Verschollen im Einsatz – das Bataillon des 5. Norfolk Regiments

Die Wirklichkeit des Krieges ist meist grausamer als seine Legenden

Gallipoli. Bild von Raffaello Torrazzina auf Pixabay.

Verschollen im Einsatz – das verschwundene Bataillon des 5. Norfolk Regiments

Die Mittelmächte kontrollierten seit Beginn des Ersten Weltkriegs durch ihr Bündnis mit dem Osmanischen Reich die Meerenge der Dardanellen. Sie versperrten damit der russischen Schwarzmeer-Flotte die Durchfahrt in das Mittelmeer und unterbanden alliierte Hilfstransporte für Rußland. Nach der Erstarrung der Front in Nordfrankreich entschloß sich die Entente auf Anregung des britischen Kriegsministers David Lloyd George, seines Marineministers Winston Churchill und General Herbert H. Kitcheners im Frühjahr 1915 zu einem Angriff auf die Dardanellen, um die Meerenge für den Schiffsverkehr zu öffnen und Konstantinopel (heute: Istanbul) zu erobern. Zur Vorbereitung der Operation wurden in der Ägäis starke Flottenverbände konzentriert. Ein Durchbruchsversuch der alliierten Verbände am 18. März scheiterte jedoch an Minensperren und am Einsatz deutscher U-Boote. Daraufhin landeten am 25. April fünf alliierte Infanteriedivisionen mit über 75.000 Mann auf der Halbinsel Gallipoli (heute: Gelibolu), um die türkischen Batterien von Land her auszuschalten und die Kontrolle über die Meerenge zu erringen. Unter dem Schutz ihrer Schiffsartillerie gelang der Entente die Errichtung eines Brückenkopfes, der mit Einheiten aus Neuseeland und Australien auf über 200.000 Soldaten verstärkt wurde. Die Eroberung der felsigen Halbinsel scheiterte jedoch in den folgenden Monaten am erbitterten Widerstand der osmanischen Armee. Nach 9 Monaten vergeblichen Kampfes ohne nennenswerten Geländegewinn zogen sich die Briten aus den Dardanellen zurück. Die Verluste auf beiden Seiten waren enorm. Die Briten hatten 43.000 Tote zu beklagen, die Türken über 55.000. Auf beiden Seiten gab es über 250.000 Verwundete. Bei 800.000 Soldaten, die in Gallipoli zum Einsatz gekommen sind, entspricht das eine Verlustrate von etwa 43%, das heißt, fast jeder zweite Teilnehmer dieser erbitterten Schlacht war verwundet oder getötet worden. Dennoch ist der Dardanellenfeldzug heute ein fast vergessener Teil des ersten Weltkrieges. Lediglich ein Truppenteil der auf britischer Seite an den Kämpfen beteiligten Verbände erreichte einen gewissen Bekanntheitsgrad aufgrund seines geheimnisvollen Schicksals. Es handelt sich dabei um des 1. Bataillon des 5. Norfolk Regiments, welches bei den schweren Kämpfen in der Suvla Bucht unter merkwürdigen Umständen verschwand.  Das 5. Norfolk Regiment gehörte damals zur 163. Brigade der 54. Division des 9. Britischen Corps. Die traurige Berühmtheit, welche das verschwundene Bataillon erlangte, resultiert aus mehreren Faktoren. Zunächst einmal stand die Einheit dem britischen Königshaus sehr nahe. Sie wurde vor allem zur Bewachung der königlichen Güter von Sandringham eingesetzt. Eine zweite merkwürdige Tatsache war, daß – zumindest nach offiziellen Angaben – die sterblichen Überreste der gefallenen niemals gefunden wurden. Nicht zuletzt aber sorgte eine seltsame Geschichte für Publizität, die erst lange Jahre nach dem Krieg in Umlauf gebracht wurde. Das Verschwinden der Männer des 1. Bataillons wird von verschiedenen Autoren bis zum heutigen Tag mit einem göttlichen Eingreifen in das Kriegsgeschehen oder sogar mit der Entführung durch UFOs in Zusammenhang gebracht. Die Ursache für diese Legendenbildung ist ein im Jahr 1965 von einem ehemaligen Teilnehmer des Dardanellenfelzuges veröffentlichter Bericht. Der aus Neuseeland stammende ehemalige Pionier Frederick (nach anderen Quellen Francis) Reichardt behauptete darin, Zeuge des seltsamen Verschwindens der Norfolks gewesen zu sein. Drei weitere Kriegsveteranen bezeugten seine Aussagen.

Am Nachmittag das 12. August 1915 beobachtete Reichardt mit seinen Kameraden über dem Kampfgebiet eine Anordnung von sechs bis acht  brotlaibförmigen Wolken, die genau über dem Bereich schwebten, in welchem das 5. Norfolk Regiment zum Angriff angetreten war. Diese Wolken wiesen nach den Aussagen der Veteranen eine vollkommen andere Beschaffenheit auf, als gewöhnliche Wolkenformationen. Sie sollen eine feste, nahezu metallische, reflektierende Struktur besessen haben. Eine der Wolken senkte sich trotz des starken Windes soweit in ein enges Tal ab, bis sie Bodenkontakt hatte. In diese Wolke marschierte nach Reichardts Aussage des 1. Bataillon des 5. Norfolk Regiments bei seinem Vorrücken hinein. Nachdem der letzte Soldat in der grauen Nebelmasse verschwunden war, soll sich die Wolke vom Boden gelöst haben, um rasch aufzusteigen und sich mit den übrigen Wolken zu einem Verband zusammen zu schließen, der dann rasch nach Norden, gegen den Wind (!), davon segelte. Keiner der Soldaten des 1. Bataillons wurde jemals wieder gesehen. Reichart und seine Kameraden versicherten an Eides Statt die Wahrheit ihrer Aussagen. Diese merkwürdige Geschichte erschien zuerst in einer neuseeländischen Publikation mit dem Titel „Spaceview“. Danach wurde sie von der bekannten UFO-Zeitschrift Flying Saucer veröffentlicht. Seitdem kursiert Reicharts Bericht in unzähligen anderen grenzwissenschaftlichen Publikationen. Trotz offenkundiger Ungereimtheiten – Reichardt zitierte das falsche Datum, das falsche Bataillon und die falsche Position – wurde die Geschichte zum festen Bestandteil der UFO-Literatur. Doch das Schicksal des 1. Bataillons der 5. Norfolk Regiments war viel grausamer als Entführung durch Außerirdische. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die damaligen Ereignisse zu rekonstruieren. Der Angriff am 12. August begann nicht vor 16.45. Er wurde durch schweres Geschützfeuer der britischen Schiffsartillerie vorbereitet, das 16.00 Uhr begann. Während die Regimenter der 163. Brigade vorrückten, trafen sie auf ernsten Widerstand der türkischen Verteidiger. Die Briten gerieten in schweres Maschinengewehrfeuer, das ihnen vor allem auf der linken Flanke entgegenschlug, während die weiter rechts vorgehenden Truppen mit Schrapnellgeschossen eingedeckt wurden. Das Maschinengewehrfeuer war so wirkungsvoll, dass es den Vormarsch der linken Flanke stoppte. Das 1. Bataillon des 5. Norfolk Regiments unter dem Kommando des erfahrenen Oberst Beauchamp hingegen rückte auf der rechten Flanke in dem unübersichtlichen Gelände energisch vor. Dabei schlossen sich seinem Bataillon auch Teile anderer britischer Verbände an. Was danach mit Oberst Beauchamp und seinen Männern geschah, beschrieb Sir Ian Hamilton in seinem Brief vom 11. Dezember 1915. Er nannte das Ganze „eine sehr geheimnisvolle Sache.“ „Das 1/5. Norfolk war auf der rechten Flanke und sah sich einem weniger starken Widerstand gegenüber als der Rest der Brigade. Gegen die schwächeren Kräfte des Feindes ließ Oberst Sir H. Beauchamp, ein tüchtiger, erfahrener Offizier, begeistert vorrücken. Ihm folgte der beste Teil des Bataillons. Das Gefecht wurde schwerer, der Boden bewaldeter und unübersichtlich. Hier wurden viele Männer verwundet oder blieben durstig und erschöpft zurück Sie fanden zu den ursprünglichen Positionen während der Nacht zurück. Doch der Oberst, mit ihm sechzehn Offiziere und 250 Männern, rückten unbeirrt weiter vor, den Feind vor sich hertreibend. Von ihnen gab es keinerlei Nachricht oder Lebenszeichen mehr. Sie verschwanden im Wald und waren verloren. Nicht ein einziger von ihnen kam zurück“. 

Es dauerte noch mehrere Jahre, bis das Schicksal der Verschollenen aufgeklärt werden konnte. Am 23. September 1919 notierte der mit der Registrierung von Gräbern beauftragte britische Offizier in Gallipoli:

Wir haben die 5. Norfolks gefunden – insgesamt 180 Mann. Davon gehörten 122 zum 5. Norfolk regiment, einige wenige zum Hant und Suffolk Regiment und ein paar zum 2/4. Suffolk Regiment. Wir konnten nur 2 von ihnen identifizieren – die Soldaten Barnaby und Cotter.“

Die Verluste des 5. Norfolk Regiments betrugen insgesamt 22 Offiziere und 350 Mann. Bei den vermissten Offizieren handelte es sich um Colonel Sir Horace Proctor Beauchamp, C.B. ; Captain and Adjutant A. E. Ward; Captains E. R. Cubitt, F. R. Beck,  Pattrick, Mason, A. C. Coxon, Woodwark; Lieutenants E. A. Beck, Gay, V. M. Cubitt, T. Oliphant ; 2nd Lieutenants Burroughs, Proctor, Beauchamp, Adams, Fawkes. Die englische Presse nahm sich zu jener Zeit der Geschichte an, und verbreitete die Legnde dass die  britischen Soldaten im Kampf Mann gegen Mann gefallen waren, und in einem tapferen Kampf bis zum letzten Atemzug eine große Anzahl Feinde mit in den Tod genommen hätten. Der mehr als 50 Jahre lang geheim gehaltene amtliche Report hingegenwar weitaus prosaischer. Die Gefallenen lagen im Bereich von ungefähr einer Quadratmeile verstreut, ca. 800 Meter hinter der türkischen Frontlinie. Die meisten toten wurden in den ruinen eines kleinen Bauernhofes gefunden. Dies war vermutlich auch jenes Gehöft, an dem Oberst Beauchamp zuletzt gesehen worden war. Das Gelände war als einziges Gebiet in der Nähe Suvla bewaldet. Die Fundstelle stimmte auch mit der letzten bekannten Position des verschwundenen Bataillons überein. Die Erklärung dafür, dass es keine Überlebenden des 1. Bataillons der 5. Norfolks gab, ist einleuchtend. Die Türken machten bei dieser Schlacht keine Gefangenen. Sollten die britischen Soldaten gefangen genommen worden sein, oder sich in aussichtsloser Lage ergeben haben so sind sie mit Sicherheit an Ort und Stelle niedergemacht wurden. Der amtlichen Report über das Schicksal der 5. Norfolks E Company untermauert diese Vermutung mit einem außerordentlich bedeutsamen Detail. Jeder der 122 aufgefundenen Toten war durch Kopfschuß hingerichtet worden. Eine Bestätigung dafür, daß die Türken routinemäßige Erschießungen durchführten, findet sich im Bericht von Arthur Webber, einem Überlebenden, der in Yarmouth Company des 5. Norfolk Regiments während der Schlacht des 12. Augusts 1915 kämpfte. Arthur erhielt einen Schuß ins Gesicht. Als verwundet am Boden lag, hörte er, daß die türkischen Soldaten Verwundete und Gefangene in seiner nähe erschossen oder mit dem Bajonett erstachen. Nur die Intervention eines deutschen Offiziers rettete Arthurs Leben. Seine Kameraden wurden alle an Ort und Stelle hingerichtet. Die Wirklichkeit des Krieges ist meist grausamer als jene Legenden, die in seinem Gefolge entstehen. 

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Verwendete Literatur

Mustafa Askin, Gallipoli – a turning point, Keskin Color Kartpostalcilik Ltd. Sti.

C. E. W. Bean, Anzac to Amiens, Australia, 1946

Kit Denton, Gallipoli – One Long Grave, Australia, 1986

Alan Moorehead, Gallipoli, London, 1956

F. LORAINE PETRE, O.B.E., The History of the Norfolk Regiment, Norwich, Jarrold & Sons, Limited

Über Thomas Ritter 111 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.