Seit den Koalitionsverhandlungen in Thüringen vom Herbst 2014 wird verstärkt in den fünf Ländern Mitteldeutschlands und im ehemaligen Ostberlin über das Thema diskutiert, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Letzter Höhepunkt war die Diskussion, die die „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ in Berlin am 23. Juni 2015 veranstaltete. Teilnehmer waren der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Lengsfeld (1972), der älteste Sohn der Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld( 1952), und von der Gegenseite Steffen Bockhahn (1978) von der LINKEN.Die Diskussion im Salon der „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ (Franz-Mehring-Platz 1) leitete Tom Strohschneider, der Chefredakteur von NEUES DEUTSCHLAND. Das Thema hieß „War die DDR ein Unrechtsstaat?“, ein Satz, der in den Jahren nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 nur eine rhetorische Frage gewesen wäre. Philipp Lengsfeld ist, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, promovierter Physiker und sitzt seit 2013 im DEUTSCHEN BUNDESTAG. Steffen Bockhahn war 2009/12 Landesvorsitzender der LINKEN im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und saß 2009/13 im DEUTSCHEN BUNDESTAG, seitdem ist er Senator in Rostock. Die vierbändige Dokumentation „Unrecht als System“ ist den frühen DDR-Jahren 1949 bis 1961 gewidmet, danach konnte sie nicht mehr erscheinen, weil wegen des Mauerbaus am 13. August 1961 die Flucht nach Westberlin oder über die innerdeutsche Grenze nur noch in Ausnahmefällen möglich war und die, denen die Flucht gelungen war, eher Arbeitszeugnisse, Meisterbriefe oder Abiturzeugnisse, am Körper versteckt, mit sich führten als, sofern sie einmal verurteilt gewesen waren und in DDR-Zuchthäusern gesessen hatten, Anklageschriften und Gerichtsurteile, die ohnehin viel umfangreicher waren. Überhaupt wundert sich der Leser, dass der in Westberlin 1949 gegründete und 1969 ins GESAMTDEUTSCHE INSTITUT überführte UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS FREIHEITLICHER JURISTEN, der diese Dokumentation in den Jahren 1952/62 erarbeitet und herausgegeben hat, den Unrechtsstaat DDR und seine Justizpraxis mit einer solchen Fülle von Dokumenten belegen kann. Nun ist der Ausschuss von ehemaligen DDR-Juristen gegründet worden, die nach Westberlin geflohen waren, aber noch jahrelangauf konspirativen Wegen Verbindungen zu früheren Kollegen an DDR-Gerichten hatten, die ihnen einschlägige Dokumente zuspielten. Ich erinnere mich, dass ich meine Anklageschrift für eine Nacht in der Zelle zu lesen bekommen hatte und am nächsten Morgen wieder abgeben musste, mit Urteil und Urteilsbegründung wurde genauso verfahren, damit der politische Gefangene, den es offiziell nicht gab, nichts in der Hand hatte, womit er die Willkür des Staates, der ihn verfolgt hatte, beweisen konnte.
Erst 1992, als die Archive von „Staatssicherheit“ und DDR-Justiz zugänglich waren, habe ich aus Leipzig meine Unterlagen zugeschickt bekommen. Versuche, während der Untersuchungshaft Anklageschrift und Urteilsbegründung auswendig zu lernen, mussten aus verständlichen Gründen misslingen. Aber selbstverständlich haben bis zum 13. August 1961 von Ostberlin nach Westberlin geflohene DDR-Bewohner solche Unterlagen mitgebracht, in den Jahren 1959/60 bis zur „Vollkollektivierung“ der Landwirtschaft (31. März 1960) auch Landwirte und Landarbeiter, die den Beitritt zur LPG verweigert hatten und deshalb verhaftet und verurteilt worden waren. In den vier Bänden sind Dutzende solcher Urteile abgedruckt, oft auch mit dem Vermerk, dass der betreffende Zeitzeuge N.N. vorübergehend im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde lebe. Ich habe im Sommer 1961, noch vor meiner Verhaftung in Leipzig, Will Trempers (1928-1998) Spielfilm „Flucht nach Berlin“ (1961)gesehen, in dem das „Bauernlegen“ in der DDR-Provinz thematisiert war. Bei Gesprächen im Zuchthaus Waldheim haben wir oft gespottet, es gäbe nicht nur drei LPG-Typen, sondernvier: „Der Bauer im Westen, das Land ist hier!“
Diese vierbändige Dokumentation, die nur noch in wenigen Bibliotheken vorhanden ist und über die Fernleihe bestellt werden kann, umfasst 1110 Seiten und liest sich wie ein unendlicher Kriminalroman. Sie erschien 1952 (240 Seiten), 1955 (294 Seiten), 1958 (284 Seiten) und 1962 (292 Seiten). Der vierte und letzte Band ist sicher der aufregendste, weil hier auch wenige Zeugnisse abgedruckt sind, die aus der Zeit nach dem 13. August 1961 stammten. Da wurden auch Ostberliner oder DDR-Bürger aus den Randgebieten Ostberlins, die bis 1961 in Westberlin gearbeitet hatten, verhaftet und verurteilt, weil sie Mauerbau und Verlust des Arbeitsplatzes psychisch nicht verkraften konnten. Dazu gibt es ein Buch des geflohenen DDR-Psychiaters Dietfried Müller-Hegemann (1910-1989)„Die Berliner Mauerkrankheit“ (1973).
Vergleicht man den Erkenntnisgewinn, den man aus diesen Dokumenten über die DDR-Justiz und das Wirken der „Staatssicherheit“ schöpft, mit den Arbeiten heutiger DDR-Forscher, die nach 1989 geboren sind und den SED-Staat nur in der „Papierform“ kennen, so stellt man fest: Hier wird offensichtlich von zwei verschiedenen Staaten gesprochen!
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