„Vorahnung – ist jener lange Schatten – auf dem Rasen.“ (E. Dickinson)

Hinter mir – senkt sich die Ewigkeit –
Vor mir – die Unsterblichkeit –
Ich bin – die Zeit zwischen beiden,
Tod verweht das östliche Grau
Löst es in Morgenröte auf,
Bevor der Westen beginnt –

Diese Worte stammen von einer der bedeutendsten und rätselhaftesten Autorinnen Amerikas. Weltverloren, völlig zurückgezogen und verrätselt schrieb Emily Dickinson (1830 bis 1886), Enkelin, Tochter und Schwester bedeutender Männer aus dem damals düsteren Provinznest Amherst in Massachusetts (bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg eine der letzten Bastionen orthodoxen puritanischen Glaubens), ihre umstürzend nonkonformistischen Verse. Kurze und knappe Gedichte sind es, nur wenige Zeilen lang, denen jedoch eine immense Spannung innewohnt. Verse, die in ihrer asketisch-spröden Art meist erst auf den zweiten Blick entfesseln, dann aber beinahe metaphorisch wirken. „Dickinson war ein Genie der Verwandlung dessen, was sie bewegte, in lyrische Ich-Erzählungen. Ihre zahlreichen Ich-Stimmen (darunter auch kindliche, männliche, ja sogar bereits tote) umkreisen das innere Drama ihres Lebens.“, stellt Gunhild Kübler, die Herausgeberin und Übersetzerin ihrer Gedichte, die 2006 im Hanser Verlag erschienen, treffend fest. Die amerikanische Dichterin fand in der Poesie den Sinn des Lebens. „Sie schrieb Gedichte, wie andere atmen, (…) beobachtete alles, was sie umgab, sogar die scheinbar einfachsten und unwichtigsten Sachen. (…) Ihrer Meinung nach enthielt alles auf dieser Welt eine Antwort auf etwas anders. Von den kleinen Fragen kam sie auf die großen.“ Ihre Lyrik ist, auch und vor allem vor dem Hintergrund ihres Lebens und ihrer Familie, voller Emotionen, sensorischer Erfahrungen und Visionen.
Wer vor einem Gedichtband allerdings zurückschreckt, aber trotzdem die magische Lyrik für sich entdecken möchte, dem sei der Roman von Ana Nobre de Gusmão wärmstens empfohlen. Vor allem und gerade daher, weil er in seinem ganzen Aufbau und seiner Typografie etwas von dem Unkonformistischen und Atypischen, das auch Emily Dickinsons Zeilen innewohnt, überträgt. Genau wie jene sich nicht an die Regeln der Zeichensetzung hielt, Wörter, denen sie Nachdruck verleihen wollte, mit Großbuchstaben begann oder einen Satz auf der Mitte einer Seite anfing, wartet auch die portugiesische Schriftstellerin mit Textumbrüchen an außergewöhnlichen Stellen auf, leitet Abschnitte mit diversen Symbolen ein, streut mitunter eine stark reduzierte Chat-Sprache ein oder lässt Textzeilen hellgrau drucken.
Gehalten in der Ich-Form, wird die Obsession der fünfunddreißigjährigen Journalistin Emília für die dichtende Amerikanerin erzählt: „Mein größtes Laster heißt Emily Dickinson, ich mag das Internet lieber als das echte Leben, ziehe oft um und knacke mit den Fingern, wenn ich nervös bin oder mir etwas unangenehm ist.“ Bereits in ihrer Kindheit flüchtet sich Emília in eine surreale Welt, bevölkert von einer „Sandkönigin“ (eine Meerjungfrau aus Porzellan), dem Filzkraken „Vielarm“ und Alvim, ihrem fiktiven Bruder, der als ihr Alter Ego fungiert. Aufgewachsen in einem gestörten Elternhaus, hat zweifelsohne ihre Englischlehrerin Miss Donna den größten Anteil an ihrer Entwicklung. Sie lehrt das junge Mädchen, über den Rand der Dinge hinauszusehen und nimmt es vor allem ernst. Miss Donna ist es auch, die Emílias Leben eine Richtung gibt und sie behutsam zu der Dichterin hinführt. Deren Aussage: „Wer sich von der Macht des Wortes gefangennehmen lässt, ist nie einsam, wie allein er auch sein mag.“, wird fortan ihr Leitspruch. In ihrer neuen Wohnung scheint Emília endlich innere Ruhe zu finden. Dazu tragen zweifelsohne ihr Nachbar Max, ein Co-Pilot, für den sie eine zaghafte Verliebtheit empfindet und auch die achtjährige Sónia, Tochter einer lebensmüden Tänzerin, aus der Wohnung unter ihr, bei. Doch dann nimmt erneut die Dichterin mit geradezu mystisch-bedrohlicher Macht Besitz von ihr… „Emily Dickinson wohnt in mir wie eine chronische Krankheit, manchmal unbemerkt, dann wieder auf schmerzliche Weise präsent.“
Emily Dickinsons Leben und ihr Werk werden durch Ana Nobre de Gusmão auf faszinierende Art und Weise mit dem von Emília verwoben. Gleichzeitig fungiert es als Zünder für die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte. In wechselnden Ebenen und Zeiten, die mitunter sogar mitten im Satz umbrechen, berichtet die Autorin in Gestalt ihrer Protagonistin von der manchmal schroffen, dann wieder amüsant-ironischen Reise zu dem weiten Universum von Emily Dickonson. Nobre de Gusmão gelingt es großartig, Gegenwart und Vergangenheit miteinander zu verweben. Ein Buch, das den Atem der Genialität, der von der amerikanischen Lyrikerin ausgeht, deutlich spüren lässt.
Fazit: „Ein Wort ist tot / Wenn es gesagt ist / So wird gesagt / Ich sag, es fängt / Zu leben an / An diesem Tag“, schrieb Emily Dickinson. Genauso lebt Ana Nobre de Gusmãos ungewöhnlicher Roman – eine Mixtur aus Spannung, Leidenschaft, Neurosen und einem Crescendo, das in einem überraschenden und unerwarteten Ende kumuliert. Ein nicht nur optisch unkonventioneller Text, der – genau wie die Gedichte von Emily Dickinson – ein Hineingleiten und ein Sich Fallenlassen erfordert. Erst dann umfängt er, genau wie „Vielarm“ der Krake mit seinen Tentakeln, den Leser. Oder: um es mit den Worten von Emília zu sagen: „Manchmal habe ich das Gefühl, nicht in dieser Welt zu leben, sondern lediglich eine Zuschauerin zu sein, die, wie Emily, das Geschehene zu Metaphern verarbeitet. (…) Eines Tages werde ich auch ein Buch über sie schreiben. Keine Biographie, sondern eine Abfolge von Auszügen aus ihrem Leben, die mit Auszügen aus meinem Leben verwoben sind…“ Genau dies hat die portugiesische Autorin getan. Ein Buch, das sich erst auf den zweiten Blick erschließt, dann aber umso intensiver.

Ana Nobre de Gusmão
Die Gefangene von Emily Dickinson
Aus dem Portugiesischen von Studentinnen und Studenten der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Titel der Originalausgabe: A prisoneira de Emily Dickinson
Weidle Verlag (Juli 2013)
328 Seiten, Fadengeheftete Broschur
ISBN-10: 3938803576
ISBN-13: 978-3938803578
Preis: 21,90 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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