Man weiß nicht genau, heißt es da und dort über Raffaelo Sanzio. Wurde er, einer der bedeutendsten Künstler der Hochrenaissance, am 6. April oder schon am 28. März 1483 in Urbino geboren? Hat er beim Vater gelernt? Ging er im Jahr 1500 oder schon 7 Jahre früher nach Perugia als Schüler der Werkstatt Peruginos? Wer waren, in puncto Bewegtheit seiner zahlreichen Madonnen, die entscheidenden Vorbilder? Perugino oder doch Fra Bartolommeo? Wer legte Hand an die „Verklärung Christi“, sein letztes, unvollendet gebliebenes Gemälde? War er, als Frauenheld, Opfer einer Geschlechtskrankheit oder starb er – am 6. April vor 500 Jahren in Rom – an der Maleria? Wie kam es wohl zur so populär gewordenen Verehrung der angeblich wundertätigen „Madonna del Sasso“ von Lorenzetto, der Marmorfigur über Raffaels Grabmal im Pantheon zu Rom?
Keine Haupt-, aber Nebenfragen, die dem Besucher der derzeit in Münchens Alter Pinakothek ein kleines Aufsehen erregenden Sammlungspräsentation „Raffael 1520 – 2020“ durch den Kopf gehen mögen. Steht er vor dem Raffael-Arrangement im Saal IV, fällt sein Blick erst auf das Raffael-Gemälde, um das es geht: „Die heilige Familie“ (1507), eine Auftragsarbeit zur Heirat des Florentiner Tuchhändlers Domenico Canigiani mit Lucrezia Frescobaldi. Nicht zur 500. Wiederkehr von Raffaels Todes-, sondern zu dessen 500. Geburtstag vor 37 Jahren wurde das Bild restauriert. Siehe da: Links oben traten Engelsköpfe zutage, bis dato von dunkelgrüner Farbschicht überdeckt.
Jeder guckt zuerst auf die „neuen“ Engel. Findet sie vielleicht gar nicht so bemerkenswert. Hat er doch die zwei aller Welt bekannten frechen B-Engel im Kopf, die für ihn das Nonplusultra des Raffael`schen weich-lieblichen Stils darstellen, seit er sie schmunzelnd am unteren Bildrand der „Sixtinischen Madonna“ in Dresden hat lümmeln und sinnieren gesehen. Angelpunkt der kleinen Münchner Raffael-Inszenierung sind aber die „neuen“ Engel nicht. Vielmehr geht es um das von Raffael bei Kollegen aufgegriffene Motiv der „Heiligen Familie“, Ähnlichkeiten und Abweichungen. Also was spezifisch Kunsthistorisches.
Seit 1806 ist besagtes Gemälde in München. Es gelangte hierher, zusammen mit einer „Heiligen Familie“ von Andrea del Sarto von 1515, aus der Düsseldorfer Sammlung des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz. Zwanzig Jahre später gab Ludwig I. den Bau der Alten Pinakothek in Auftrag. Die Grundsteinlegung fand an Geburtstag des großen Raffael statt, dem so gleichsam das Patronat der Alten Pinakothek übertragen wurde. Ludwig I. und sein Generaldirektor J. G. von Dillis waren Raffael-Fans. 1819 bekam München Raffaels „Madonna della Tenda“ (1513/14). Vorsichtshalber ließ Ludwig I. Raffaels „Heilige Familie“ vom Porzellanmaler Christian Adler 1843 kopieren. Eine der Kopien, Fra Bartolommeos „Anbetung des Kindes“ (ca. 1495) und Friedrich Overbecks heilige Sippe von 1825 erlauben Vergleiche mit Raffaels Florentiner Werk von 1507. Overbecks gut 300 Jahre nach Raffael geschaffene Imitation lässt die über Jahrhunderte hinweg ungetrübte Raffael-Verehrung begreifen. Bis 8. November täglich außer Mo 10 – 18, Di und Mi bis 20.30 Uhr.
Foto Hans Gärtner
In den Wolken: die „neuen“ Engel des alten Raffael (1483 – 1520), die bei einer Restaurierung seiner „Heiligen Familie“ von 1507 zum Vorschein kamen