern zum „Klimaleugner“ gestempelt. Merke: Wenn Du Fakten zum Klima bringst, die nicht ins Ideologieraster passen, leugnest Du komplett „das“ Klima. Absurd. Aber ist das nicht eine Spielart des Totalitären?
Angst, Panikmache, Horrorszenarien: All dies gehört dazu, wenn man den Diskurs – vielleicht aus Furcht vor Argumenten, die eigene Denkmuster hinterfragen könnten und gar eine Selbstkorrektur notwendig machten – ausschalten will. Vor allem über die Angst weiß man, dass sie eigentlich in jeder Lebenssituation die kritische Urteilskraft herabsetzt und den Verstand benebelt. Denn es gilt auch: „Bei einer Entwertung des Verstandes kann sich Angst besonders leicht ausbreiten“ (Noelle-Neumann). Das wussten Hitler, Stalin, Mao, Pol Pott und andere im Politischen schon früher. Angst zu schüren gehört zum Werkzeugkasten der Unterdrückung und Manipulation. Arnold Gehlen brachte es auf die Kurzformel: „Manipulieren heißt ja, jemanden als Mittel zu benutzen zu einem Zweck, den er nicht kennt.“ Gehlen sagte dies 1972 im Blick auf die politische Verantwortung der Massenmedien. Ob es deshalb so geradezu wahnsinnig und unverfroren störend ist, wenn in manchen doch auch medial „geschmierten“ und so quotenträchtig funktionierenden Angstprozessen sich Experten zu Wort melden möchten, die Wissen und Information bereithalten?
Noelle-Neumanns Mahnung ist auch zum Ende des zweiten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend topaktuell: „Je mehr man sich auf das Gefühl verlässt, ohne den Verstand zu beteiligen, um so leichter kann man zu einem Zweck gebraucht werden, den man nicht kennt. Je mehr Fähigkeiten man entwickelt, um seinen Verstand zu gebrauchen, je mehr man lernt, um sich zu erinnern, Erfahrungen zu speichern und abzurufen, zu vergleichen, zu variieren und zu differenzieren, mit um so größerer Kraft kann man Manipulation erkennen und sich ihr widersetzen.“ Die große Kommunikationsexpertin spricht von einer „blockierten Kommunikation“, die gefährlich für eine funktionierende Demokratie ist. Schon Neil Postman hatte festgestellt, es gebe „keine Freiheit für eine Gesellschaft, der die Informationen fehlen, um den Mangel an Freiheit zu bemerken“. Ein veritabler Teufelskreis, so könnte man sagen. Die immer bedrohte und verletzbare wie im übertragenen Sinne sensible Freiheit lässt sich nicht verteidigen, wenn Information und Kommunikation blockiert sind.
Das bekannte Problem gibt es ja auch heute, wenn man ziemlich leicht beobachten kann, dass bei der Vermittlung der Information beinahe flächendeckend bestimmte Nachrichten der Selektion zum Opfer fallen – weil sie einfach nicht zu passen scheinen. Ein Beispiel: Information und faire wie respektable Kommunikation sind in einer Gesellschaft, die jede passende Aussage zum Klimaschutz und zum Umweltschutz mit ehrfürchtiger Anerkennung und selbstverständlicher Wertschätzung goutiert und überall verbreitet, wenn es um das Grundrecht des Menschen auf sein Leben geht, was bereits vor der Geburt beginnt und gegeben ist. Umweltschutz und Klimaschutz sind positiv konnotiert, Lebensschutz eher negativ. Das stört wegen der auch und gerade im Lebensschutz vorhandenen und zwingenden Logik, die Freiheit mit gelebter Verantwortung koppelt, derart, dass etwa selbsternannte Frauenrechtlerinnen und angebliche Feministinnen – beiderlei Geschlechts – Lebensrechtler als rechtsaußen und als Nazi diskriminieren. Warum? Weil es eine regelrechte Phobie vor Fakten und Argumenten gibt. Da fällt selbst Gebildeten kaum mehr auf, dass die Nazis alles andere als einen unbedingten Respekt vor dem Lebensrecht eines jeden (!) Menschen hatten. Hauptsache: Die Beschimpfung wirkt. Semper aliquid haeret – immer bleibt etwas hängen.
Und deshalb werden beispielsweise zwar kleine LGBT-Demonstrationen vor dem Weißen Haus gegen Präsident Trump selbst in den Öffentlich-Rechtlichen Medien breit und bildreich als Information dargeboten. Wenn aber mehrere Millionen Menschen – ebenfalls in Washington – gegen die Tötung von Menschen demonstrieren und für die Achtung des Rechts auf Leben von Anfang an werben, wenn gar der Vizepräsident Pence nach einer Videobotschaft des Präsidenten zusammen mit seiner Frau vor Ort ist und den Menschenrechtlern mit klugen Worten Mut macht, dann, ja dann findet das seltsamerweise keinen Eingang in Tagesschau oder heute-journal. Auch die Demonstration von mehreren Millionen Menschen jeden Alters in Argentinien für das Leben wird, welch ein „Zufall“, glatt übersehen in den meisten Medien.
Wie war das noch? Auswahl ist Selektion, wodurch die Kommunikation mit dem bewussten Weglassen von Informationen blockiert wird. Faire und der Würde des Menschen entsprechende Kommunikation aber ist existentiell wichtig für eine humane Demokratie. Dass nicht nur die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, sondern auch alle anderen Biowissenschaftler nicht mehr bezweifeln, dass der neue Mensch mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnt und von dem Augenblick an alles hat, um sich als (!) Mensch zu entfalten, also Mensch von Anfang an ist und deshalb ein Lebensrecht hat, das Schutz verlangt, findet natürlich auch so gut wie keinen Eingang in den öffentlichen Informationsprozess. Das passt einfach nicht!
Jürgen Liminski spricht (vgl. i-daf-Newsletter Mai 2019) in diesem Zusammenhang davon, dass Ideologien und Meinungen nur noch propagiert und nicht mehr an der Wirklichkeit und Logik gemessen werden: „Das Publikum fragmentiert und lebt in seinen Echo-Kammern. Darin herrscht oft die Ächtung des Andersdenkenden“. Und deshalb sei auch „die Meinungsfreiheit gefährdet und mit ihr die Demokratie.“ Es ist eine – man möchte sagen – reichlich perfide Form der Dekadenz, die Arnold Gehlen zur Zeit der 68er-Revolte so kennzeichnete und irgendwie aktuell erscheint: „Wenn die Gaukler, Dilettanten, die leichtfüßigen Intellektuellen sich vordrängen, wenn der Wind allgemeiner Hanswursterei sich erhebt, dann lockern sich auch die uralten Institutionen und strengen professionellen Körperschaften: das Recht wird elastisch, die Kunst nervös, die Religion sentimental.“
Der Triumph der Gesinnung über den Verstand und die Vernunft – diese Deformation echter Aufklärung und eines für die Demokratie notwendigen Informationsflusses wird immer wieder bestätigt. Aber ebenso konsequent verschwiegen von jenen, die eigentlich auch ein eigenes Interesse an der Wirklichkeit haben müssten. Fakten stören wohl massiv. Da wundert es kaum noch, dass eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im 30. Jahr des Mauerfalls und zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes so gut wie überall von Medien ignoriert wurde. Eisernes Schweigen bei den sogenannten Qualitätsmedien! Es stellt(e) sich heraus, dass die Mehrheit der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht.
Hätte nicht die FAZ in ihrem Bezahlteil am 22. Mai einen Beitrag der Institutschefin Renate Köcher veröffentlicht, wäre nichts bekannt geworden. In ihrem Beitrag heißt es unter anderem: „Annähernd zwei Drittel der Bürger sind überzeugt, man müsse heute ‚sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert‘, denn es gäbe viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind.“ Bemerkenswert: Die Mehrheit der Befragten nennen als Tabuthemen „Flüchtlinge“ (hier sind es 71 Prozent), gefolgt von „Muslime und Islam“ und „Nazizeit und Juden“. Die Menschen haben hier mehrheitlich den Eindruck, in ihrer Meinungsfreiheit stark eingeschränkt zu sein. Das gelte auch – allerdings etwas weniger deutlich – bei Themen wie „Rechtsextremismus und AfD“,„Patriotismus“ und „Homosexualität“ sowie „drittes Geschlecht“. Hingegen könne man tabufrei öffentlich diskutieren bei den Themen „Klimaschutz“, „Gleichberechtigung“, „Arbeitslosigkeit“ und „Kindererziehung“.
Die Umfrage kommt zu einem besorgniserregenden Ergebnis, das Renate Köcher so beschreibt: „Geblieben ist der Eindruck, dass die Eliten die Sorgen der Bevölkerung nicht ausreichend ernst nehmen und sogar unter Verdacht stellen.“ Viele Bürger fürchten inzwschen, zu Unrecht als „rechts“ abgestempelt zu werden. Und so sehen die Zahlen aus: Noch 1996 hielten nur 16 Prozent der Befragten das Thema „Patriotismus“ für „heikel“ in der öffentlichen Debatte. Inzwischen sind es 41 Prozent. Köcher dazu: „Auch hier ist sich die Bevölkerung jedoch nicht mehr so sicher, ob die Eliten mit ihrer überzeugten Unterstützung der europäischen Integration und in einer globalisierten Weltwirtschaft die Nation noch hochhalten. (…) Mit dem Aufkommen nationalistischer und gleichzeitig europakritischer Gruppierungen wurde Patriotismus immer mehr zu einem aufgeladenen, kontroversen Thema – auch weil Bürger zunehmend fürchten, als rechtsaußen zu gelten, wenn sie sich als Patrioten outen.“
Es ist erschreckend, geradezu alarmierend für eine Demokratie, deren Herzblut die freie Meinungsäußerung ist, wenn 59 Prozent der Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung in der Öffentlichkeit frei zu äußern. Zugleich fühle sich ebenso viele Menschen nur noch frei, unter Freunden und Bekanntenihre wahre Meinung zu sagen. Und noch etwas: Die Mehrheit der Deutschen hält die Political Correctness für übertrieben. Sie sind genervt von immer rücksichtsloseren Sprachregeln und Vorschriften. Zwei Drittel der Befragten findet es übertrieben, statt „Ausländer“ „Menschen mit Migrationshintergrund“ sagen zu sollen. Und was die übertriebene „Korrektheit“ angeht, alte Texte gendergerecht umschreiben zu sollen, lehnt eine übergroße Mehrheit von 75 Prozent dies deutlich ab. Mehr und mehr fühlen sich genervt von immer neuen und immer mehr Vorschriften, „was man sagen darf und wie man sich zu verhalten hat.“
Noch einmal: Die mit Zwangsgebühren satt finanzierten Öffentlich-Rechtlichen (ARD und ZDF) mit ihrem „Informationsauftrag“ informierten über diese Fakten – nichts! Gar nichts.
Haben wir also nicht längst den „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ (Hermann Lübbe) in einem System freiheitszerschneidenden Politischen Moralismus, an das wir uns insgesamt alle zu sehr gewöhnt haben? Haben wir nicht – bis in die Kirche hinein – den Mut verloren, der Wahrheit des Seins einen Raum zu geben? Haben wir nicht mehr oder weniger – auch kirchlicherseits ohne erkennbaren Protest opportunistisch und unfrei zugelassen – Gott aus dem Bewusstsein verdrängt und das Verständnis für das Naturrecht zerstäuben lassen? Wer weiß denn noch oder will es wissen, dass man – anschaulich von Thomas von Aquin beschrieben und begründet – mit den Mitteln der Vernunft mehr als diese menschenfurchtbereite Immanenz erkennen kann? George Orwell, dessen „1984“ rückblickend angesichts heutiger Wirklichkeiten wie eine nette Sozialromanze anmutet, beschrieb das so: „Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.“ Doch dieser Mut ist heute – um es neupolitdeutsch zu formulieren – eigentlich alternativlos.
Allein deshalb, weil Joseph Ratzinger bis heute nicht nur im Blick auf die Familie mit seiner warnenden Analyse Recht behalten hat, wenn er 1988 schrieb: „Wenn die Familie nicht mehr Mann und Frau, Jung und Alt zueinander vermittelt, verkehren sich die Grundbeziehungen der Menschen in einen Kampf aller gegen alle (…) Das Zerstören der Familien ist daher das sicherste Kennzeichen für den Antichrist, den Friedenszerstörer unter der Maske dessen, der Befreiung und Frieden bringt.“ Und 1989 heißt es beim späteren Papst: „Wo der Mensch seinen Eigenwillen, seinen Stolz und seine Bequemlichkeit über den Anspruch der Wahrheit stellt, steht am Ende notwendig alles auf dem Kopf; angebetet wird nicht mehr Gott, dem die Anbetung gebührt; angebetet werden die Bilder, der Schein, die geltende Meinung, die die Herrschaft über die Menschen gewinnt“. Und an anderer Stelle: „Das Fehlen der Gottesfurcht ist der Anfang aller Torheit.“ Dann verliert der Mensch sein Maß: „Der Mensch, der gegen die Wahrheit anlebt, lebt auch gegen die Natur an. Seine Erfindungskraft gilt nicht mehr dem Guten, sie wird zur Genialität und zur Raffinesse des Bösen.“ Und am Ende werden die Quellen des Lebens verstopft: „Nicht mehr das Leben herrscht, sondern der Tod, eine Zivilisation des Todes etabliert sich (Röm 1,21-23).
Aus dem Zweifel am Verstand ist längst dessen Tötung samt der
Mentalinhaftierung ihrer Vernunftbereiten geworden. Die Diktatur des
Relativismus speist sich aus dem Totalitären des Irrationalen als neuer
inquisitorischer Moral. Was dringend geboten ist, das ist der Aufstand der
Vernünftigen, die keine Angst vor Verstand und Fairness, Dialog und Demokratie
haben.