Vor 80 Jahren: Von jeher nährt Russland aus der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942 sein nationales Ego – um von eigenen Problemen abzulenken. Von Benedikt Vallendar.
Sie war das Verdun des Ostens, die Schlacht bei Stalingrad, die mehr als 500.000 Menschen, Russen, Rumänen und Deutsche das Leben kostete. In eisiger Kälte hatten sich im Winter 1942/42 deutsche Landser und Rotarmisten in den Ruinen der einst stolzen Stadt im Süden des Sowjetreichs festgekeilt und lieferten sich dort wochenlange Straßenkämpfe, von Haus zu Haus, Mann gegen Mann. Der Kampf um die symbolträchtige Stadt an der Wolga bedeutete die Wende im zweiten Weltkrieg, denn sie hatte der Weltöffentlichkeit unverhohlen die Verwundbarkeit der deutschen Soldateska vor Augen geführt. Die Zeit der Blitzkriege, mit der die deutsche Wehrmacht fast zwei Jahre lang glaubte, die ganze Welt unterwerfen zu können, hatte sich schlussendlich als Illusion erwiesen. Allein der strategischen Umsichtigkeit deutscher Generäle war es geschuldet, dass sich das NS-Regime nach der verheerenden Niederlage im Kessel von Stalingrad, rund 2.800 Kilometer südöstlich von Berlin, noch mehr als zwei Jahre an der Macht hielt und weiter Menschen sterben mussten. Geblendet vom vermeintlich schnellen Vormarsch hatte die deutsche Führung die Ostfront in unverantwortlicher Weise ausgedehnt. Nachschub und Treibstoffversorgung blieben angesichts der großen Entfernungen und mangelhaften Infrastruktur auf der Strecke, die Versorgung aus der Luft eine buchstäbliche Luftnummer.
Privatier von Ulbrichts Gnaden
Hinzu kamen Angriffe von Partisanen, die den deutschen Invasoren das Leben zur Hölle machten. Gewaltexzesse auf beiden Seiten bestimmten den Alltag im Kessel auf beiden Seiten. Hunderttausende junger Männer, darunter auch Angehörige mit Nazi-Deutschland verbündeter Nationen, büßten den strategischen Irrglauben Adolf Hitlers am Ende mit ihrem Leben. Am 2. Februar 1943 begab sich der deutsche Oberkommandierende, Generalfeldmarschall Friedrich Paulus (1890 – 1957) in sowjetische Gefangenschaft. Noch eine Woche zuvor hatte ihm Hitler per Funkspruch eine Kapitulation verboten und stattdessen Paulus` Selbstmord erwartet. Erst acht Jahre später sollte der geschlagene, deutsche General seine Heimat wiedersehen und in einem Villenvorort Dresdens ein privilegiertes Leben als Privatier und Militärhistoriker der DDR-Regierung führen, die seinerzeit unter der Kuratel von Walter Ulbrich (1893 – 1973) stand. Ulbricht hatte als deutscher Exilkommunist vergeblich versucht, deutsche Soldaten zum Überlaufen zu bewegen. Nur knapp 6.000 der einst 250.000 Mann starken, sechsten deutschen Armee überlebten den Krieg und die anschließende, sowjetische Kriegsgefangenschaft in den Weiten Sibiriens. Erst nachdem die Bundesrepublik im Jahre 1955 diplomatische Beziehungen zur UdSSR aufgenommen hatte, kamen die letzten deutschen Kriegsgefangenen frei. „Tor zur Freiheit“ steht noch heute auf Autobahnschildern, die auf das zentrale Aufnahmelager im niedersächsischen Friedland, knapp zwei Kilometer vor der ehemaligen, innerdeutschen Grenze hinweisen. „Adenauer hat sie heimgeholt“, war in Westdeutschland Ende der Fünfzigerjahre ein geflügeltes Wort und bescherte dem CDU-Kanzler, gepaart mit anderen, politischen Leistungen, den Machterhalt bis zu seinem unfreiwilligen Abtritt im Jahre 1963.
Harter russischer Alltag
Ein Vergleich der Schlacht von Stalingrad mit jener von Verdun im Jahre 1916 zwischen Deutschen und Franzosen liegt nahe. Denn in beiden Fällen führten nationaler Egoismus, Größenwahn und Skrupellosigkeit zwei Völker in den Abgrund. Millionen zahlten den Irrsinn mit ihrem Leben. Und dennoch kommt der Tragödie von Stalingrad eine besondere Tragweite zupass, die in ihrer politischen Dynamik gänzlich gegensätzliche Transmissionsprozesse in Gang gesetzt hat, welche bis heute andauern. Nicht nur in ihrer Brutalität und menschlichen Abgründigkeit hob sich Stalingrad von allem ab, was die Welt bis dahin erlebt hatte. Auch in ihrer späteren, politischen Instrumentalisierung bekam die Mutter aller Schlachten des zweiten Weltkrieges als Erinnerungsort eine andere Rolle zugedacht als Verdun. Während Deutsche und Franzosen das Drama von 1916 zum Anlass nahmen, einen tiefgreifenden Versöhnungsprozess in Gang zu setzen, der mit dem Elysee-Vertrag von 1963 zwischen Präsident Charles de Gaulle (1890-1970) und Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) feierlich zum Abschluss kam, lastet die Hölle von Stalingrad bis heute wie ein Bremsklotz auf den deutsch-russischen Beziehungen. Auch wenn nur selten offen darüber gesprochen wird. Nie wurde das mörderische Gemetzel an der Wolga, bei dem Menschen in der Größenordnung der Gesamtbevölkerung Düsseldorfs ihr Leben ließen, zu einer tiefgreifenden Versöhnung beider Länder genutzt.
Noch immer pflegt Russland mit martialischen Militärparaden, die an die ruhmreichen Siege über Hitler-Deutschland erinnern
Im Gegenteil scheint das moderne Russland von jeher Wert darauf zu legen, die unstreitige Schuld der Deutschen als nationales Erbe zu hegen. Noch immer pflegt Russland mit martialischen Militärparaden, die an die ruhmreichen Siege über Hitler-Deutschland erinnern und jüngst einem Krieg in der Ukraine sein nationales Pathos, auch um von eigenen, vor allem sozialen Problemen im Innern abzulenken. Groß war vor wenigen Jahren der Aufschrei, als die Regierung plante, aus Gründen der Haushaltskonsolidierung, die wenigen Privilegien überlebender Weltkriegsveteranen, wie kostenloses Busfahren und Medikamentenzuteilung einzuschränken. Doch mehren sich im Russland des 21. Jahrhunderts die Stimmen derjenigen, die das historisierende Getöse rund um die Schlacht von Stalingrad infrage stellen.
Viele junge Russen zweifeln, angesichts ihres harten Alltags, immer mehr den vermeintlichen Nutzen dessen an, was sich die Regierung von der fortwährenden Heroisierung der jüngeren Vergangenheit verspricht. „In unserem Wohnheim hausen wir zu fünft auf 20 Quadratmetern, die Duschen funktionieren nur selten, und an der Uni haben allenfalls die Dozenten Zugang zum Internet“, klagte kürzlich eine Geschichtsstudentin über die Lernbedingungen an der staatlichen Universität Kaliningrad, die seit Juli 2005 den Namen „Immanuel Kant“ trägt. „Wenn ich sehe, wie luxuriös dagegen deutsche Universitäten ausgestattet sind, wäre es mir fast lieber gewesen, wir hätten Stalingrad 1943 an Euch verloren“, fügt sie hinzu. Und es steckt bitterer Ernst dahinter, wie sie das so sagt. Kürzlich, bei einem Besuch an der Freien Universität (FU) in Berlin, habe sie die Vorzüge des drahtlosen Internets schätzen gelernt, sagt die Studentin. Ganz zu schweigen von der üppigen Bibliotheksbestückung, die für die junge Russin bar jeder Beschreibung war.
Russland ist abgeschlagen beim Wohlstandsindikator
Laut Human Development Index (HDI), der als international anerkannter Wohlstandsindikator dient, befand sich Russland im Jahre 2021 abgeschlagen auf Platz 52, die Bundesrepublik dagegen auf Platz 6, hinter der Schweiz und Norwegen. Putin-Freund Gerhard Schröder (SPD) war bei der Umbenennung der Kaliningrader Universität kurz vor seiner Abwahl als Bundeskanzler in die russische Enklave geflogen, wohl auch, um die deutsch-russischen Beziehungen ein wenig aufzuhübschen. „Auch hier liegt Stalingrad wie ein Mehltau über uns, allem Gemeinsamkeits-Tamtam zum Trotz“, klagten damals übereinstimmend deutsche und russische Journalisten, die das Ereignis aus nächster Nähe verfolgten.
In der früheren Sowjetunion, wo mit mehr als 20 Millionen Toten immerhin ein Drittel aller Kriegsopfer zu beklagen waren, wurde der ruhmreiche Sieg der Roten Armee kurzerhand zum nationalen Mythos erklärt. Ziel aller sowjetischen Nachkriegsregierungen war es, dauerhaft die vermeintliche Überlegenheit des Kommunismus ins Langzeitgedächtnis nachrückender Generationen zu implantieren. Der kalte Krieg folgte aus sowjetischer Perspektive seiner eigenen Logik, indem er die russischen Gefallenen von Stalingrad kurzerhand zu „Helden der Sowjetunion“ kürte und posthum zu unfreiwilligen Verbündeten einer höchst unfreiheitlichen Ideologie verklärte. Auch der Fall des Eisernen Vorhangs, Anfang der Neunzigerjahre hat daran nur wenig geändert.
Bier und Skatrunden
In der Bundesrepublik hingegen wurde das Trauma an Stalingrad lange Zeit verdrängt. Ging es doch in den Fünfzigerjahren vornehmlich darum, schnell wiederaufzubauen, was im Bombenhagel alliierter Luftangriffe zerstört worden war. Die meisten der wenigen Tausend Spätheimkehrer waren bis zum Ende der Ära Adenauer in die neu aufstrebende, westdeutsche Wohlstandsgesellschaft integriert und gedachten allenfalls auf privaten Kameradschaftsabenden, bei Bier und Skat ihres gemeinsamen Erlebens in der Hölle an der Wolga. An Stalingrad erinnerten nur jene gebückten Gestalten, die, traumatisiert von den Schrecken des Krieges, den Sprung in die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr geschafft hatten und auf Bahnhofsvorplätzen von Hannover, Karlsruhe und Schweinfurt ein trauriges Dasein als „Tippelbrüder“ fristeten. Die Kölner Mundartgruppe BAP hat ihnen 1979 mit der eindrucksvollen Ballade „Jupp“ ein musikalisch-künstlerisches Denkmal gesetzt.
Das Stück erzählt das Schicksal eines geistig verwirrten Mannes, bei dem erst nach und nach herauskommt, dass er einst in Stalingrad gekämpft hat und sich seither in Alkohol und Tagträume flüchtet. Die Ballade, die es bis in die oberen Chartplätze schaffte, nahmen viele Deutsche zum Anlass, erstmals über Stalingrad und seine Folgen nachzudenken. Heute nennen wir Menschen, die auf der Straße leben, Obdachlose, und die Ironie der Geschichte will es, dass sich unter ihnen, nach Auskunft des Paritätischen Wohlfahrtverbandes, auffällig viele Spätaussiedler aus Russland und Osteuropa befinden. Jene, die es nicht „geschafft“ haben, hier Fuß zu fassen. Sie kamen zu Hunderttausenden nach Deutschland, auf der Suche nach Arbeit und Perspektive. Das traurige Fazit: Fast ein Drittel aller Insassen deutscher Gefängnisse stammt heute aus der früheren Sowjetunion, ganz zu schweigen von tausenden, russischen Prostituierten, die in Deutschland ihrem Gewerbe seit 2002 weitgehend legal als „Beruf“ nachgehen können.
Der Zusammenbruch des Kommunismus inspirierte auch Künstler wie den 1939 geborenen Regisseur Joseph Vilsmaier über das gemeinsame historische Erbe von Russen und Deutschen nachzudenken, Sein Spielfilm „Stalingrad“ von 1993 war ein Versuch, die wichtigsten Etappen der Schlacht in eindrucksvollen Bildern umzusetzen. Der Film, der sich selbstredend als „Antikriegsfilm“ verstand, erhielt durchweg schlechte Kritiken und gewann dennoch renommierte Preise, darunter den Bayerischen Filmpreis.
Rolle der USA
Mehr als ein Dreivierteljahrhundert liegt das Drama von Stalingrad nun zurück. Doch noch immer versuchen Familienangehörige aus Russland und Deutschland mit Hilfe des internationalen Roten Kreuzes das Schicksal von Vermissten aus dem Kessel aufzuklären. Hoffnung ist eigentlich fehl am Platz. Denn bereits im November 1943 hatte Sowjetführer Joseph Stalin verkünden lassen, dass er die 136.000 Leichen rund um Stalingrad habe verbrennen lassen.
Leicht entsteht der Eindruck, die Schlacht sei ein rein deutsch-russisches Unternehmen gewesen. Dabei wird geflissentlich die Rolle der USA vergessen, ohne deren, vor allem finanzielle und logistische Unterstützung über die Beringstraße in Alaska die Kriegswende kaum denkbar gewesen wäre. Mit US-amerikanischer Hilfe hatte das heruntergewirtschaftete Sowjetreich hinter dem Ural gigantische Produktionsanlagen für Panzer, Flugzeuge und Munition aus dem Boden gestampft. Alles, was in der von den Deutschen noch unbesetzten Sowjetunion an Menschenmaterial verfügbar war, arbeitete Tag und Nacht daran, den Nachschub für den „Vaterländischen Krieg“ am Laufen zu halten. Denn die Ereignisse im Kessel von Stalingrad mutierten kurz vor Weihnachten 1942 zur reinen Materialschlacht. Mit modernstem Kriegsgerät ausgestattet, darunter der legendäre T-34-Panzer, starteten die Sowjets Anfang Januar 1943 ihre Gegenoffensive, die erst im Mai 1945 auf dem Dach des zerstörten Berliner Reichstagsgebäudes ihr blutgetränktes Ende fand.