Verletzte Kunst – Der schöne Taumel vor dem Fall

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In meinem Buch „Der schöne Taumel vor dem Fall“ (Gerhard-Hess-Verlag 2017) habe ich versucht, einen häufigen Fehler konservativer Kulturkritiker und Philosophen zu korrigieren. Diese stehen der modernen Kunst, also etwa abstrakter Ungegenständlichkeit und Atonalität, oft verständnislos gegenüber oder lehnen sie sogar mehr oder weniger radikal ab. Umgekehrt ist aber auch die Begeisterung der sich selbst „progressiv“ nennenden, meist politisch links stehenden Befürworter der modernen Kunst oft naiv und kritiklos.

Ich will jetzt gar nicht auf die genaue Definition von „Moderne“ hinaus und schon überhaupt nicht darüber schreiben, seit wann und ob wir uns schon in einer „Nachmoderne“, „Postmoderne“ oder „Post-Postmoderne“ befinden. Grob dürfte der Bruch mit der traditionellen Kunst in der Malerei mit Paul Cézanne und in der Musik mit Claude Debussy einsetzen. Er wird dann ganz deutlich bei Picasso und Braque beziehungsweise bei Arnold Schönberg und Igor Strawinski.

Während die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg teilweise noch Kunst hervorgebracht hat, die sowohl von den Linken als auch von Konservativen anerkannt wurde, hat sich das Bild nach dem Zweiten Weltkrieg insofern radikalisiert, als Minimalismen wie die von Yves Klein und Piet Mondrian oder Automatismen wie der von Jackson Pollock genauso weitgehendes Unverständnis oder Ablehnung bei Konservativen hervorriefen wie die Serielle und die Elektronische Musik. Bekannte Kritiker waren zum Beispiel José Ortega y Gasset („Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst“) und Hans Sedlmayr („Verlust der Mitte“) sowie, die Neue Musik betreffend, der Musikwissenschaftler Friedrich Blume und der Dirigent Ernest Ansermet.

Doch viel entscheidender war und ist die Ablehnung, ja, – und das ist fast noch schlimmer – das Desinteresse großer Teile des potentiellen Publikums. Dieses wich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts meist auf Kitsch und die populäre und Rockmusik aus. Der Grund dafür dürfte in der spontanen Überzeugung breiter Bevölkerungskreise gelegen haben, dass in der modernen Kunst Verfall und/oder Verrücktsein, bestenfalls Abgehobenheit herrschten. Demgegenüber bin ich davon überzeugt, dass die jeweiligen Zeiten nach den Weltkriegen zwar verständlicherweise Werke des Protests beziehungsweise einer fast völligen Neuorientierung brachten, viele dieser Werke sich aber nicht darin erschöpften, sondern echte Kunstwerke waren, ja, dass vor allem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besonders fruchtbare Zeit für die Kunst war.

Dennoch „stimmt etwas nicht“ mit diesen Kunstwerken. Sie sind irgendwie „nicht stimmig“. Deshalb wähle ich für sie den Begriff der „verletzten Kunst“. Ich will ihn an zwei Künstlern erläutern: Joseph Beuys und Karlheinz Stockhausen.

Zunächst: Beide Künstler verehre ich, was naturgemäß voraussetzt, dass ich ihr Werk gut kenne. Meine Verehrung ist keineswegs kritiklos, aber das erscheint mir selbstverständlich. Auch bei Michelangelo oder Mozart kann dies und das sachlich, also anhand rein künstlerischer Prinzipien, kritisiert werden. Sie haben neben Meisterwerken auch weniger Gelungenes geschaffen. Das ist aber nicht der Punkt, auf den ich hinaus will. Ich beziehe mich unter anderem auf Arbeiten, die ich zu Beuys und Stockhausen verfasst habe. Sie finden sich in dem oben erwähnten Buch.

Beide Künstler sind ursprünglich katholische, tief religiöse Menschen. Kunst ist für sie das, was sie für wahre Künstler immer war und immer sein wird: ein „Flugschiff zum Göttlichen“, wie Stockhausen es ausdrückte. Bei Beuys braucht man nur an die zentrale Bedeutung des Kreuzes in seinem Werk zu denken, beim Musiker sagen Werktitel wie „Gesang der Jünglinge (im Feuerofen)“ oder „Inori“, was auf Japanisch „Gebet“ heißt, im Grunde schon alles.

Nun war der Lehrer von Beuys, Ewald Mataré, bekanntlich ein gläubiger Katholik. Fast seine gesamte Arbeit zeugt davon; man denke nur an die Kölner Domtüren. Und einer der Lehrer von Stockhausen, Olivier Messiaen, hat seine einzige Oper über den Heiligen Franziskus von Assisi geschrieben und bis zuletzt bei sonntäglichen katholischen Gottesdiensten die Orgel gespielt. Wir sehen bei diesen Künstlern neben der weltanschaulichen auch eine handwerkliche Einheitlichkeit, trotz der für Kreative unvermeidlichen und wünschenswerten harmonischen Weiterentwicklung dessen, was man ihren „Stil“ nennen kann.

Was ist nun bei den Schülern zerbrochen? Zunächst haben sie sich von der Katholischen Kirche abgewandt. Dieses Abwenden von einer institutionalisierten Religionsgemeinschaft bis zum Kirchenaustritt wird heute gerne heruntergespielt, ausgehend von der willkürlichen Trennung von öffentlicher Kirche und angeblich nur privatem Glauben. Man könne doch „Christ“ bleiben ohne in einer Kirche zu sein (was aber nur formal durch die Taufe stimmt); die Amtskirche und ihre Vertreter seien unwürdig (als ob man selbst würdiger sei) und so weiter. De facto handelt es sich aber um einen Akt des Stolzes, um eine Selbstüberhebung und in den allermeisten Fällen in der Konsequenz um einen Verlust an Glauben.

Bei Stockhausen kann das sicher festgemacht werden an seiner Unfähigkeit, nach den Normen der Kirche, das heißt aber auch: des Christentums zu leben. Er wollte mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet sein oder zumindest zusammenleben und außerdem noch weitere sexuelle Beziehungen haben. Daher hat er sich exkommuniziert und dann eine synkretistische Religion gezimmert. Hier zeigt sich die Richtigkeit des Arguments des Philosophen Bernard Bolzano für den Grund der religiösen „Zweifelsucht und Ungläubigkeit“: Es ist ein „lasterhafter Wille. Das Bewußtseyn nämlich, gewisse Handlungen begangen zu haben, die in einer bestimmten, oder auch überhaupt in allen auf Erden herrschenden Religionen für unerlaubt und strafwürdig erklärt werden, namentlich aber der Wille, solche Handlungen auch noch in Zukunft auszuüben, erzeugt unmittelbar dein Wunsch, die Religionen, die diese Handlungsweise verbieten, für falsch halten zu können, um auf diese Art a) minder strafwürdig zu seyn; denn wer diese Religionen […] für falsch halten würde, der würde eben deßhalb durch ihre Uebertretung nicht sehr verantwortlich werden.  b) um ruhiger leben zu können; denn wer an die Strafen, mit denen die meisten Religionen auf Erden die Übertretung ihrer Vorschriften theils schon in diesem, theils erst im künftigen Leben bedrohen, nicht glaubt, der entgeht zwar darum noch nicht diesen Strafen, aber er lebt doch so lange, als sie nicht wirklich über ihn einbrechen, ruhiger fort.“

Bei Beuys ist mir kein konkreter Anlass bekannt. In einem Gespräch mit Horst Schwebel sagte er aber: „Die Kirche als Organisation ist meines Erachtens tatsächlich nicht mehr fähig, über das Christentum etwas auszusagen. Es sei denn, sie würde ihre Organisationsform auflösen und sagen, das alles an Organisation von evangelischer Kirche, katholischer Kirche, mit dem ganzen Papsttum und all dem … wir lösen das Ganze auf.“ Er riet Theologiestudenten zum Kirchenaustritt. Beuys kritisierte also vor allem den Machtaspekt der Kirche und das Quasi-Staatsbeamtentum der Priester in Deutschland. Es ist die von alters her bekannte, in der realen Welt aber wohlfeile Forderung nach einer armen Kirche. Beuys kam teilweise auch von der „Fluxus“-Bewegung her, die Kunst weniger „ästhetisch“ als „sozial“ motiviert sah.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, warum beide Künstler keine Kraft besaßen, dem Trend zum Kirchenaustritt zu widerstehen. Beide Künstler waren vom Krieg traumatisiert, wie man heute in psychologisierender Sprache sagt, sie waren verletzt: Beuys als Jagdflieger mit der legendären Rettung durch Nomaden nach einem Absturz, Stockhausen als Vollwaise, dessen Mutter dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer fiel, während der Vater von der Front nicht mehr zurückkehrte. Beuys hatte Mitte der Fünfzigerjahre eine klinisch manifeste Depression überstanden, Stockhausen geriet im Schicksalsjahr 1968 in eine schwere Krise, in die ihn seine Polyamorie getrieben hatte. Ohnehin sensible Typen, die von den Erfahrungen im Krieg und als Kriegskind noch sensibler gemacht wurden.

Gleichzeitig haben beide Künstler an der spirituellen Dimension der Kunst entschieden festgehalten. Doch ist ihr Denken erschüttert worden, unabhängig davon, ob man diese Erschütterung positiv oder negativ sieht. Relativisten werden positiv auf die Vermengung verschiedenster, eigentlich unvereinbarer Weltanschauungen reagieren und von erfreulicher „Vielfalt“ sprechen, Freunde konsistenter Logik werden hingegen hier einen bedauerlichen Verlust an Stringenz konstatieren. Beuys begann in seiner Kunst „schamanistische“ Züge zu entwickeln, er wurde von Rudolf Steiner und den Rosenkreuzern beeinflusst; Stockhausen verarbeitete Einflüsse aus verschiedenen Weltreligionen ebenso wie die Schriften des „Sehers“ Jakob Lorber oder das „Urantia“-Buch, eine nordamerikanische „Offenbarungs“-Schrift. Diese Einflüsse können nicht ernsthaft mit dem Christentum vereinbart werden. Das Wort von der „Spiritualität“ zeigt bereits die Beliebigkeit an, mit der „Geistig-geistliches“, wie Stockhausen es nannte, gesucht wurde. Bei Beuys blieben Christus und das Kreuz immerhin vage im Zentrum, worauf ich gleich noch näher eingehe.

Dennoch blieben Beuys und Stockhausen gegenüber einem immer aggressiver und intoleranter werdenden materialistischen linken Zeitgeist standhaft, dem selbst diese synkretistische Religiosität noch zu viel war. Nicht einmal das konnte er akzeptieren. Vielleicht war aber der tiefere Grund für die unversöhnliche Feindschaft, dass das Zerbrechen, von dem oben gesprochen wurde, nicht vollständig war. Die neue kulturmarxistische Linke spürte, dass sowohl Beuys als auch Stockhausen noch zu viel vom verhassten Katholizismus verkörperten.

Nicht umsonst sprach der „Spiegel“-Journalist Klaus Umbach gehässig, ja, wie sich aus seinen in beschämender Weise geführten Interviews mit Stockhausen schließen läßt, hasserfüllt vom „rheinischen Bauernbuddhismus“ Stockhausens. In seinem Werk LICHT, einem Zyklus aus sieben Opern, wurde der Komponist schließlich immer christkatholischer: Der SONNTAG, die zuletzt komponierte Oper, die Stockhausen bezeichnenderweise Gott gewidmet hat, kennt Engelschöre und Litaneien, die Musik klingt so gläubig wie das „Magnificat“ Franz Liszts am Schluß des zweiten Satzes der „Dantesymphonie“, das den auf Richard Wagners Warnung hin nicht komponierten dritten Satz, der das Paradies vertonen sollte, dann doch, versteckt, verwirklichte. André Golob bezeichnet Beuys in einem Artikel über dessen „Stuttgarter Kreuzigung“ als „Mystiker“ und schreibt über Beuysens Nachfolge Christi: „Man denkt an jenes Photo, das ihn während des »Gemeinschafts-Happenings« in der Technischen Hochschule Aachen zeigt. Blutend nach einem Faustschlag, der ihn ins Gesicht getroffen hat, hält Beuys ein hölzernes Kruzifix mit einer Geste empor, die wohl nur als Bekenntnis zu verstehen ist.“ Dem Zeitgeist, der vor allem in der praktischen Theologie stark an der so genannten Entmythologisierung gearbeitet hat, hat sich Beuys in einem Gespräch mit Friedhelm Mennekes auf überraschende Weise deutlich widersetzt: „Es wird aufgeräumt mit einer bestimmten Sicht vom Christentum, als handle es sich um ein wichtiges historisches Ereignis. Ich hab mich stark gegen diese Art sozialdemokratischen Christentums gewandt, ganz gleich, ob das Dorothee Sölle war, Karl Barth oder Rudolf Bultmann. Ich habe mich dagegen gewehrt, als handle es sich bei diesem Christus um eine historische Figur.“ Und nach diesen überraschenden Qualifizierungen seiner theologischen Gegner, so Golob weiter, kommt Beuys zu dem, was ihm wesentlich ist: „Mir ging es um die Wirklichkeit dieser Kraft, eine stetig anwesende und sich verstärkende Gegenwart.“ Das mag man mystisch nennen, doch erkennt Beuys hier die urkatholische Erfahrung von der ewigen Gegenwart Christi an, wenn auch mit einer unglücklichen Wendung, denn natürlich handelt es sich bei Christi Leiden und Auferstehung um das zentrale historische Ereignis überhaupt.

Man mag nun einwenden, was die erschütterte Weltanschauung der beiden Künstler mit ihrer Kunst zu tun habe, warum diese „verletzt“ genannt werden müsse. Der Philosoph Nicolás Gómez Dávila schreibt: „Die modernen Kunstwerke, die wir ohne Einschränkung bewundern, sind alle ohne Ausnahme Niederlagen der modernen Mentalität“. Und: „Jedes Werk spricht uns von Gott, was es auch sage.“ Es ist völlig klar, dass mit einer modernen Mentalität keine großen Kunstwerke entstehen können. Modern bedeutet säkular, naturalistisch, materialistisch, relativistisch, nihilistisch. Die Kunst bleibt dann naturgemäß im Materiellen hängen und geht nicht darüber hinaus. Sie ist bloßes, meinetwegen virtuoses Handwerk, aber nichts mehr. Das Publikum, das noch Interesse zeigt, aber selbst materialistisch, relativistisch und letztlich nihilistisch erzogen wurde, wird bei bloßem Kunsthandwerk nichts vermissen. Ihm fehlt nichts, wenn es mit oberflächlich materieller Ästhetik bedient wird. Deshalb sind wenigstens die Kunstausstellungen auch gut besucht und werden ständig Kunstpreise verliehen.

Bei Beuys und Stockhausen handelt es sich um die womöglich letzten Rückzugsgefechte religiös unterlegter und damit echter Kunst. (Das schließt nicht aus, dass nach wie vor große Kunst im medial Verborgenen entsteht.) Beide Künstler haben aber unter den Hammerschlägen der herrschenden naturalistischen, materialistischen Weltanschauung eine konsistente Religiosität nicht mehr beibehalten können. Deshalb ist ihre Kunst verletzt. Sie ist nicht stimmig, weil sie nicht aus einem Guss, sondern teilweise konsistent, teilweise inkonsistent ist. Deshalb stehen bei Beuys neben subtilen Zeichnungen und bewegenden Skulpturen auch belanglose Plastiken und Happenings, bei Stockhausen neben großer Musik auch Ertüfteltes und Plattes. Wohlgemerkt: Es geht nicht um die bei allen, also auch den weltanschaulich stimmigen Künstlern bestehenden Qualitätsunterschiede unterschiedlicher Werke und Werkepochen, sondern um Werke innerhalb eines Œuvres, die strenggenommen nicht mehr als Kunst bezeichnet werden können und deren Vorkommen angesichts der Meisterwerke, die diese Künstler auch geschaffen haben, den unvorbereiteten Betrachter oder Hörer überrascht – natürlich nur, wenn er nicht materialistisch, relativistisch und nihilistisch erzogen wurde.

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Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.