Heinz Kucharski, geboren 1919 in Hamburg, gestorben 2000 in Markranstädt bei Leipzig, war, wie es einleitend bei Wikipedia heißt, „ein deutscher Indologe und eine zentrale Persönlichkeit des Hamburger Zweigs der Weißen Rose“.
Diese „zentrale Persönlichkeit“ lernte ich zusammen mit dem später zu enormen Ruhm gekommenen Schriftsteller Wolfgang Hilbig auf der Leipziger Buchmesse im Herbst 1968 kennen. Wir kamen dort an einem Imbissstand mit einem älteren Herrn ins Gespräch. Doch Hilbig musste seinen letzten Bus in seine Heimatstadt Meuselwitz bekommen, so dass ich dann allein erfuhr, dass dieser bieder aussehende Mann eine erstaunlich interes-sante Geschichte zu erzählen wusste. Zum ersten erfuhr ich, dass er ein Mann der auch in der DDR gepriesenen und so genannten antifaschistischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gewesen sei. Natürlich fielen mir sofort die Geschwister Scholl ein, nach denen in der DDR Straßen, Plätze und Schulen benannt waren, sogar Briefmarken gab es mit ihren Porträts. Nur die Texte der Flugblätter bekamen wir nie zu Gesicht. Es war ja schließlich kein kommunistischer Widerstand.
Dann erfuhr ich durch Kucharski erstmals, dass es auch einen Zweig der Weißen Rose in Hamburg gegeben hat. Er selbst sei Hamburger, habe mit Freunden ebenfalls die später berühmt gewordenen Flugblätter aus München verteilt, aber auch die Frequenzen von Radio London oder Radio Moskau an Wände geschrieben, die in der Nazizeit als Feind-sender galten und lange Zuchthausstrafen, ja sogar die Todesstrafe nach sich ziehen konnten, wenn man beim Abhören erwischt wurde.
Er gehörte, so erzählte er mir, zu den ersten, die dann aus dem Kreis der Weißen Rose Hamburg von dem berüchtigten „Blutrichter“ Freisler zum Tode verurteilt worden sei.
Ich blickte ihn so bewundernd wie erstaunt an, denn er lebte ja noch. Er musterte mich mit großen Augen, bevor er mir erzählte, dass er auf dem Weg zur Hinrichtung, zusammenge-kettet mit einem riesengroßen Schwerverbrecher, fliehen konnte, da der Zug, in dem sie zur Hinrichtungsstätte nach Bützow-Dreibergen gebracht werden sollten, von englischen Tieffliegern angegriffen worden war.
Ich erfuhr auch, dass er schon lange in Leipzig wohnte und als Lektor im damals halb-staatlichen Paul-List-Verlag beschäftigt sei. Da er mitbekommen hatte, dass Wolfgang Hil-big und ich vor allem Gedichte schrieben, bot er an, dass wir ihm doch mal ein paar Kost-proben zukommen lassen sollten.
Ich erzählte ihm von unserer kleinen Künstlergruppe, die wir nach der legendären Motor-bootslesung auf dem Leipziger Stausee bei Knautkleeberg gegründet hatten und auch davon, dass ich zweimal vom Studium geflogen war, anschließend meinen Job als Motor-bootfahrer verloren hatte und zudem aus Leipzig ausgewiesen worden sei. Er tat sehr in-teressiert, obwohl ich mehr auf seine Geschichten gespannt war und ihm zu unseren Tref-fen in unseren Künstlerkreis einlud. Er sagte zu und ich war begeistert. Wir trafen uns zu-meist reihum bei dem Maler Dietrich Gnüchtel oder bei Heide Härtl und Gert Neumann in der berüchtigten Junghanßstraße 4, gelegentlich auch bei mir in Heidenau bei Dresden.
Er brachte neue Akzente in unseren Kreis ein, denn er versuchte uns als studierter Orient-alist den Buddhismus samt Yoga-Praktiken nahe zu bringen, doch außer bei Dietrich Gnüchtel und mir fruchtete das Bemühen wenig.
Ende der 60er Jahre war das in der DDR noch völlig exotisch, aber mir gefiel das außeror-dentlich, sodass ich mich in die indischen Weisheitslehren vertiefte. Den Frauen in unser-em Kreis war Kucharski nicht geheuer, also nicht koscher genug. Ich hingegen verteidigte ihn vehement.
Ein Mann sollte wahrscheinlich mehr dem besseren Instinkt der Frauen vertrauen, denn als ich zu Beginn der 90er Jahre Einblick in meine Stasi-Akten erhielt, sah ich, dass ein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi unter dem Decknamen „Lektor“ sehr fleißig über meine Künstlergruppe und mich berichtet hatte. Es war sofort klar, um wen es sich handelte.
Ich suchte Heinz Kucharski daraufhin in Leipzig auf und lud ihn in ein Café ein. Dort schäumte er fast über vor Freude über die neue Zeit, die er ganz toll fand. Ich musste ihn ermahnen, weshalb ich ihn treffen wollte, denn er wusste ja, dass ich Akteneinsicht hatte. Da fiel er wieder in sich zusammen und fragte nur:
„Tja, was soll ich dazu sagen?“
Und nach einer Weile folgte dann eine Art von Entschuldigung:
„Ich muss schizophren gewesen sein. Ich hatte schon Trotzki gelesen und war trotz-dem noch Stalinist. Ich war bis zuletzt in der SED und war schon längst auf einem Yoga-weg…“
Er war nicht nur Mitglied der SED, sondern war sogar Parteisekretär am Völkerkundemu-seum und durfte mehrmals schon vor seinem Rentenalter ins westliche Ausland reisen, wo er Aufträge der Stasi erledigte.
Ich wusste aus den Akten, dass er sich über uns lustig gemacht hatte, weil er uns durch die Beschäftigung mit Buddhismus und Yoga von unserer politischen Wirksamkeit abge-bracht habe und wir seitdem nur noch mit der eigenen Nabelschau beschäftigt seien. Sei-nem Stasi-Vorgesetzten, der sich übrigens wie einst sein Gestapo-Vernehmer „Reinhardt“ nannte, offenbarte er mit gehöriger Übertreibung, „dass Fausts Verinnerlichung bis in das Abstruse hineingesteigert ist und er sich in eine ausweglose, uns fremde philosophische Weltanschauung hineingesteigert hat […] Faust bat den IM, in seinem Freundeskreis, der sich immer erweitere, Vorträge über Yogalehre u. ä. zu halten, was der IM dem Faust auch zusagte“.
Andererseits stimmte es tatsächlich, dass Kucharski in den 80er Jahren tatsächlich in Leipzig erfolgreich einen Yoga-Kreis aufgebaut hatte, als er noch als Rentner am Völker-kundemuseum arbeiten durfte. Auch Wissenschaftler bedankten sich bei ihm, denen er zu buddhistischen Themen zugearbeitet hatte.
Ich bekam Mitleid mit ihm und verabschiedete mich.
Doch als wir ab 2010 in Cottbus die Ausstellung über die politischen Häftlinge in zwei deut-schen Diktaturen erarbeiteten, kamen noch ganz andere Dinge ans Licht. Die herrschen-den Kommunisten in der DDR hatten es verschwiegen, dass durch die Kriegswirren neun Frauen der Weißen Rose Hamburg hier im damaligen Frauenzuchthaus Cottbus einge-sessen hatten. Darunter auch Kucharskis Mutter und seine Freundin Margaretha Rothe, die er mir gegenüber als seine Verlobte bezeichnet hatte. Desweiteren wurden hier auch seine Mitschülerin Traute Lafrenz und seine Lehrern Erna Stahl, dessen Lieblings-schüler er war, gefangen gehalten.
Über Katrin Seybolds Dokumentarfilm „Die Widerständigen“ von 2008 lernte ich die erste dokumentarische Gesamtdarstellung der Widerstandsarbeit der Münchner Studenten in den Kriegsjahren 1942/43 kennen, denn Frau Seybold schaffte es in mühevoller Kleinar-beit über fünf Jahre lang, die damals noch lebenden Gefährten, Freundinnen und Ge-schwister der Weißen Rose von München und Hamburg vor der Kamera erzählen zu las-sen, wie sie Flugblattaktionen unterstützten, wie sie an-schließend die Gestapo-Verhöre und den Volksgerichtshof überstanden hatten. Dadurch kam ich brieflich und telefonisch mit Traute Lafrenz in Kontakt, die in den USA wohnt.
Außerdem lernte ich kurz darauf den Neffen von Margaretha Rothe kennen, die als einzige von den in Cottbus inhaftierten neun Frauen nicht überlebte, sondern in einem Leipziger Krankenhaus wenige Tage vor der Befreiung durch die Amerikaner verstorben war. Auch der Neffe forschte als pensionierter Lehrer über die Geschichte der Weißen Rose Ham-burg und fand ebenso heraus, welche unheilvolle Rolle dabei Heinz Kucharski gespielt haben musste.
Die Szene des Hamburger Widerstands, die vielfältiger war als in München, ist unter His-torikern bis heute zerstritten. Die zwei Hamburger Kommunistinnen Ursel Hochmuth und Gertrud Meyer haben mit ihrem von der DDR geförderten Projekt „Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933-1945“, das 1980 im kommunistischen Röderberg-Verlag Frankfurt am Main erschien, die Deutungshoheit erlangt. In dem 650-Seiten-Buch wird zwar zugegeben, dass Kucharski „mit den Kommunisten sympathisierte und unter den Studenten weltanschaulich am weitesten links stand“, doch es folgt kein kritisches Wort darüber, wie er 50 weitere Personen der Gestapo auslieferte, wovon 30 dadurch noch verhaftet wurden. Acht davon überlebten das nicht .
Überwiegend bestand der antinazistische Widerstand sowohl in München als auch in Hamburg aus ethisch-christlichen, auch aus jüdisch-bürgerlichen Motiven heraus, während sich Kucharski schon damals von der Hamburger Buchhändlerin Hannelore Willbrandt mit Marx-, Engels- und Lenin-Bänden eindecken ließ. Diese Buchhändlerin ging nach dem Krieg ebenfalls in die DDR und machte dort Karriere als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am „Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR“ und leitete die Kommission zur „Erforschung der Geschichte des örtlichen antifaschistischen Wider-standskampfes“ beim „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der Deutschen Demokratischen Republik“. Es versteht sich von selbst, dass sie auch Mitarbeiterin der Stasi war.
Der auch von Stalin beeinflusste Kucharski erwog sogar mit dem jüngeren von den Nazis als Halbjuden gekennzeichneten Hans Leipelt, der später hingerichtet wurde, das Grund-wasser in Hamburg zu vergiften und die Lombardsbrücke zu sprengen.
Doch mit solchen Absichten kamen sie bei den anderen Persönlichkeiten, die das Nazi-Regime mit gewaltlosen Mitteln, also mittels Aufklärung und Flugblättern bekämpften, nicht an. Kucharski war also keinesfalls „eine zentrale Persönlichkeit des Hamburger Zweigs der Weißen Rose“, sondern lediglich, wie es sogar in dem zitierten Buch heißt, „neben dem Beschuldigten [Albert] Suhr und Margaretha Rothe der agitatorische Mittelpunkt ei-ner losen Vereinigung von Staatsfeinden“. Das stimmt, aber mit den ethischen Grundsät-zen der Weißen Rose, so auch die Ansicht seiner Schulkameradin Traute Lafrenz, hatte er nichts gemein. Kucharski setzte sich schon damals mit seiner Freundin und Hans Leipelt „für eine sozialistische Volksrepublik“ ein.
Traute Lafrenz kam 1943 in München mit nur einem Jahr Jugendhaft davon, da die Ge-schwister Scholl trotz ihrer Todesstrafe nichts verrieten, denn Traute Lafrenz hatte natür-lich zunehmend mehr an der Verbreitung der Flugblätter mitgewirkt. Nach der Haft fährt sie nach Hamburg zu ihren Eltern und erfährt dort, dass ihr Schulfreund Heinz Kucharski schon im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel sitzt. Da bekommt sie Panik und will in die Schweiz fliehen. Warum? Weil Kucharski ein schulbekannter Feigling war und sie ahnte, was nun auf sie zukäme.
Traute Lafrenz war es, die als erste ein Flugblatt – und zwar das dritte –aus München mit nach Hamburg gebracht hatte, später auch Hans Leipelt ein anderes, so dass dadurch erst die Gelegenheit gegeben war, von einer Weißen Rose Hamburg zu sprechen.
Die Filmemacherin Katrin Seybold charakterisierte Traute Lafrenz so:
„Sie ist die Initiatorin der Münchner Leseabende, gibt Flugblätter an Kommilitonen weiter, bringt sie nach Wien und Hamburg. Als Vater Scholl von seiner Angestellten Inge Wilke denunziert worden war, hilft sie in dessen Büro, nach der Verhaftung der Geschwister Scholl warnt sie Josef Furtmeier, Kurt Huber, ihre Wirtsleute und fährt nach Ulm zur Fami-lie. Sie versucht, für Christoph Probst ein Gnadengesuch von dessen Frau zu erhalten, säubert mit Werner Scholl die Wohnung von Sophie und Hans von weiterem Belastungs-material und hat den Mut – wie keiner sonst –, am Begräbnis der Scholls teilzunehmen.“
Als sie nach ihrer zweiten Verhaftung dem Gestapo-Vernehmer Hans Reinhard zugeführt wird, überreichte er ihr „ein Vernehmungsprotokoll von rund fünfzig Seiten: die Aussage von Heinz Kucharski. Er war ein halbes Jahr zuvor verhaftet worden. Ich habe keine Ahnung, was sie mit ihm gemacht haben, ob er gefoltert wurde oder was, aber in der Aussage stand alles, ja, mehr als das! Es war als bekäme man mit der Faust einen Schlag ins Gesicht.“
Über die ebenfalls inhaftierte Lehrerin des Hamburger Lichtwark-Gymnasiums, Erna Stahl, die überhaupt nichts von den Flugblättern wusste, reflektierte Traute Lafrenz:
„Sie war nirgendwo aktiv dabei gewesen – sie hatte nur ihre pädagogischen Ideen entfaltet und hatte eine weitaus differenziertere Fähigkeit zur Reflexion. Das war alles für sie viel schlimmer als für mich.“
Während eines Transportes in einer sogenannten „Grünen Minna“ vom Gefängnis ins Gestapo-Hauptquartier traf sie mit Heinz Kucharski zusammen. Aus ihrer Erinnerung spielte sich das Folgende ab:
„Was hast du getan“, fragte ich, „was hast du dir dabei gedacht? Du hast so viele denunziert!“
„Ja“, antwortete er, „das ist unsere einzige Chance! Du musst das auch machen. Du musst ihnen viele Namen präsentieren!“
Er meinte, man müsse dadurch das Verfahren in die Länge ziehen, damit sie dann von den Alliierten befreit werden könnten.
Keineswegs war Traute Lafrenz bereit, ganz nach dem Vorbild der Geschwister Scholl, an-dere zu denunzieren und damit mit hereinzuziehen. Für sie war Kucharskis Vorschlag „ein völlig unmoralischer, machiavellistischer Plan“.
Nach dem Krieg, den er nach seiner Flucht als Überläufer bei der Roten Armee überlebte, wurde er in Hamburg nicht als politischer Gefangener anerkannt, demzufolge nicht entna-zifiziert. Er bekam keine Arbeit und ging in die Ostzone.
Beide, sowohl Kucharski als auch Hans Scholl, begannen „als Idealisten; aber da, wo Hans wuchs – vom Führer innerhalb der Hitler-Jugend bis hin zum Aktivisten und Symbol für die Widerstandsbewegung in Deutschland –, schrumpfte Heinz Kucharski zu hand-lungsunfähiger Angst zusammen.“
Als ich das erste Mal im Stasi-Untersuchungsgefängnis saß und nicht wusste, wer mir mit zu diesem Aufenthalt verholfen hatte, versuchte ich Kucharski auf Nachfrage des Verneh-mers insofern zu schützen, indem ich so tat, als kenne ich ihn nur ganz flüchtig und schrieb auch seinen Namen bewusst falsch, hinten mit y.
Da wusste ich noch nicht, dass er ein fleißiger und erfolgreicher Stasi-Mitarbeiter war, der auch viele Auszeichnungen und Privilegien erhielt. Vier Kollegen allein aus meiner Künst-lergruppe waren im Stasi-Knast. Über alle hatte er berichtet.
1962 begann sich die Stasi für Kucharski zu interessieren. Zuvor hatten ihn die „sowjeti-schen Freunde“, also der KGB, für sich reserviert. Doch diese Verbindung war „schon seit Jahren eingeschlafen“.
In diesem zweiten Gespräch mit Stasi-Unterleutnant Voigt in einer Konspirativen Woh-nung wurde notiert:
„Zunächst erzählte er eingangs einiges über sein bisheriges Leben, ohne dabei aufzutra-gen. Das meiste war dem Unterzeichneten bekannt. Daran knüpfte er dann die Frage, ob ihm (dem GI) denn alles noch anhängen würde, wie z. B. sein Zusammenbrechen in der Haft, die Preisgabe von Namen an die Gestapo […] uam.“
Am Ende des Berichtes gibt es noch eine „Einschätzung“:
„Der GI hat starke individualistische Neigungen und spielt zur Zeit den etwas überraschten und verstörten Bürger. Er ist jedoch egoistisch genug und weiß sehr gut, dass Zusammen-arbeit mit uns, für ihn keine Nachteile mit sich bringt [sic!]. Er ist der Typ, der sich gern her-vortut und nach Anerkennung verlangt. Er wird versuchen, künftige Aufgaben nicht nur schlechthin, sondern gut zu lösen.“
1969 erklärte er seinem Stasi-Vorgesetzten Ltn. Tinneberg, „dass er nunmehr die Anträge für die Aufnahme in den DSV [Deutschen Schriftsteller Verband], für die Anerkennung als VVN [Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes] und auch für seine Wiederaufnahme in die SED gefertigt hat und sich um eine schnelle Bearbeitung bemüht.“
Die Stasi hatte natürlich keine Probleme mit Denunzianten, gar noch mit solchen, die ein schlechtes Gewissen hatten, denn die waren besonders gut erpressbar oder gut zu len-ken. Andererseits entstammten die verantwortlichen Politiker, denen sie brav dienten – vor allem jene, die ihr Exil im Moskauer Hotel Lux überlebt hatten – einer Stalin total ergeben-en Funktionärskaste, die, um sich selber zu retten, selbst ihre besten Freunde oder eng-sten Verwandten denunzierten und diese damit zumeist dem Tod oder jahrzehntelangen Hafturteilen überließen. Und das wusste freilich jeder vom Anderen auch.
Als Kucharski dann in der DDR alles gelungen war, was er im Westen nie erreicht hätte, plagten ihn im Jahre 1970 wieder einmal die Zweifel. Sein Stasi-Vorgesetzter mit dem Decknamen „Reinhardt“ notierte:
„Er gibt das Bild einer sich immer weiter zerrütteten Persönlichkeit, hat Schuldkom-plexe in bezug [sic!] auf die Verhaftung der Mitglieder der ‚Weißen Rose‘ durch die Gesta-po, indem er sich jetzt fragt, ob an seiner damaligen Verhaltensweise, nach seiner Verhaft-ung alles in Ordnung gewesen sei. Er meint jetzt, da er als erstes Mitglied der WR verhaf-tet wurde, er nun für die weiteren Verhaftungen und den Vollstreckungen von Todesurtei-len bei seinen Freunden eine gewisse Mitschuld trägt.“
Konsequenzen? Keine! Noch 1986 wird er nach Hamburg geschickt, um die noch leben-den Gegner seiner feigen, egoistischen und perversen Haltung mit Hilfe der Stasi und der DKP in die rechte Ecke zu drängen.
Der relativ junge und durchaus umstrittene Historiker Prof. Dr. Sönke Zankel, der die Mit-glieder und Unterstützer der Weißen Rose München äußerst kritisch unter die Lupe nahm, indem er auch die Vernehmungsberichte der Gestapo mit einbezog, kam zu dem Schluss:
„Wirklich standhaft blieb kaum einer der Verhörten, am ehesten noch Traute Lafrenz und Falk Harnack und lange Zeit noch Willi Graf. Im Gegensatz zu Lafrenz versuchte Har-nack dabei primär, sich selbst zu schützen.“
Und Peter Normann Waages Recherchen zur zweiten Verhaftung von Traute Lafrenz er-gaben:
„Während der Vernehmungen in Hamburg führte die Kenntnis von Kucharskis umfassender Aussage dazu, dass Traute sich darauf konzentrierte, ihre frühere Lehrerin, Erna Stahl, zu verteidigen und zu rehabilitieren. Und sie wies konstant Kucharskis unmor-alischen Plan ab, so viele wie möglich zu denunzieren, um die eigene Haut zu retten. Sie selbst beharrt darauf, eine Zeitzeugin zu sein, keine Heldin.
Was lehrt uns das? Auch unter den politischen Gefangenen in Cottbus unter der Ägide der Kommunisten gab es Verräter, also Stasi-Spitzel. Manche, wie zum Beispiel ein Hals-Na-sen-Ohren-Arzt, der dann nach seinem Freikauf in der Stadt Hof praktizierte und sich poli-tisch aktiv auf unserer Seite engagierte, arbeitete noch vom Westen aus für die SED, die man laut Gerichtsbeschluss durchaus als „Verbrecherpartei“ bezeichnen darf. Die Stasi war „Schild und Schwert“ der SED-Führung. Auch wenn deren Partei dann mehrfach ihren Namen gewechselt hat, so existiert sie noch heute als Rechtsnachfolgerin und darf uns alle sogar mitregieren. Die Verantwortlichen dieser Partei, abgesehen von ihren naiven Mitläufern, versuchen weiterhin mit aller Macht, Geschichte in ihrem Sinn und nach ihrem ideologischen Muster umzudeuten.
Als ich wegen sogenannter „staatsfeindlicher Hetze“ zwischen 1974 und 1976 im Cottbu-ser Gefängnis einsaß, konnte ich natürlich nicht wissen, dass 30 Jahre zuvor Frauen der Weißen Rose aus Hamburg hier eingesessen haben und dazu auch noch denselben Ver-räter hatten wie ich. Dass ich dort leichtsinnigerweise eine handgeschriebene Zeitung in Umlauf setzte unter dem Titel „Armes Deutschland“ habe ich dennoch der Weißen Rose zu verdanken, denn sie war mir damals schon ein Vorbild. Das vergrößerte Jugendfoto von Traue Lafrenz hängt in meinem Cottbuser Büro.