Noch ist ungewiss, wann die derzeitige Covid 19 Pandemie überwunden sein und wie ihre endgültige Schadensbilanz aussehen wird. Gewiss ist hingegen schon jetzt, dass dies ebenso wenig die letzte Seuche gewesen sein wird, wie es die erste ist und deshalb die Menschen gerade auch in den entwickelten Industrieländern wieder werden lernen müssen, mit ihnen umzugehen.
Denn spätestens seit ihrer Sesshaftwerdung vor vielen tausend Jahren werden die Menschen begleitet von Typhus, Pest und Cholera, von Masern, Grippe und Diphterie. Und nicht wenige dieser Krankheiten entvölkerten ganze Landstriche, ließen gesellschaftliche Ordnungen kollabieren und brachten kulturelle Entwicklungen zu einem abrupten Ende.
Dergleichen ist nach allem, was wir bislang von Covid 19 wissen, nicht zu erwarten. Von der „dunkelsten Stunde der Menschheit“ zu sprechen, von einer Krise, „der keine andere gleichkommt“, von einem „Krieg um Leben und Tod“ zeugt deshalb nicht nur von mangelhaften Geschichtskenntnissen, sondern offenbart auch ein neurotisches Verhältnis zur Wirklichkeit.
Verwunderlich ist das nicht. Schon früh setzten nämlich die Menschen, namentlich des westlichen Kulturkreises, alles daran, sich möglichst weit am Rand des großen Orchesters von Leben und Tod zu platzieren. Im Grunde wollten sie mit ihm gar nichts mehr zu tun haben, verstanden sie sich doch als darüber stehend, als „Krone der Schöpfung“.
Da ist es eine ungeheure Kränkung, wenn sich immer wieder irgendwelche Winzlinge, die überhaupt erst bei vieltausendfacher Vergrößerung für das menschliche Auge sichtbar werden, aufmachen und das ganze eitle Menschenwerk wenn schon nicht zerstören so doch zum Stillstand kommen lassen. Das ist unfassbar und unverzeihlich.
Die schrille Kriegsrhetorik entspricht diesem Denken und Fühlen. Zwar ist es nur allzu verständlich, wenn Menschen ihr Leben und ihre Gesundheit, ihr Hab und Gut und ihre lieb gewonnenen Gewohnheiten zu schützen bestrebt sind. Doch gegen Mikroben ins Feld zu ziehen, gegen Viren und Bakterien, ist – wenn überhaupt – eine sehr eigene Art von Krieg.
Denn solche Mikroben sind Teil der Welt, in der wir leben, und damit Teil von uns. Ohne sie können wir nicht existieren. Uns bleibt nur, uns so in das Gefüge des Lebens einzubringen, dass wir möglichst großen Nutzen und möglichst geringen Schaden davon haben. Das ist nicht immer einfach. Bisweilen steht uns unsere Kultur dabei im Weg.
Das erfahren wir in diesen Tagen erneut auf eindrucksvolle Weise. Wie viel Mobilität ist dem Menschen zuträglich? Wie viel Nähe? Wie viel Respekt verdienen biologische Schranken und wo sind die Grenzen für Manipulationen? Es mag ja gut sein, dass wir dem, was uns derzeit plagt, durch unseren Lebensstil kräftig Vorschub geleistet haben.
Wo stünden die Coronaviren heute, wenn sich nicht der stets mobile Mensch zu ihrem willigen Transportmittel gemacht hätte? Ist es nicht bittere Ironie, dass ihm im Kampf gegen sie vorerst nichts anderes einfällt, als die Füße still zu halten? Was für ein Krieg. Voranschreiten durch Innehalten. Diese Dialektik könnte auch in anderen Lebensbereichen wegweisend sein.
Vielleicht könnte uns die derzeitige Krise lehren, ruhiger und gelassener zu werden. Zwar ist Stillstand dem Menschen gewiss nicht gemäß. Leere Straßen und Plätze, Kinos und Kirchen entsprechen nicht seiner Natur. Aber ist die hektische Betriebsamkeit, die vor der erzwungenen Pause unser Leben bestimmte, unserer Natur gemäßer? Ist es das, was wir wirklich wollen und brauchen? Innehalten als Mittel der Heilung oder zumindest der Schadensminderung. Das könnte eine Lehre dieser Seuche sein.