Es gibt gute und schlechte Freunde. Nachdem mich jemand überredet hatte, eine Glosse über das Thema »Work Life Balance« zu schreiben, war ich nach einer Weile überzeugt, es habe sich um einen Freund der letzteren Sorte gehandelt: Von Stund an ging es mir jedenfalls so miserabel wie dem bärtigen Mann in der bekannten Geschichte, der, nachdem ihn jemand gefragt hatte, ob sein Bart beim Schlafen über oder unter der Bettdecke liege, kein Auge mehr zu tun konnte. Ich lebte sozusagen nach dem frei nach Heine formulierten Motto »Denk ich an Work-Life in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht«. Und »Nicht nur bei Nacht, nein: auch bei Tage quält mich bohrend diese Frage«. Welche Frage? Nun eben die: Arbeite ich, wenn ich über Work Life Balance nachdenke, oder lebe ich? Und was bedeutet eigentlich »Work«, was »Life« und insbesondere: Was bedeutet »Balance«?
Off balance
Waren mir das eine, das andere und das dritte zuvor noch einigermaßen klar gewesen, so begann nun altes zu verschwimmen: Handelt es sich bei der disziplinen- und branchenübergreifenden Haupttätigkeit in jedem Büro, beim Kaffeetrinken nämlich, um Arbeit oder um Leben? Oder verläuft die Trennlinie entlang der Differenz von Routine und Genuss – vielleicht so, dass Filterkaffeetrinken Arbeit und Espressotrinken Leben wäre? Und sind Arbeit und Leben überhaupt Gegensätze, und wenn ja: sind es solche, die es in ein Gleichgewicht zu bringen gilt? Ist es nicht eher so, wie uns die protestantische Arbeitsethik lehrt: dass nämlich der Gegenbegriff zu »Arbeit« »Müßiggang« heißt und dass Müßiggang, wie das Sprichwort weiß, »aller Laster Anfang« ist? So dass es eben gerade nicht um ein Gleichgewicht geht, denn was sollte das denn schon sein, ein Gleichgewicht von Laster und Tugend?
Und so ging es mir wie Goethes Gretchen: Meine Ruhe war hin. Hatte ich vielleicht früher ab und zu – eher versehentlich – die Balance von Arbeiten und Leben gefunden, so war ich jetzt völlig »off balance«. Ich versuchte es auf Biegen und Brechen; es müsste doch – so sagte ich zu mir selbst – mit dem Teufel zugehen, wenn ich als Mensch nicht für mich herausfinden oder mindestens doch als Philosoph anderen erzählen könnte, was es mit der Work Life Balance auf sich hat! Und so ritt ich mich immer tiefer hinein.
War es ein Freund, der mich zuerst angestiftet hatte, so war es nun mein Sohn, der mir einen ersten Ausweg wies: Es sei doch sicher schön für mich, bemerkte er maliziös, einmal über etwas zu schreiben, wovon ich nichts, aber auch rein gar nichts verstünde. Ja, so frohlockte ich, das ist das Licht am Ende des Tunnels! Bis dahin hatte ich immer gedacht, die Lösung des Problems der Work Life Balance müsse in einer Übereinstimmung meiner theoretischen Erklärungen und meiner praktischen Lebensführung liegen; ich müsse also selbst das beispielhaft balancierte Leben eines Äquilibriums zwischen Arbeit und Leben führen, sonst sei es um meine Glaubwürdigkeit geschehen. Erneut mithilfe einer Spruchweisheit ausgedrückt: Wasser zu predigen und Wein zu trinken, sei unverträglich.
Der trockene Workaholic
Die verzweifelte Suche nach solchen, wie der Philosoph sich ausdrückt, »pragmatischen Selbstwidersprüchen« trieb, wenn auch nicht die internationale Welt, so doch die deutsche Weltweisheit Jahrhunderte lang um. Indessen handelt es sich dabei um nicht mehr (aber auch um nicht weniger!) als ein rationalistisches Phantom. Was soll daran so schlimm sein, wenn ein Alkoholiker Abstinenz predigt? Wirkt er nicht umso glaubwürdiger? Und warum, so sagte ich mir, sollte das nicht auch für Workaholics gelten? Sollte nicht vielleicht jemand, der ganz offenkundig den »Life«-Pol dem »Work«-Pol unterordnet, der beste Advokat einer der seinigen diametral entgegen gesetzten Lebensphilosophie sein? Allerdings – so könnte man einwenden – müsste er dazu gleichsam als reuiger Sünder auftreten, als einer, der dem »Workaholismus« abgeschworen hat. Aber was wäre dann eigentlich seine Position?
Es könnte sich um jemanden handeln – nennen wir ihn einmal einen »trockenen Workaholic« –, der sich (und anderen) sagt, es gehe darum, Ober all dem Arbeiten das Lehen nicht zu vergessen. »Lebst Du eigentlich wirklich nur, um zu arbeiten, oder arbeitest Du nicht vielmehr, um zu leben?«, so könnte unser »trockener Workaholic« sich (und andere) fragen. Oder in aller IKEA-Kürze: »Arbeitest Du noch, oder lebst Du schon?« Und die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Allerdings scheint das nur so, denn es zeigt sich schon bald, dass diese Frage und die darin scheinbar implizierte Antwort eben nur für den »Workaholic« überhaupt Sinn macht. Man möge sich nur einmal vorstellen, sie würde von jemandem gestellt, der faul und arbeitsscheu ist. Oder auch nur von jemandem, der sich immer und regelmäßig um die Fragen jenseits des Arbeitslebens gekümmert hat. Die Aufforderung etwa an einen guten Familienvater oder gar einen Alleinerziehenden, er möge sich gefälligst etwas mehr um die Arbeit und weniger um die Kinder kümmern, kommt uns eher abwegig vor. Hier verrät sich schon die neudeutsche Sprache, die keinen Gegenbegriff zum »Workaholic« kennt. Jedenfalls habe ich noch nie von einer Gefahr gehört, die davon ausginge, dass man die Work Life Balance zugunsten des Lebenspoles verlässt und so zum »Workteetotaler« wird (wie der Ausdruck für Arbeitabstinenzler wohl heißen müsste)!
Dolce far niente – getaktet
Kurz: die Forderung nach einer Optimierung der Work Live Balance gibt sich zwar aristotelisch als die Symmetrieforderung, es in keiner Richtung zu übertreiben, geht aber von einer strukturell asymmetrischen Gesellschaft aus, in der eine allzu starke Fixierung auf die Arbeit verhindert werden muss. Sie ist es, die Stress produziert, der nur zunächst als Eustress neue Kräfte freisetzt, dann aber zunehmend in Distress umschlägt, der Kräfte bindet und letztlich sogar verbrennt. Weswegen die durch die Work Life Balance zu verhindernde Katastrophe eben nicht in zu viel Leben, sondern in dem Burn-out-Syndrom von zu viel Distress in der Arbeit besteht.
Und daran zeigt sich noch ein Weiteres: Der Zweck des Ganzen ist es nicht, das Lob der Faulheit zu singen und einer Gesellschaft von Oblomows das Wort zu reden. Das lässt sich im Übrigen auch daran ablesen, dass der »Life«-Pol der geforderten Balance als Freizeit seinerseits nach dem Muster der Arbeit strukturiert ist: Freizeit gibt es nicht einfach, nein: Sie muss gestaltet werden; das »dolce far niente« wird getaktet wie die industrielle Arbeitswelt. Und zwar geschieht dies nicht nach dem von Hanns Dieter Hüsch so geliebten Muster des einfach nur Sitzens und Nichtstuns, sondern nach dem des Halb- oder Ganz-Marathons, des Nordic Walking oder des Golfspielens. Fitness und geringes Handicap sind die Ziele. Damit kehrt aber der »Life«-Pol der geschilderten Balance dahin zurück, von wo er in der Industriegesellschaft seinen Ausgang nahm: in den Zusammenhang der Regeneration der Arbeitskraft – entweder parallel zur Arbeit in morgens und abends zwischen Schlafen und Arbeiten gepressten Freizeitintervallen oder im Anschluss an die Lebensarbeitszeit im Ruhestand. Und so bestätigt noch die Extremform der Kompensation des »Workaholism« durch Freizeitgestaltung seine einseitige Ausrichtung an den Werten einer Gesellschaft, die sich primär an der Arbeit orientiert
Dass wir aber in einer Gesellschaft leben, in der zugleich auch andere Megatrends das Leben bestimmen, lässt sich an einem weiteren Indiz ablesen: Es sind vordringlich die Männer, die in der geschilderten einseitigen Asymmetrie leben. Bei Frauen kam die Forderung nach Optimierung der Work Life Balance durchaus bedeuten, umgekehrt den »Worker«-Pol zu stärken und aus der traditionellen Rollenausrichtung des »Life«-Pols auf Familie und Haushalt auszubrechen. Dass Gleichberechtigung, so betrachtet, auch gleiches Recht auf Distress durch Arbeit bedeuten kann, erfahren die betroffenen Frauen am eigenen Leibe und der eigenen Gesundheit.
Gleichgewicht? Nein, danke!
Langsam lichtet sich der eingangs heraufbeschworene Verwirrungsnebel. Es sah nur zunächst so aus, als handle es sich bei der Forderung nach Work Life Balance um ein Gleichgewichtspostulat. Es stellt sich nun vielmehr heraus, dass es sich in Tat und Wahrheit viel eher um das Gegenteil handelt. Das hätte uns im Übrigen auch schon eine kurze Erinnerung an die Selbstorganisationstheorie des Lebens und die Thermodynamik fern vom Gleichgewicht lehren können, der zufolge Leben und Innovation immer nur in Ungleichgewichtszuständen, eben »fern vom Gleichgewicht«, entstehen können; Gleichgewicht dagegen ist im optimalen Fall Fließgleichgewicht und »steady state«, im schlimmsten Fall aber Stillstand und Tod.
Interessiert man sich für Innovation, muss deswegen jeder Weg, der über Gleichgewichtsforderungen führt, eine Sackgasse sein. Ein im Wortsinne verstandenes Postulat einer Work Life Balance ist daher so etwas wie ein hölzernes Eisen, ein Rezept für einen nicht besonders interessanten vorzeitigen geistigen Ruhestand, kurz: nicht viel mehr als eine Formel, die in aller Munde ist, ohne auf dem Weg dorthin notwendigerweise immer durch die dazugehörigen Gehirne gegangen zu sein.
Das ist beruhigend, denn nun können wir Workaholics guten Gewissens weiterhin Workaholics sein, da sich nur fern vorn Gleichgewicht überhaupt Leben findet, das sich dann der Arbeit (die auch Leben ist) entgegensetzen lässt.
Insofern hatte mein Sohn ganz Recht, als er darauf hinwies, dass es schön sein müsse, einmal über etwas zu schreiben, von dem man nichts, aber auch gar nichts verstehe. Und insofern war es, wie sich auf diese Weise herausstellt, eben doch ein guter Freund, der mich überredet hat, diese Glosse zu schreiben.
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