I. Unbehagen an Deutschland
Dass Deutschland ein zweigeteiltes Land sei, und zwar genuin, dass war einem Deutschland so sehr verbundenen Schriftstellerkreis wie dem spanischen um Ortega y Gasset[1] schon zu Zeiten tiefster deutscher Einheit (im Kaiserreich) offensichtlich. Es habe „im Gesamtverlauf seiner Geschichte die Unfähigkeit bewiesen, eine kulturelle Einheit zu bilden“[2], so ein diesbezüglich markantes Diktum.Es sei kennzeichnend für den Mangel an politischer Kultur der Deutschen, dass sie die „sozialen Widersprüche und Disharmonien nicht gewahr“ werden und „gar mit Stolz ein Dasein aus unterschiedlichen und heterogenen Lebensfragmenten führen“ und eben niemals „vor Durst nach Einigkeit verschmachten.“[3] Ortega meint – in der Nachfolge von Hölderlin – offensichtlich mit dieser Zweiteilung ein Deutschland als ideales – unsichtbares -Deutschland der Vernunft und ein reales der historischen Praxis … Wir erinnern uns an jene Sätze aus dem Hyperion. wie: “Ich kann kein Volk mir denken, dass zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte … aber keine Menschen.“[4]
Damit war zweifellos eine problematische, dunkle, empirische Dimension in unserer deutschen Seelenlage angesprochen. Wem wäre das nicht mehr aufgefallen als gerade immer wieder den Deutschen selber – neben dem schon gehörten Hölderlin wäre hier auch – ein Säkulum später – auf einen exemplarischen Deutschen wie Friedrich Nietzsche zu verweisen. Aber wir sollten uns hüten, wie uns unser großer Immanuel Kant immer wieder zu bedenken gab, aus auch weit verbreiteten empirischen Befunden allgemeine Urteile fällen zu wollen. – So gehört auch die Idee dessen, was Deutschland jenseits bloßer historisch-politischer ZeitBefunde sein sollte, zu den überempirischen Prinzipien, die uns über alle geschichtlichen Schiffbrüche hinweg – wenn auch oft genug nur im Klandestinen – immer auch Denkräume für das Tiefste offen gehalten haben. Keiner hat das so schön gesagt, wie Hölderlin:
Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn
Wie du anfingst, wirst du bleiben,
Soviel auch wirket die Not.[5]
Aber schon Goethe hatte seinen Deutschen ins Stammbuch geschrieben: „Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern. Es ist vielleicht keine Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln; deßwegen es ihr zum größten Vortheil gereichte, dass die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm.“[6]
Denn zwar, um nochmals Hölderlin zu Wort kommen zu lassen:
„Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.“[7]
II.
Geheimes Deutschland.
Als Ernst Jünger die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer erhielt, schrieb er in sein Tagebuch: „Daß es einmal zur Wiedervereinigung kommen würde, habe ich nie bezweifelt (…) Dabei habe ich weniger an ein nationales Erwachen als an das Einschmelzen der Grenzen … gedacht.“[8]
Diese Überlegung Jüngers führt uns ins Zentrum dessen, was ich Deutschlands Beruf nennen möchte. Nämlich jenes Verhältnis von Nationalem und Transnationalem denkerisch und politisch ausbalancieren, eine (vielleicht antipolitische) Form dafür konstruieren zu müssen. Nicht entweder auf das eine oder das andere zu setzen, – wovon deutsche Geschichte schmerzlich zeugt. – Jüngers langer Denkweg selber, durchs XX. Jahrhundert, ist der exemplarische Fall, wie man vom existentiellen Gegeneinander des Einen und Anderen, und des sich-in-die-Schanze-schlagen für das Eine gegen das Andere, zu einer Synthese Beider, d.h. zu einem ‚Dritten’ denkerisch kommen kann. Das kann dann auch zunächst, wie eben beim Jünger-FreundesKreis, zu Konstellationen des Transpolitischen und Antipolitischgen führen. Etwas, das der frankophile Ernst Jünger in einer Begriffsassoziation von der literarischen Moderne her vielleicht Sur-Nationalism (und gerade nicht ‚Internationalismus’) genannt haben würde.
Der deutsche Geist – sozusagen das L’Allemagne èternelle –stand immer in der (bisweilen auch tragischen) Spannung nationaler Selbsttranszendenz. Das heißt: Deutschland wollte sich nie verstehen als beispielsweise Christus der Nationen (wie Polen), oder als Grand Nation (wie Frankreich), weder als imperiales Commonwealth noch als ein auf sich selbst bezogenes Reich der Mitte.
1.
Im folgenden möchte das, was ich in diesem Sinne Deutschlands Beruf nenne, am dichterischen Projekt des George-Kreises vom Geheimen Deutschland verdeutlichen. – Ein im besten Sinne metapolitisches Projekt, das übrigens ausdrücklich gegen alle “bigotte Kulturseligkeit der modernen Welt”[9] gerichtet ist, wie es Curtius einmal gesagt hat.
Die Idee vom Geheimen Deutschland begegnet uns in einer dramatischen deutschen Stunde, als tragischer Hoffnungsruf am Ende jenes ‚Gegenreichs’, das als ‚Drittes’ wollte gelten können. Als Stauffenberg im Bendlerblock füsiliert wurde, da war von ihm als sein letztes Wort zu hören: Es lebe das Geheime Deutschland![10]
Damit war ein Gedicht von Stefan George evoziert, das in einem seiner letzten Gedichtbände – Das Neue Reich (1928) – veröffentlicht wurde.
Im Vers 5 heißt es:
Da in den äußersten nöten
Sannen die Untern voll sorge
Holten die Himmlichen gnädig
Ihr lezt geheimnis …
sie wandten
Stoffes gesetze und schufen
Neuen raum in den raum …
Die Entstehungsgeschichte jenes enigmatischen Textes ist immer noch unklar. Sie hängt aber mit Georges Weg der Dichtung überhaupt zusammen, der zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich um 1900 sich tatsächlich auch mit der politischen Situation der Zeit überkreuzt. Wenn sich George hier für den Ausdruck geheim entscheidet, dann eben als Gegenentwurf zu ‚öffentlich’ bzw. ‚offiziell’. Das ‚geheime’ Deutschland ist immer dem offiziellen, Öffentlichen entgegengesetzt – und das war um 1900 für George das ‚zweite’ Reich, das Bismarck-Reich. Bismarck war (wie George) ursprünglich Rheinländer, genauer: Rheinhesse, aufgewachsen in der Atmosphäre der süddeutschen Mittelstaaten, deren politische Vision – seit der 1848er Revolution – aber schon immer die großdeutsche Lösung für den sich auflösenden Deutschen Bund (von 1815) war. Dagegen nun stand dann aber der preußische Machpolitiker Bismarck .
Kurzum: Man kann das Gedicht Geheimes Deutschland, wie es jetzt vorliegt, wie es entstanden ist in einer vermutlich langen Inkubationszeit, nicht verstehen ohne die Wendung, die Georgenach 1900 nimmt. Er hat noch 1902 ein Gedicht gegen Bismarck – Der Preuße – in einer Lesung im Salon Lepsius in Berlin vorgetragen, er hat dieses Bismarck-Gedicht immer bei sich getragen, bis zuletzt in Minusio, seinem Sterbeort am Luganer See. Da hieß es:
In des ehrwürdig römischen kaisertumes
Sandgrube dieses reich gebaut, als mitte
Die kalte stadt von heer- und handelsknechten/
Und herold wurdest seelloser jahrzehnte
Von habgier feilem sinn und hohlem glanz?
George hat diesen Text aber nie publiziert, obwohl es ein Zeitgedicht ist und in die Reihe der Zeitgedichte gepasst hätte, mit denen ‚Der siebente Ring’ (1907) eröffnet wird.
Mit dem geheimen Deutschland unterscheidet sich George ja gerade von aller Pauschalkritik am und des ‚Deutschen’ schlechthin. Er würde niemals gegen ‚die Deutschen’ klagen (wie noch Nietzsche), sondern immer nur gegen die, die – wirklich oder vermeintlich – ihre Zeit imperial repräsentieren oder sich national für repräsentativ halten. Gegen diese Deutschen und deren ‚Deutschland’ hat George seine Kritik an den deutschen Verhältnissen ausgesprochen, währenddessen er der Auffassung war, dass die Deutschen ein zutiefst leidendes Volk in ihrer Geschichte gewesen sind. Das meint nicht nur die religiöse Spaltung, die auf deutschen Boden durch die Reformation entstand – mönchezank [Stefan George] – und die anschließenden provinzialisierenden Glaubenskriege. Auf diesem Wege ist den Deutschen dann jeglicher europäische Gedanke ausgetrieben worden, und um 1900 war sozusagen ein nationalpolitischer Höhepunkt in dieser Fehlentwicklung erreicht. Das preußisch-deutsche Reich, der mit Bismarcks Name verbundene Nationalstaat militärisch-industrieller Prägung wurde mit Attributen einer großen Vergangenheit geschmückt, die zum bloßen Reliquienkult verkamen. Was einmal geschichtliche Wahrheit war, das universelle Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, geriet zur Lebenslüge.
George wollte den Bismarckstaat m Namen eines ‚geheimen Deutschland’ rekultivieren. Eine Deutschland und einer Reichsidee, die alle auf seinem Geschichtsboden entstandenen Überlieferungen von Antike, Christentum und Humanismus bis hin zur Klassik in sich schloss. – Und er sah nun am Ausgang seines Lebens (1933) einen neuen Usurpator aufsteigen, der selber auch eine deutsche Fehlentwicklung beklagte und sich (in einem Brief an Artur Dinter, v. 25. Juli 1928) als Kämpfer für ein anderes Deutschland bekannte.
2.
Man muß also genau zwischen dem anderen Deutschland und dem geheimen Deutschland unterscheiden.
Das ‚andere’ ist der Gegenbegriff zum ‚geheimen Deutschland’. Das aber ist ein Schlüsselwort konservativer Bismarck-Opponenten, um das zur Sprache zu bringen, was durch den modernen Nationalstaat verschwiegen wurde: den europäischen Grundzug deutscher Vergangenheit, ein Verschiedenes von gleicher Art, das über die Jahrhunderte hinweg geistig identitätsstiftend wirkte. Das ist der Gedanke des Universalen, auf dem die Reihe der mittelalterlichen Kaiser aufbaute, die die Herrschaft nicht um der Herrschaft willen anstrebten, sondern die diese Herrschaft zu beglaubigen suchten durch die Kaiserkrönung in Rom. Das aber war keine historisierende Staffage, sondern die Idee, das Geistige und das Mächtige zu einer neuen Synthese zu bringen. Aus Rom kommt dann eben nicht bloß – wie im alten römischen Reich – ein neuer Cäsar, sondern ein Neues Recht, dem die Idee der Gewaltenteilung innewohnt. Damit ist aber eine neue europäische Verfassungskultur befördert – und so ist aus dieser Reichsidee Deutschlands die Bedingung der Möglichkeit eines neuen Europa identifizierbar.
Das ‚andere’ Deutschland ist später entstanden – inmitten des europäischen Bürgerkrieges. Bei dieser Zukunftsidee – gewissermaßen einer ‚Gegenzukunft’ –überspringen ihre jeweiligen Wortführer sozusagen die geschichtliche Lebens- & Seelenlage bzw. dasHerkommen Deutschlands. Die linksextreme Seite versprach sich von der sozialen Revolution, dass Unterschiede unter Menschen und Völkern einmal vollständig verschwinden und eine natürliche Verbrüderung Aller eintreten würde. Die extremistische Rechte wollte ebenfalls als ‚das Andere’ diese natürliche Verbrüderung, allerdings für nur eine einzige Gruppe, das sogenannte ‚eigene’ Volk erreichen.
Und so bleibt die – lange unverstanden gebliebene – Tat des George-Schülers Stauffenberg bzw. dessen geistiger Hintergrund für uns hierbei ein tragisches wie hoffnungsvolles Symbol für das Hochhalten dieser europäischen Dimension im Deutschen. (an diesem deutschen Wesen könnte die Welt genesen! … um das missbrauchte Geibelwort von 1861 zu variieren).
Worin bestand diese europäische Dimension in Georges Gedicht?
Zunächst: Es ist zu begreifen als europäischer Warnruf. Ein Ruf allerdings, der sich nicht bloß gegen politische Partikularitäten (preußisch-deutscher Provienenz) richtet, sondern gegen den die alteuropäische Kultur ruinierenden Vomarsch einer industriell-imperialen Moderne. Sie hatte augenfällig Verwahrlosung von Erde, Geist und Politik im Gefolge.Das, was Max Weber die Entzauberung der Welt nannte, ist auch der eigentliche Hintergrund jenes Gedichts von George.
Wo hinter massloser wände
Hässlichen zellen ein irrsinn
Grad erfand was schon morgen
Weiteste weite vergiftet
Bis in wüsten die reitschar
Bis in jurten den senn.
George wurde dafür sensibilisiert u. a. im Umkreis von französischen Dichtern seiner Gegenwart. Die empfanden sich als Außenseiter der damaligen modernen Erwerbs- und Wohlstandsgesellschaft. Sie trafen sich sehr privat in kleinen Salons, wo sie sich ihre Gedichte vorlasen und über Zeit und Ewigkeit diskutieren. Von hier hatte George den Einfall, dass befreiende Gedanken niemals aus offiziellen Milieus kommen können, sondern nur aus gewissermaßen geheimen Zirkeln. In ihnen allein kann, im Geheimen, auch etwas Reines entstehen.
Man könne beispielsweise, so Georges Wahrnehmung, von der europäischen Seele nur etwas wahrnehmen, wenn man sie – wie am Anfang bei den Orphikern – ‚singen’ ließe. Und George hat sie ‚singen’ gehört bei den französischen Nachbarn. Vor allem anderen bei Mallarmé! Das hängt mit der Auffassung Georges vom Primat des Lyrischen (das Dichterische überhaupt) zusammen. Man kann hier George bis auf Platon zurückführen. Der war ja der Auffassung, es wird nicht besser mit der Einsicht in die Natur der Dingen, ehe nicht die Philosophen herrschen oder die Herrscher philosophieren. Denn das leisten weder Dichter, die als Tragödienschreiber bloß immer über die heillosen Weltzustände jammern, noch die Epiker, die ständig aufs Neue Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen darstellen. Allein die Lyriker verfügen über eine authentische Stimme des Wahren, weil sie den Ideen am nächsten sind. Die bleiben dann auch dem platonischen Staatsverband erhalten (anders als die Dichter). Denn bleiben muß der Gesang vom Göttlichen im und durch den Menschen. Das eben kann nur der Eidetiker, der schaut und im Schauen singt. – Und es war (der eingangs zitierte) Ortega y Gasset, der von Mallarmé’s Dichtung gesagt hat, sie bestünde „im Verschweigen des unmittelbaren Namens der Dinge, der dadurch zu einem köstlichen Rätsel wird.“[11]
Und umgekehrt sahen die jungen Dichter aus dem Pariser Kreis um Mallarmé (1890) in Stefan George, der ja als einziger Deutscher dazugehörte, den neuen Sänger des – vorerst noch geheimen – wahren Deutschland.Er ist ihnen der geistige Bote eines anderen Deutschlands als des Machtdeutschlands, das die Franzosen jüngst unterworfen hatte.
So ist also die Idee eines George-Kreises entstanden aus der (französischen) Wahrnehmung von George als Dichter des – noch – geheimen Deutschland. Von dort her kamen die ersten Impulse. Die Kreisbildung setzte in der uns bekannten Form dann ein nach der Ablehnung Hugo v. Hofmannsthals, gemeinsam eine neue Dichter-Herrschaft und ein Reich des Geistes zu gründen.
In allmählicher Abkehr auch vom Mallarmé-Kreis sucht nun George Vorbilder im eigenen Lande und er gibt bald nachhaltig der Italiensehnsucht nach, die einst deutsche Herrscher und dann Gelehrte, Künstler, Denker von Winckelmann über Goethe, Lessing, Herder bis hin zu Nietzsche nach dem Süden zog, um sich vor nördlich nebelhaften Albträumen zu retten.
3.
Wie ist nun Stauffenberg in den Bann des ‚Geheimen’ Deutschland geraten?
Vom geheimen Deutschland spricht der Kreis seit 1910. Es war Karl Wolfskehl, der diese Wendung in den „Jahrbüchern für die geistige Bewegung“ geprägt hatte. Von Anfang an musste sie gegen die Kontamination mit dem Patriotismus geschützt werden. Gegen ihre Einvernahme im Dienst deutsch-nationaler Massenbewegung, besonders im Ersten Weltkrieg, hat sich aus dem Kreis vor allem der Hölderlin-Herausgeber Norbert v. Hellingrath (er dann auch ein frühes Opfer des Krieges) verdient gemacht. In seinem Text „Hölderlin und die Deutschen“ nennt er die Deutschen überraschend ‚Volk Hölderlins’, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, dass sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlackenkruste … nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt.
Nach dem Krieg (1923) werden Stefan George die Brüder Stauffenberg vorgestellt. Einer aus dem Kreis, der Marburger Literaturwissenschaftler Max Kommerell, wird der Mentor von Claus Graf Stauffenberg. Im darauffolgenden Frühjahr 1924 reisen einige Mitglieder des Kreises zusammen mit den Stauffenberg-Brüdern nach Italien. In Palermo besuchen sie den Palazzo Reale, wo der Hohenstaufer Friedrich II. – der erste Europäer (Nietzsche) – seine Kindheit verbrachte, und den Dom, wo er nach langer, turbulenter Regierungszeit seine letzte Ruhestätte fand. Hier legten sie, wahrscheinlich einer Inspiration Kantorowiczs folgend, einen Kranz nieder mit der Inschrift Seinen Kaisern und Helden / Das Geheime Deutschland.
Claus Graf Stauffenberg jedenfalls bleibt im intensiven Kontakt mit dem Meister. Ein Briefwechsel beginnt und es kommt erneut zu persönlichen Kontakten; von einer solchen Begegnung in Berlin ist auch eine (die einzige) Fotographie überliefert, die beide in einer Schüler-Lehrer-Pose zeigt.
Nach seinem Abitur (1926) entscheidet sich Claus für eine Offizierslaufbahn bei der Reichswehr. Als Soldat besucht er mehrmals im Jahr George und er nimmt an Dichterlesungen des Kreises teil. Die wichtigste Begegnung findet nach dem Erscheinen von Georges letztem Gedichtband Das neue Reich statt. Das war Herbst 1928 im Berliner Atelier des Bildhauers Thormaelen. Zum Vortrag kamen Kommerells Wiedergeburts-Dialoge, etwas von Hölderlin und Goethe, sowie dann der Meister selber mit Die Winke, Burg Falkenstein und schließlich Geheimes Deutschland. Kurz danach verlässt Kommerell den Kreis, Stauffenberg muß die Kontakte zu ihm abbrechen. Der neue Mentor aus dem Kreis wird der Bildhauer Frank Mehnert (er starb 1943). Ihm stand er dann 1934 Modell für eine Büste.
Inzwischen machten die drei Stauffenbergs Karriere: Alexander wird Geschichtsprofessor, Berthold geht an den Internationalen Gerichtshof nach den Haag und Claus wird Hauptmann im Generalstab. Sie dienen insgeheim dem inneren Staat, wie George im Anschluß an eine platonische Unterscheidung zwischen ‚wirklicher’ und ‚idealer’ Bürgerverfassung das geheime Deutschland nannte.
Ein Jahr vor dem Attentat nimmt Stauffenberg Kontakt zu einem in Athen lehrenden Georgeaner auf, den Germanistikprofessor R. Fahrner. Der hatte nach Gundolfs überraschendem Tod (1931) kurzfristig dessen Heidelberger Ordinariat übernommen, wurde dann aber schnell wieder wegen oppositioneller Tätigkeit entlassen. In den Gesprächen dieser beiden letzten in Deutschland verbliebenen bedeutenden George-Schülern haben wir so etwas wie ein politisches Testament aus dem Geiste Georges vorliegen.
Im Nationalsozialismus war eine Lebensform vorgeschrieben, vor der Stefan George immer gewarnt hatte: ein glaubensförmiges Weltanschauungsdiktat, die Ersetzung von natürlich Gewachsenem durch künstlich Organisiertes, gewaltsame Unterwerfung vs. Gefolgschaft, geistlose Herrschaftschoreographien, imperiale Imitate.
Die Gespräche mit Fahrner betrafen angesichts kommender europäischer Umbrüche dreierlei: dass menschliche Existenz im Staat ohne Bindung an Transzendentes nicht gedeihen könne, dass eine Einigung europäischer Völker tatsächlich gelingen könne, und schließlich, dass eine instrumentale Vernunft (Technik, Industrie) ihre Funktion als Mittel sich nicht mit dem Zweck des Menschen ineins setzen dürfe.
Diese Verschwörergruppe sah nach dem Sturz Hitlers und dem Ende des Krieges erstmals lange nicht dagewesene Möglichkeiten zu großen, nicht national-selbstsüchtigen Veränderungen.
Im Juni 1944 hatte Stauffenberg an Fahrner die programmatische Aufgabe übertragen, einen Aufruf an das deutsche Volk zu verfassen, der Grundzüge einer neuen grundgesetzlichen Ordnung im zerstörten Reich vermitteln sollte. Dieser Text spielte dann noch eine Rolle in Goerdelers Prozeß vor dem Freisler-Tribunal. Zum Abschied übergab Fahrner an Stauffenberg einen Siegelring mit der Inschrift Finis Initium, ganz nach Georges Dichterbekenntnis (aus Der Stern des Bundes): Ich bin ein end und ein beginn.
Die Arbeit Fahrners mündet in ein ‚Glaubensbekenntnis’, mit dem Stauffenberg die geistig ganz unterschiedlichen Oppositionskreise auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner verpflichten wollte. Es heißt da: 1. Wir glauben an die Zukunft der Deutschen. 2. Wir wissen im Deutschen die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen. 3. Wir bekennen uns in Geist und Tat zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenistischer und christlicher Ursprünge im germanischen Wesen das abendländische Menschentum schuf.
Man möge das für einen altfränkischen Text halten, gerade auch wenn man ihn mit Ernst Jüngers Friedensschrift aus demselben Jahr vergliche. Zumal es im Glaubensbekenntnis noch einen weiteren Satz gab, in dem es heißt: 4. Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht … verachten aber die Gleichheitslüge und fordern die Anerkennung der naturgegebenen Ränge.
Die meisten Hitler-Gegner außerhalb einer parlamentarischen Parteienkulturwaren Patrioten innerhalb der Grenzen der Bismarckschen Reichsgründung, ohne sich wie Stauffenberg mit George auf universelle Wirkungszusammenhänge einer vornationalen Reichstradition zu berufen. Deshalb auch dieser Bekenntnisvorbehalt in Satz 4 angesichts anzustrebender Rechtsgleichheit. Stauffenberg war namentlich mit dieser Schlusswendung auch nicht recht einverstanden.
Man wird das alles – mit George übrigens – als zu wenig von südlichem Atem belebt finden, die Deutschen seien eben – fern von ihrem geheimen Deutschland –, wie der Meister in Burg Falkenstein schrieb, selten heimisch bei sich und stets ohne Freude und Freiheitsdrang zu Werke gegangen.
Kurzum: Man wird also Stauffenbergs poetisch-lyrischem Handlungsüberschuss ein Defizit an politischer Urteilskraft beruhigt nachsehen können?
Was können, so hatte der junge Stauffenberg gefragt, dem öffentlich handelnden Menschen Dinge und Tatsachensein, wenn er doch erst durch den Dichter sehend und für ihren Anblick sensibel werden? Dennindem der Dichter Verborgenes zur Sprache bringt, vertieft er die Anschauung und weckt die geistige Sensibilität der ihm Nächsten aus seinem Umkreis, damit sie selber Wahres von Schein, Lebendiges von Totem unterscheiden lernen und das Geheimnis der Überlieferung gewahren. Darin besteht der Schlüssel zum Verständnis des Gedichts Geheimes Deutschland, an dessen Ende der Dichter die Dazugehörigen als ‚Brüder’ anredet:
Wer denn – wer von euch brüdern
Zweifelt – schrickt nicht beim mahnwort
Dass was meist ihr emporhebt
Dass was meist heut euch wert dünkt
Faules laub ist im herbstwind
Endes- und todesbereich: …
Wunder undeutbar für heut
Geschick wird des kommenden tages.
III.
Europa
Das Geheime Deutschland hat sich von allem Anfang an um europäische Auswege aus nationalen oder mentalen Sackgassen bemüht. Natürlich war man auch europäischerseits für die Gegenwart ziemlich skeptisch: „Für Europa ist keine Hoffnung, wenn wir nicht den Herzschlag der ganzen historischen Vergangenheit spüren, die gegenwärtige Höhe des Lebens kennen und jede archaische und primitive Gebärde verabscheuen.“[12] Der das gesagt hat, Don José Ortega y Gasset, war exemplarisch, mit Leib und Seele Europäer. Und einer, der Deutschland fast seine ganze geistige Existenz verdankt.Europa lag ihm, nach eigener Bekundung, viel näher als Spanien. Jede Nation, so forderte er, müsse aus ihrem tibetanischen Schlaf aufgeweckt werden, um – wenn sie überleben wolle – den Weg nach Europa zu beschreiten. Doch dieser Weg sei gegenwärtig eher im Dunklen. – Ortega nämlich wollte natürlich mit seiner kritischen Wahrnehmung der westlichen Moderne in keiner Weise eine billige Panik verbreiten, wie das noch von Oswald Spengler in Erinnerung und auch andernorts angesagt war.
Als am Ende des Großen Krieges die kontinentalen Monarchien Europas verschwanden, entstanden zwei Strategien, um Europa vor ‚der falschen Morgenröte des Nationalismus’ (Thomas Mann), vor den ‚Nationalen Derwischen’ (Oscar Levy) zu bewahren: Anfang 1919 wurde in Moskau die ‚Kommunistische Internationale’ gegründet und Ortega y Gasset entwickelte seine Idee eines ‚europäischen Hauses’. Beide geraten natürlich sofort in einen praktisch-geistigen Konflikt über den jeweiligen Umgang mit der Freiheit des Menschen. An dieser Frage aber werden sich generell Erfolg oder Scheitern des Zusammenlebens in Europa entscheiden.
Wäre aber angesichts des Bolschewismus nicht doch europäische Skepsis angesagt? – zumal, wie Ortega es auch bei den Gegnern des Bolschewismus wahrnahm: „Europa glaubt an keine sittliche Normen mehr.“[13]
Aber: der Bolschewismus (eine der großen Massensuggestionen der Gegenwart), so schrieb Ortega bereits 1919, ist mit seiner herrschaftlichen und geistigen Verfassung „außereuropäisch; und gehört samt den Elefanten und der Theokratie der asiatischen Fauna an.“[14] Hier sah er zwar eine Sackgasse, aber – anders als viele andere – doch keine Katastrophe für Europa. Ähnlich wie (überraschenderweise) Trotzki prophezeite er sogar das Ende der Zeit kommunistischer Revolutionen, denn die Idee der Befreiung, mit der man 1917 angetreten war, hatte sich schon ein Jahrzehnt später im politischen Terror erschöpft und war – als ‚geschlossener Handelsstaat’ – weltwirtschaftlich ohne Perspektive.
Diese Befreiungsidee war gegenaufklärerisch und europäisch nicht assimilierbar, sowohl aus geistigen Gründen als auch wegen fehlender Massenakzeptanz. Und diese ‚Sowjetherrschaft’ war auch nicht (wie die Jahre 1920 vor Warschau, und 1923 der ‚Deutsche Oktober, zeigten) gewaltsam nach Europa exportierbar, bzw. wie wir selber (1949 – 1989) erfahren mussten, konnte und wollte sie sich einfach nicht an europäisch akzeptierte (individuelle wie politische) Lebensformen anverwandeln.
Eine wirkliche Gefahr, die Ortega empfunden hat, wäre die Einebnung der geschichtlichen Vielfalt in die Eine Welt. – Er forderte deshalb ein Nachdenken über zivilisatorische Werte, die das Individuum und seine Privatheit zu stärken in der Lage seien. Es seien Rechte, Pflichten und soziale wie geistige Hierachien als Quellen wieder freizulegen, aus denen Europa einst geworden sei.
Die von ihm als entropisch wahrgenommenen Prozesse eines überbordenden Egalitarismus führen seiner Ansicht nach zur Negation von Gesellschaft zugunsten einer längst obsolet gewordenen Idee von Gemeinschaft. „Diese Gemeinschaft denkt und handelt für den einzelnen, und zwar eher aus konditionierten Reflexen heraus – Emotionen, Instinkten, Leidenschaften – als aus Vernunft.“[15]
Ortega akzentuiert also gegenüber der Wirklichkeit des Massenmenschen (als eines „geschichtsleeren“[16] Menschen) die Praxis der Personalität.
Als politisch besonders negative Folgeerscheinung dieses Vermassungsprozesses macht Ortega, wie schon erwähnt, jeglichen Nationalismus namhaft. Nationalismus[17] bedeutet immer schon eine spirituelle Verirrung. Aber auch dessen einfache Negation, so wie das seit den Zwanzigern mit transnationalen Politikentwürfen versucht wurde, stieß auf Ortegas Ablehnung.
So sah er im ‚Völkerbund’ eine große fiktionale Veranstaltung zur (machtpolitischen) Inanspruchnahme von Rechten, die überhaupt noch nicht allgemeinverbindlich, d.i. nicht existent waren; mehr noch, er befürchtete, daß darunter die Idee des Rechts als hoher Wert selber in Verruf geraten könnte. Die Menschen aber, so Ortega, brauchen „ein dynamisches, plastisches, in Bewegung befindliches Recht, das der Geschichte in ihren Wandlungen zu folgen vermag.“[18]
Die Idee des Völkerbundes sei keineswegs schon kosmopolitisch, sondern höchstens internationalistisch zu nennen.
Worin sah Ortega y Gasset die Hauptbedrohungen für die Idee und Realität ‚Europa’ damals? In drei Sachverhalten:
a. in der Überspannung des Bogens staatlicher Einmischung und Macht,
b. im Regulieren jedweder sozialen Spontanität und
c. im Trend zur Verstaatlichung des gesellschaftlichen Lebens.
Seine Prognose für die Zukunft Europas? In fünfzig Jahren werde Europa von Finanzleuten und Advokaten regiert!
Die Hoffnung Ortegas für ein Europa jenseits von Nationalsozialismus und Kommunismus drückt sich in seinem Diktum aus: „Die Politik des schmeichlerischen Umgangs mit den Massen, mit jedweder Masse, muß in Europa ihrem Ende entgegen“[19] gehen.
[1] Vgl. Junges Spanien, hg. v. Werner Krauss, Mönchengladbach/Köln 1925, 96 S.
[2] José Ortega y Gasset, Das zweigeteilte Deutschland [in: El Imparcial, 19. Jan. 1908], erstmals neu abgedruckt in: Sondeur [Berlin], Nr. 9/1990, Dez.-Heft, S. 3.
[3] Ibid. S. 3.
[4] Friedrich Hölderlin, Hyperion, Sämtl. Werke u. Briefe, Bd. 2, 262).
[5] Friedrich Hölderlin, Der Rhein. Sämtl. Werke u. Briefe, hg. v. Günter Mieth, Bd. 1, Berlin/Weimar 1970, 458
[6] Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 764, ed. v. Max Hecker, Weimar 1907, S. 170 f.
[7] Friedrich Hölderlin, Mnemosyne [Erste Fass.]. a.a.O., Bd. 1, 495.
[8] Ernst Jünger, Siebzig verweht IV [Eintrag v. 10. Nov. 1989], Stuttgart 1995, 382.
[9] Ernst Robert Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, Frankfurt/M. 1984, S. 284.
[10] Vgl. auch Friedrich Glum, Das geheime Deutschland – Die Aristokratie der demokratischen Gesinnung, Berlin 1930, und seinen Roman:Friedrich Viga [d.i. Friedrich Glum], Die Rolltreppe, München 1960.
[11] José Ortega y Gasset, Mallarmé, in: ders., Ästhetik in der Strassenbahn, hg. v. Karlheinz Barck u. Steffen Dietzsch, Berlin 1987, S. 144.
[12] José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, a.a.O., S. 158.
[13] Ibid., S. 255.
[14] José Ortega y Gasset, Angesichts der sozialen Bewegung, GW, 5, 195.
[15] Mario Vargas Llosa, Europa wird die Ultranation sein, in: FAZ, Nr. 21, v. Mi., d. 25. Januar 2006, S. 40.
[16] José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen. Geleitwort für Franzosen, a.a.O., S. 273.
[17] Den wollte er immer vom Volksgeist unterschieden wissen (vgl. José Ortega y Gasset, Eine Interpretation der Weltgeschichte, Münschen 1964, S. 276 ff)..
[18] José Ortega y Gasset, Zum Thema Pazifismus, GW, 3, 172.
[19] José Ortega y Gasset, Es lebe die Republik! GW, 5, 311.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.