Artikel 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland garantiert das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und schützt die Freiheit der Person.
Vor allem für Kinder sind Freiräume entscheidend für die eigene positive Entfaltung. Spielen und Lernen gehören dabei zusammen. Vor allem ersteres ist ein Grundbedürfnis und zugleich eine lustvolle Betätigung für ein Kind. In spielerischer Auseinandersetzung mit der Umwelt entfaltet es seine Stärken und lernt gleichzeitig seine Fähigkeiten und seine Grenzen kennen. Im Umgang mit Spielpartnern gewinnt es soziale Reife und entwickelt Lebenstüchtigkeit.
Über die Auswirkungen, wenn ihm diese Freiräume und seine Freiheit entzogen werden, weil es illegal in einem Land ist, von seinen Eltern versteckt wird und ein nahezu unsichtbares Leben führt, darüber schreibt Vincenzo Todisco in seinem erschütternden Roman „Eidechsenkind“.
Sein Text ist zugleich ein deprimierendes Zeugnis der Geschichte der Gastarbeiter der 60er und 70er Jahre. In Italien herrschte bittere Armut. Auf Einkünfte angewiesen, kamen sie nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz, wo aller Voraussicht nach der Roman angesiedelt ist. Wie Gäste wurden Gastarbeiter allerdings nur selten behandelt. „Kein Zutritt für Italiener“ – das stand in den 1960er Jahren an mancher Gastwirtschaftstür. Hinzu kamen das scheußliche Wetter und „ungenießbares“ Essen fern der göttlichen Pasta. Von der Schwerstarbeit, der erbärmlichen Unterbringung in Gemeinschafts- oder Billigunterkünften ganz zu schweigen. Doch die erhoffte, rosige Zukunft in der alten Heimat ließ die erfahrene Unbill ertragen.
So auch die Eltern „des Kindes“ – wie es im Buch genannt wird. „Es ist das Jahr 1961, und hier beginnt ihre Rechnung. Sie geben sich fünf Jahre Zeit, dann wollen sie genug Geld verdient haben und wieder nach Hause fahren. Das Kind wollen sie schon bald nach Ripa zurückbringen, dass es so lange bei Nonna Assunta bleiben kann.“ Denn im Gastland „ist das Kind ein Kind, das nicht sein darf.“ Die Eltern haben es illegal mitgenommen. Sie „trichtern ihm ein, es dürfe nur flüstern, mit niemand sprechen, es müsse immer auf der Hut sein. Wenn man es entdeckt, verliert der Vater seine Arbeit, und sie müssen alle drei zurück nach Ripa.“ Doch aus den geplanten fünf Jahren werden noch viele weitere mehr.
In einem Zeitraum von über zehn Jahren wird aus den Augen des Kindes und dessen eng gestecktem Horizont berichtet. Nimmt sich die Mutter zunächst noch Zeit, dem Burschen das nicht fühl- und erlebbare Draußen zu erklären, „wie es auf der Baustelle aussieht, wie hoch ein Kran ist, in welchem Geschäft die Mutter die neuen Schuhe gekauft hat, woher das Brot kommt, das der Vater abends nach Hause bringt“, macht sich bei ihr zunehmend Resignation und Desillusionierung breit. Denn die Rückkehr in die Heimat, ins Dörfchen Ripa, in den italienischen Abruzzen, wird von Jahr zu Jahr hinausgeschoben. Verhärmt, unzufrieden und all ihrer Illusionen beraubt, wird der zunehmend schwieriger werdende Junge, nur noch eine Last.
Dessen lautlose Existenz und das einsame, auf wenige Schritte begrenzte Leben führen zu exorbitanten Persönlichkeitszerstörungen. Es bewegt sich nur noch huschend oder an der Wand entlangschleichend durch die kleine Wohnung, erstarrt bei verdächtigen Geräuschen und verkriecht sich beinahe reflexartig und pfeilschnell in dunklen Verstecken, in Schränken oder unter Kommoden. Lucertola – die Eidechse – wird sein bezeichnender Spitzname. Selbst ein Fernseher, die gelegentlichen Ausbruchversuche ins Treppenhaus, auf den Dachboden und die vielen Bücher des Professors, der im gleichen Haus wohnt und bei dem er wenigstens mit dem Finger in die Welt entflieht, können die gestörte Psyche des Jungen nur kurzfristig beruhigen. Immer wieder kommt es zu Ausbrüchen und Anfällen, wenn ihn die „Wölfe“ heimsuchen. Zu normaler Kommunikation wird er zunehmend unfähig. Mit anderen Menschen kann er kaum noch normal interagieren. Die Umwelt generiert sich zu einer nicht fassbaren Substanz für ihn. „Das Eidechsenkind lebt jetzt in seiner eigenen Welt, die weder im Draußen noch im Drinnen ist.“
Vincenzo Todisco, selbst Sohn italienischer Einwanderer, hat ein intensives, ein bedrückendes, ein an die eigene Substanz gehendes Buch geschrieben. Immer wenn man meint, den mitunter zerstörerischen und mit einer ungeheuer emotionalen Wucht daherkommenden Text nicht mehr weiterlesen zu können, gelingt es dem Autor dennoch immer wieder, zarte Hoffnung zu streuen und positive Schwingungen zu erzeugen. Nach dem Zuschlagen der letzten Seite muss man den Text erst einmal sacken lassen und ihn emotional und mental verarbeiten. Ein Satz von Max Frisch, den jener vor über 50 Jahren, als Vorwort zu „Siamo Italiani“, einem Buch über die Italiener in der Schweiz schrieb, kommt mir in den Sinn: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Er ist gerade heute in Zeiten massiver Zuwanderung wieder verblüffend aktuell. Daher kann Vincenzo Todiscos Buch gleichfalls ein Denkanstoß sein, für Integration und Menschenwürde. Denn wie stellte der Schriftsteller Zafer Senocak bei einem Interview im Deutschlandfunk treffend fest: „Der Schlüssel zur Integration steckt in der Kindheit.“
Vincenzo Todisco
Das Eidechsenkind
Edition Blau im Rotpunktverlag (20.04.2018)
216 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3858697834
ISBN-13: 978- 3858697837
Preis: 24,00 EUR