Érik Orsenna, seit 1998 Mitglied der Académie Française und bereits mit diversen Preisen ausgezeichnet (unter anderem mit dem Prix Goncourt), ist ein unglaublich vielseitiger Schriftsteller. Sein Oeuvre offenbart sich so breitgefächert wie wohl kaum bei einem anderen Autor. Egal, ob er über Baumwolle („Weiße Plantagen“), die Faszination des Golfstroms („Lob des Golfstroms“), die Antarktis („Großer Süden“), unser Lebenselixier („Die Zukunft des Wasser“) oder seine Zeit als Ghostwriter von François Mitterrand und das Alltagsleben im Elysée-Palast schreibt, wenn man seine Bücher liest, gewinnt man schnell den Eindruck, einem Autor begegnet zu sein, der aus unbändiger Neugier am Leben und den Risiken, die die Menschen scheuen und doch gerade in der Natur immer wieder suchen, seinen literarischen Stoff strickt. Er gehe jedenfalls gern Risiken ein, erzählt er in einem Interview. Denn wer nichts riskiere, habe nur ein einziges Leben. „Diese Vorstellung ertrage ich nicht.“
In der Liebe und im Leben verhalte es sich übrigens analog, sagt Orsenna. „Lied für eine geliebte Frau“ ist beredtes und vor allem sehr persönliches Zeugnis dafür. Doch was, wenn die Liebe das Leben verlässt? „Wie soll ich es Ihnen mit einem Wort erklären? Sie haben sie ja nicht gekannt. Wie kann ich ihr gerecht werden, jetzt, da sie nicht mehr da ist? Welches Bild von ihr kann ich für immer in mir bewahren, welches Bild, das niemand mir stehlen kann, nicht einmal das Leben, das weitergeht?“ Mit diesen Fragen beginnt der Roman des 1947 geborenen französischen Autors.
Sein Protagonist, Orsennas Alter Ego, hat Angst vor dem „Gespenst der Liebe“. Unstet tingelt er durch eine Welt „voller Neurosen, manischer Theorien und leidenschaftlicher Liebesverhältnisse (von denen die einen Stückwerk und die anderen einzigartig waren)“. Bis an einem schönen Novembertag DIE Frau in sein Leben tritt. „Diese Frau war eine Sonne. (…) Eine Sonne, die – Sie haben es erraten – sich sehr von unserer offiziellen Sonne unterschied: Sie kannte keine Routine auf ihren Bahnen. Sie konnte immer und überall aufgehen, an jedem beliebigen Ort zwischen Himmel und Erde“. Mit ihrer Lebendigkeit, ihrer Fröhlichkeit, dem Unverhofften und der Freiheit bezähmt sie seine Unruhe. Vier glückliche Jahre bleiben den beiden, von denen der Leser jedoch kaum etwas erfährt. Sie „haben keine Geschichte. Vielleicht, weil das erfüllte Leben keinen Raum für Worte lässt. Und erst recht nicht für die Art von Andeutungen, wie es Erinnerungen sind.“ Nach vier Jahren verlässt sie ihn allerdings wieder. Eine heimtückische Krankheit fordert ihren Tribut…
Trennung und Tod gehören unbestritten zu den schwierigsten seelischen Erfahrungen eines Menschen. Am Anfang stehen Schock und Verleugnung. Leere und Schmerz nehmen von der Seele Besitz, beherrschen das ganze Wahrnehmen und sein Denken. Später brechen schmerzhafte Gefühle auf, Rat- und Hoffnungslosigkeit, Angst vor der Einsamkeit, vielleicht auch Schuld. Der Körper antwortet mit Unruhe oder Erschöpfung. Man kann sich nicht mehr konzentrieren, isst und schläft zu wenig, zieht sich von der Außenwelt zurück oder stürzt sich in verschiedenste Aufgaben. Erst langsam findet der Betroffene wieder zu sich selbst.
Auch Orsennas Protagonist muss lernen, sich in seinem Ein-Personenstück namens „Anatomie der Trauer“ neu zu orientieren. Ihn treiben Fragen um, wo sich die Menschen aufhalten, wenn sie einmal gestorben sind, wohin sie nach dem Tod gehen oder ob das Leben von Neuem beginnt? Er setzt sich nicht wie der „Faulpelz Orpheus“ in eine Barke und spielt sein Liedchen, sondern er versucht die Türen zu allen Welten, zu mythischen Orten zu öffnen, um seine Sonne wiederzufinden. Er reist über den ganzen Globus, lernt tanzen, weil auch sie dies leidenschaftlich liebte und besucht Kongresse des International Council für Philosophy and Humanistic Studies. Dort bewirken die Worte eines alten Afrikaners ein Umdenken: „Man muss sich immer wieder vor Augen führen: Dass man etwas weder sehen noch anfassen oder fühlen kann, ist noch kein Beweis, dass es nicht existiert.“ Diese Aussage öffnet ihm den Weg in die Zeit – die Zeit der Erinnerung. Denn „Erinnerungen sind Gespenster, die die Waffen gestreckt haben.“
Die spanische Dichtung sei ein Land, das mit Schlössern übersät sei, in denen viele Schätze verborgen sind, erklärte ihm „seine Sonne“. Doch nicht nur die spanische Literatur vermag dies. Érik Orsenna ist ein ebensolches wunderbares Kleinod gelungen, voller unentbehrlicher Wahrheiten, „verkleidet als Düfte, Melodien, Echos, Gärten…“. Dass die Gesamtmelodie dennoch nicht süßlich klingt, liegt an der ironisch heiteren Art, mit der der Autor zwischen Realität und fantastischer Überhöhung Geschichten auszuschmücken versteht. „Lied für eine geliebte Frau“ offenbart sich als poetisches, feinfühliges, geistreiches und philosophisches Gedanken- und Erinnerungsfragment, das neben der posthumen Verarbeitung einer großen Liebe gleichzeitig auch von der Annäherung an seinen jüngeren Bruder berichtet, mit dem ihn ein zwiespältiges Verhältnis verbindet. „Tief in sich fühlten sie, dass sie einer gemeinsamen Sache bedurften, um wieder zueinander zu finden. Die Suche nach dem mythischen Ort (…) diente diesem Ziel besser als alles andere: Sie würde ihr Gral sein und der Zement ihrer neuen Freundschaft, die stärker und fester sein sollte als die alte, die Risse bekommen hatte.“
Fazit:
Érik Orsennas Roman, obwohl er den Verlust eines Menschen zum Inhalt hat, offenbart sich als komplexes Plädoyer für das Leben. Trauer, Tod, Erinnerung und Sehnsucht, Liebe, Resignation und Aufbruch sowie Wahrung der eigenen Identität sind die Themen, die der Autor auf der einen Seite mit Leichtigkeit, mitunter gar Humor, auf der anderen mit großem Tiefgang verarbeitet.
Érik Orsenna
Lied für eine geliebte Frau
C.H.Beck Verlag, München (August 2010)
156 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3406606172
ISBN-13: 978-3406606175
Preis: 16,95 EURO
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