Von der Anonymität zur Persönlichkeit

Prachtvoll und Weg weisend: Anton Legner über die Künstler im Mittelalter

Was für ein Mensch mag die Nonne Guda wohl gewesen sein? Sie selbst beschreibt sich auf dem kunstvoll in die Initiale D eingezeichneten Schriftband als „peccatrix mulier“, als sündiges Weib. Doch wer sie betrachtet, wird das kaum glauben wollen. Selbstbewusst mutet die Körperhaltung der frommen Frau an, die aus dem Buchstaben herausblickt und den Betrachtern auf dem lateinisch gefassten Schriftzug innerhalb der Initiale mitteilt, dass sie dieses Buch gemalt und geschrieben hat. Das D, in das sie eingezeichnet ist, steht für „Dominus“ (Herr) und drückt die Vorstellung aus, dass das Bild der Nonne Guda in Gott ruht. Zudem verbindet sie mit dieser Darstellung die Hoffnung, dass diejenigen, die diese Mitteilung lesen, sie ins Gebet einbeziehen.
Eine souveräne Haltung nehmen auch die Vier Gekrönten ein. Möglicherweise tragen die vier Statuetten, die einst am Epitaph des Kölner Dombaumeisters Nikolaus von Büren standen, die Gesichtszüge damaliger Arbeiters, etwa eines Poliers, Baumeisters, Steinmetzen und Bildhauers. Die „Quattro Coronati“ – Identifikationsfiguren der Baumeister und Steinmetze – würden nicht nur als Schutzpatrone am Grabmal des Verstorbenen stehen, sondern zugleich als trauernde Gesellschaft der Dombauhütte.
Diese beiden Beispiele illustrieren nur einen kleinen Ausschnitt über das Selbstverständnis der Menschen im Mittelalter, die Kunst machten. „Artifex“ wurde der mittelalterliche Kunstschaffende genannt, der sich – so die weithin verbreitete Meinung – hinter sein Werk zurückzog, seine Tätigkeit in der Anonymität vollzog und allein zur Ehre Gottes arbeitete. Doch Anton Legner widerlegt in seinem Buch „Der artifex. Künstler im Mittelalter und ihre Selbstdarstellung“ diese Ansicht und kommt in seinem ebenso großartigen wie opulenten Werk zu dem Befund: „Die artifices im Mittelalter waren zu ihrer Zeit keine anonymen Wesen. Nur ihre Spuren gingen verloren.“ Legner, langjähriger Direktor des Museum Schnütgen in Köln, hat seit seiner Verabschiedung „dankbar 20 Jahre geschenkte Ruhezeit“ genutzt, um diese Spuren mit frappierender Kompetenz und beeindruckender Kenntnis bis in die kleinsten Hinweise und Details freizulegen, zu identifizieren und zu interpretieren. In dem reich bebilderten, üppig ausgestatten Prachtband schlägt er einen Bogen von einem Magister des achten Jahrhunderts, der die Krone des ewigen Lebens empfängt, bis hin zu der bewussten christusähnlichen Selbstdarstellung eines Albrecht Dürer.
Spuren in ihren Werken hinterließen die Künstler beispielsweise in den Initialen von Handschriften, in Randleisten von Buchseiten, in Kirchenportalen oder in Kreuzgängen. So verewigte sich beispielsweise der Bildhauer Micaelis am Kirchenportal in Revilla de Santullan als Gast beim Letzten Abendmahl. Zu nennen sind aber auch die Darstellungen, in denen der Künstler und sein Handwerk selbst Gegenstand sind, etwa das detailreiche und farbenfrohe Bild, das Jean Bourdichon um 1500 über den Tischler in seiner Werkstatt malte. Anton Legner beschreibt die artifeces als „Geschöpfe aus Fleisch und Blut“. In ihrer Zeit waren sie geschätzt, geachtet, oftmals berühmt und gerieten auch manches Mal mit der Obrigkeit in schmerzhaften Konflikt – siehe etwa Veit Stoß oder Tilman Riemenschneider. Auf solche Realitäten ihrer Epoche, mehr noch aber auf die in den Lebenszeiten der Künstler bestimmende Blickrichtung der Spiritualität richtet Legner seine Perspektive. Der Autor spürt dem Selbstverständnis nach, dass der Artifex in Inschriften und Signaturen ausdrückt, er ordnet dessen Erwartungen und Hoffnungen, wenn sich der Künstler in seinen Selbstdarstellungen ebenso in die Gesellschaft der Heiligen wie auch der Irdischen, der Lebenden und der Toten einordnet.

In 21 Kapiteln stellt Legner den mittelalterlichen Künstler in unterschiedlichen Zusammenhängen vor: etwa in seiner Beziehung zum Ruhm der Welt, etwa im Umgang mit Tod und Teufel, etwa in Gebet, Donation und Devotion, aber etwa auch mit Bezug auf Komik und Witz, seine Arbeitswelt oder auch seine Umgangsformen. Als wissenschaftlicher Apparat runden Anmerkungen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, Bildnachweise sowie ein Personen- und Ortsregister runden den über 750 Seiten umfassenden Prachtband mit seinen fast 1000 Abbildungen ab, den der Greven Verlag Köln verlegt hat. Ein bemerkenswerter Umstand, denn bislang ist das traditionsreiche Unternehmen vor allem als Adressbuchverlag sowie mit der Visitenkarte für Bücher zu Köln und dem Rheinland in Erscheinung getreten. Dass der Verlag, der nach eigenen Angaben über keine Kunsthistoriker oder Museumsexperten verfügt, eine derart faszinierende, groß und großartig angelegte Studie als Kunst- und Kirchenbuch herausgibt, erweist sich als wunderbare Fügung. Denn durch diese externe, ja fast unverstellte und unbelastete Sicht ist ein frisches, sinnenfreudiges Werk entstanden, das sich eben nicht nur an die Spezialisten und Kunstkenner richtet, sondern gleichsam allen interessierten Laien empfohlen werden kann.
„Anton Legner macht mit diesem Werk, die Summe eines Lebens, deutlich, dass die mittelalterlichen Künstler keine Nummern waren, sondern Schöpfer, die unser Europa gestaltet haben“, würdigte der Kustos des österreichischen Benediktinerstifts Göttweig, Gregor Lechner, das Buch und den Autor bei der Vorstellung dieses epochalen Standradwerks. Ein „kostbares Kind“ habe Legner aus der Taufe gehoben, so Pater Gregor, und hob besonders die Ausführungen über die Signatur der Künstler hervor. „Die Signatur ist nicht nur ein Schriftzug, sondern ein Porträt: Da spricht der lebende Künstler.“ Die bisher verbreitete Ansicht von der Anonymität der mittelalterlichen Künstler sieht auch der renommierte Kunsthistoriker Gregor Lechner in der Überlieferung und in „immensen Dokumentationslücken“ begründet.
Diese Lücken zu schließen und die Anonymität des individuellen Künstlers in vielen Fällen durch das Bild einer Persönlichkeit zu ersetzen, ist das große Verdienst vom „Legner“, wie sich dieses Weg weisende und Maßstäbe setzende Werk sicherlich auch bezeichnen lässt. Weil Legner aber nicht nur das Bild vom Selbstverständnis und der Selbstdarstellung der Künstler im Mittelalter zeichnet, sondern auch die starren Epochenbegriffe einer scharfsinnigen Analyse unterzieht, kommen die Leser schließlich durch die Rückbezüge auf die Antike einerseits sowie die Ausblicke auf spätere Epochen bis hin in die Gegenwart andererseits mit dem Autor zu der überraschenden und doch so einleuchtendem Erkenntnis, dass „das Mittelalter in der Neuzeit nie aufgehört und die Neuzeit im Mittelalter immer schon begonnen (habe)“.

Anton Legner: Der artifex. Künstler im Mittelalter und ihre Selbstdarstellung. Greven Verlag. 758 Seiten, Format 24 x 31 cm, Leinen mit Schutzumschlag und Schmuckschuber, 128 Euro. ISBN 978-3-7743-0420-8

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Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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