„Verwunderlich ist, dass wir diese Bäume ansehen und uns nicht mehr wundern.“

Der Philosoph und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson äußerste dieses Befremden über den Umgang oder die Wahrnehmung dieser faszinierenden „Geschöpfe“. Denn ohne sie gäbe es uns aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Ein Baum von angemessener Größe ist in der Lage, den Sauerstoff für eine vierköpfige Familie zu produzieren. Die Skala des Nutzens reicht neben der Sauerstoffanreicherung und der Wärmeregulierung allerdings noch um ein Vielfaches weiter: Dächer, Möbel, Papier sind nur einige der sichtbaren Erzeugnisse, für die Holz benötigt wird. Ebenso wichtig ist unsere mentale Abhängigkeit von Bäumen. „Es heißt, dass die Patienten in Krankenhäusern schneller genesen, wenn sie Bäume im Blickfeld haben. Familien, in deren unmittelbarer Nähe Bäume wachsen, streiten seltener oder lösen ihre internen Probleme besser, wird behauptet.“, schreibt Lewis Blackwell, einer der international führenden Köpfe im Bereich Kreativität und Fotografie, der sich beruflich und privat gleichfalls stark mit ökologischen Themen beschäftigt. Egal, ob diese Geschichten nun wahr sind oder nicht, Bäume bereichern seit ungefähr 370 Millionen Jahren unsere Erde und werden trotz aller Ausrottungsversuche durch den Menschen auch dann noch hier sein, wenn wir längst vom Erdboden verschwunden sein werden.
Der vorliegende, großartige Bildband, den man gut und gerne als visuelles Erlebnis bezeichnen kann, ist eine Hommage an das Wunder der Natur im Allgemeinen und an Bäume im Speziellen. Unkonventionell aufgebaut, bietet er keinesfalls taxonomische Einzelheiten zur Klassifizierung von Bäumen, sondern gestaltet sich schlichtweg als Herausforderung und Vergnügen par excellence. Nicht glamouröse Ansichten von Bäumen in spektakulären Landschaften füllen die Seiten, sondern beinahe poetisch schön zu nennende „Bilderlyrik“. Bereits die erste seitenfüllende Fotografie von Frank Kramer, die Strandgehölz am Ammersee in Bayern zeigt, zieht in ihren Bann. Der aus den nahen Wiesen aufgestiegene Morgennebel hat sich im grünen Geäst der Rotbuchen verfangen, deren Stämme durch das diffuse Licht einen beinahe silbrigen Schimmer annehmen. Cornelia Doerrs Aufnahme der gleichen Baumgattung wirkt auf der nächsten Doppelseite ganz anders. Hier blockiert eine ausgewachsene Gruppe Rotbuchen die Lichtzufuhr, während die relativ glatten Stämme einen ganz eigenen Rhythmus für die Augen schaffen. Eine fesselnde Wirkung und attraktive Ausstrahlung offeriert gleichermaßen das Foto einer Echten Sumpfzypressengruppe, aufgenommen von Cece Fabbro im Südosten der USA. Rund um deren ständig überfluteten Wurzeln haben sich markante „Knie“ herausgebildet, die aus dem Wasser ragen und zur Stabilisierung und Atmung des Baumes beitragen.
Auf alle 94 beeindruckenden Fotos einzugehen würde den Rahmen sprengen. Zumal jeder Betrachter andere Assoziationen verbinden wird. Der Auswahl und den dazugehörigen, gleichfalls hochinteressanten Texten liegen zwar gewisse Abfolgen zugrunde, allerdings unterscheidet sich deren Anordnung von der herkömmlichen Weise. Man kann durchaus von hinten mit seiner „Beschau“ beginnen oder die Seiten wahllos aufblättern, um sich in ihnen zu verlieren. Der Autor möchte den Leser/Betrachter dazu anregen, selbst nach Verbindungen Ausschau zu halten und sich seinen ganz persönlichen Weg zu bahnen. Entstanden ist ein individueller Spaziergang, Umwege inbegriffen: eine exotische, visuelle Reise zu den Bäumen der Welt. Von Zeit zu Zeit hat Blackwell Zitate namhafter Baumliebhaber aus verschiedenen Epochen der Geschichte eingestreut, deren Worte mitunter eine eigene Reise gehen. Bisweilen rufen sie Bilder hervor oder fordern auf, in Gedanken einer Abzweigung zu folgen, die eine neue Perspektive eröffnet. Auf jeden Fall fungieren diese geistreichen Kommentare als willkommene Wegbegleiter. Die Namen der Autoren sowie die Aufnahmeorte der Fotos wurden bewusst weggelassen. Dadurch wirken Bild und Text ohne Beiwerk. Erst am Ende des Buches wird Auskunft über den Zitierenden und die geografische Einordnung der Abbildungen gegeben.
„Bäume“ ist ein Bildband der Extraklasse, eine Lektüre, die einem Spaziergang gleicht. Treffend formuliert von Lewis Blackwell in seinem Vorwort: “ Ein Schritt führt zum anderen und irgendwann haben Sie vielleicht das Gefühl, sich auf einem neuen, besseren Weg zu befinden. Genau das ist die Erfahrung, die wir Ihnen vermitteln möchten. (…) Ein Anfang ist gemacht, wenn wir das Geheimnis und den 'Geist des Ortes' erforschen, wenn wir uns unter Bäumen bewegen, und zulassen, dass wir dabei ein wenig ins Tagträumen geraten.“ Denn Bäume sind unzweifelhaft die Schnittstelle, „an der Gefühl und Vernunft zusammentreffen, um eine fruchtbare, dem langfristigen Erhalt unserer Existenzgrundlagen dienende Zusammenarbeit zu gewährleisten.“ Diesen Worten des Autors gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Außer vielleicht ein Zitat von Albert Einstein: „Sieh in die Natur, dann verstehst du's besser.“
DANKE für die visuelle Bereicherung!

Lewis Blackwell
Bäume
Aus dem Englischen von Ursula Bischoff
Titel der Originalausgabe: Trees
terra magica, München (2009)
200 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3724310196
ISBN-13: 978-3724310198
Preis: 49,99 EURO

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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