Vor 100 Jahren starb Lew Tolstoi

Daß der Ruhm ihm nicht unwichtig gewesen war, daraus hat Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, geboren am 9. September 1828, nie einen Hehl gemacht. Und ruhmreich war sein Leben, von den Anfängen im Krimkrieg bis hin zu den erfüllten Tagen auf seinem Gut Jasnaja Poljana. Bereits mit seinen literarischen Skizzen, den „Sewastopoler Erzählungen“ öffnete sich für ihn die Tür zum Erfolg. Von Moskau bis ins tiefe Sibirien hinein laß man seine Schriften fortan, vergötterte ihn, den Adligen mit sozialistischen Anschauungen und zuhöchst menschlichen Gefühlen, ihn, der dem Denken Rousseaus sich zutiefst gegenüber verpflichtet wußte, der aus dem Geist der wahren Pädagogik heraus seine Bauern und ihre Kinder zu würdigen Bürgern formen und frommen wollte.
Und 100 Jahre nach seinem Tod, am 20. November 1910, ist sein Ruhm nicht verblaßt, in allen Feuilletons würdevolle Erinnerungen an einen, der die abendländische Literatur um neue Maßstäbe erweiterte. Sein Gut bei Tula, sein Jasnaja Poljana, ist heute zum Nationalheiligtum Rußlands geworden, eine Pilgerstätte ohnegleichen, in der die Ikone der Weltliteratur – jenseits von jedem politischen Trubel – gefeiert wird. Und es sind Werke wie die Novelle „Der Tod des Iwan Iljitsch“, das Drama „Die Macht der Finsternis“, die ergreifende Geschichte „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ von 1885, die nicht nur James Joyce bewogen haben, von großer Literatur zu sprechen. Man könnte hinzufügen: Tolstoi war das, was man heutzutage ein Medienereignis nennen würde, nicht nur Repräsentant des feinen russischen Adels, sondern ein Sozialrevolutionär avant la lettre. Vor allem war er aber eins, einer der größten Dichter aller Zeiten, vielleicht nur noch mit Homer vergleichbar.
In seinen wohl berühmtesten Roman „Anna Karenina“, der in den Jahren 1873 bis 1878 in der Epoche des russischen Realismus entstanden war, und maßgeblich von Ehe und Moral in der adligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts handelte, spiegelt er nicht nur die großen Sinnfragen des Lebens, die Gottesfrage, die Frage nach dem Selbstmord, das Sein einer sinnvoll-absurden Existenz, die später einer ganzen Philosophie ihren Namen geben wird, dem Existentialismus, sondern es ist immer wieder der sich darin abzeichnende Realismus, der die Leser unterschiedlichster Couleur in ihren Bann zog. Auch Madame Bovary von Gustave Flaubert, Effi Briest und L'Adultera von Theodor Fontane waren diesem Realismus verpflichtet, waren Gesellschaftsspiegel einer in sich erkrankten Gesellschaft, deren Ethos fragwürdig und brüchig geworden war, die mehr für den Schein denn für das Sein – mit all seinen Verquickungen, Irrungen und Wirrungen – votierten. Und darüber hinaus gilt Tolstois Roman „Anna Karenina“ zugleich noch als künstlerisch vollkommenster, da er in aller Vielseitigkeit die moralische Welt- und Werteanschauung des Schriftstellers breitgefächert präsentierte.
Bereits in „Krieg und Frieden“, fast zehn Jahre vor „Anna Karenina“ erschienen, 18868/69, sowie in seinen „Sewastopoler Erzählungen“ ist immer wieder jene innerste Sehnsucht zu finden, von der Tolstoi im wirklichen Leben nur träumen konnte, die stets gesuchte und idealisierte Einheit von tiefer Sehnsucht und Wirklichkeit. Und auch „Krieg und Frieden“ ist eine fast perfekte Reflexion auf die damaligen sozialen Verhältnisse, auf die Vielzahl gesellschaftlicher Probleme, auch hier stehen immer wieder die sozialen Unterschiede zwischen Adel und Geldadel, zwischen ehelicher und unehelicher Geburt im Mittelpunkt des Geschehens.
Und immer gelang es Tolstoi, nicht um die Ereignisse reflexiv zu kreisen, sondern die Ereignisse in eine Sprache zu kleiden, die eindringlich war und ist, die jeden Leser angeht, weil sie das Leben geschrieben hatte, weil sie die Wirklichkeit desselben in aller Klarheit zum Ausdruck brachte. Dies ist nicht zuletzt das Geheimnis seines künstlerischen Schaffens – seine kraftvolle und wirkmächtige Sprache.
Letztendlich ist Tolstoi dem sogenannten Anna-Karenina-Prinzip selbst erlegen, nach dem mehrere Faktoren oder Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Sache gelingt, während das Fehlen eines einzelnen Faktors zum Scheitern oder Ausschluß führt, denn auf einer Zugfahrt im Oktober 1910, bis dahin war er glücklich, erfolgreich, Vater von acht Kindern und einer Frau, die sich um seine Werke aus tiefstem Herzen kümmerte, erkrankte der Dichter überraschend so schwer, daß er an den Folgen einer Lungenentzündung starb.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2155 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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