Am frühen Morgen des 9. September 1988, einem Freitag, fuhren 18 DDR-Bürger aus Ilmenau in Thüringen nach Ostberlin, um gegen Mittag die Dänische Botschaft zu besetzen und dadurch ihre Ausreise zu erzwingen. Der Zeitpunkt war günstig gewählt, denn für Dienstag, 13. September, war Staatsbesuch angesagt: Der dänische Ministerpräsident Poul Schlüter wollte mit der DDR-Regierung über Fischereirechte in der Ostsee verhandeln.
Auf diesen Termin hatte die kleine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern seit Jahren gewartet. Noch am Abend des 1. September, als Wolfgang Mayer, Lehrer in Ilmenau und Organisator des waghalsigen Unternehmens, in der thüringischen Zeitung „Freies Wort“ vom bevorstehenden Besuch des Ministerpräsidenten gelesen hatte, trafen sich die Ausreisewilligen, um die Einzelheiten der geplanten Aktion durchzusprechen.
Jeder von ihnen, das war Bedingung, musste beim Rat der Stadt Ilmenau einen Ausreiseantrag gestellt haben; striktes Stillschweigen sollte gewahrt und auch in Telefongesprächen keine Andeutungen gemacht werden; die Schulkinder sollten wegen Fernbleibens entschuldigt werden; überschwenglisches Verabschieden von Verwandten, die Verdacht hätten schöpfen können, sollte vermieden werden; die einzelnen Familien sollten in großen Abständen auf der Autobahn fahren, das Tempolimit unbedingt einhalten und keine weißen Fähnchen, das Erkennungszeichen der „Ausreiser“, anbringen. Um 4.00 Uhr morgens am 9. September sollte aufgebrochen werden, um den Parkplatz an der „Straße der Pariser Kommune“ in Berlin bis 9.00 Uhr zu erreichen.
Nachdem alles durchgesprochen und beschlossen war, kamen die schlaflosen Nächte. Besonders Wolfgang Mayer, der zwei Tage früher aufgebrochen war, litt darunter. Dass seine Sorgen berechtigt waren, erkannte er daran, dass die Abmachungen nicht eingehalten wurden. So waren die Ilmenauer am Vormittag des 9. September nicht in zeitlichem Abstand, sondern in einem Pulk von vier Autos zugleich auf dem Parkplatz eingetroffen. Außerdem hatten sie ein ausreisewilliges Ehepaar mitgebracht, das Wolfgang Mayer völlig unbekannt war, wodurch das Risiko des Scheiterns erhöht wurde. In der Gästewohnung des Ostberliner Pfarrers Werner Widrat im 15. Stock eines Hochhauses wurde jetzt noch einmal jede Einzelheit besprochen, schließlich zeigte Wolfgang Mayer das Transparent vor mit der Forderung, die er in der Nacht auf ein Bettlaken gemalt hatte: „ In Freiheit wollen wir uns wähnen, und zwar genauso wie die Dänen!“ Dann kam der Aufbruch in mehreren Familiengruppen zur Dänischen Botschaft Unter den Linden 41, die über den Hintereingang der Komischen Oper zu erreichen war. Um 11.30 Uhr betraten die Ilmenauer ex-territoriales Gebiet.
Die dänische Botschaftssekretärin war höchst verwundert, als am Freitagmittag, kurz vorm Wochenende, plötzlich eine Gruppe aufgeregter Deutscher auftauchte, die den Botschafter zu sprechen wünschte. Wie Wolfgang Mayer später in seinem Buch „Dänen von Sinnen“ (1990) berichtete, hatte sie aber schnell begriffen, worum es ging: „Sie merkt, dass die Luft brennt und eilt sofort in einen der Nebenräume, um den Diensthabenden zu informieren.“ Da Botschafter Erik Krog-Meyer nicht anwesend war, nahm sich Botschaftsrat Henning Becker-Hansen der Fluchtwilligen an und verwies sie der Botschaft. Später erschien er dann mit einer Liste, wo sich jeder Ilmenauer mit Anschrift einzutragen hatte und erklärte, er hätte mit dem DDR-Außenministerium telefoniert, wo ihm Straffreiheit für die Fluchtwilligen zugesichert worden wäre, sofern sie die Botschaft verließen.
Über ein solches Angebot konnten die Ilmenauer, die über schreckliche Erfahrungen mit DDR-Behörden verfügten, nur lachen. Die Flüchtlinge, die im Vorraum der Botschaft eingeschlossen waren wo sie seit Stunden hungrig und durstig ausharrten, riefen in ihrer Verzweiflung die Ständige Vertretung in der Hannoverschen Straße an, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Nach diesem Anruf wurde der Telefonanschluss stillgelegt. In der Nacht um 2.30 Uhr überfielen, von der Botschaft ermächtigt, zwei Dutzend MfS-Leute die Flüchtlinge, verbrachten sie ins Stasi-Gefängnis Magdalenenstraße, wo die sieben Männer und sechs Frauen verhaftet und die vier Kinder in ein Kinderheim des „Ministeriums für Staatssicherheit“ verbracht wurden. Ohne Nachtschlaf wurden die 13 Erwachsenen zwölf Stunden verhört und die sieben Männer am 12. Oktober vom Stadtgericht Berlin-Lichtenberg unter Vorsitz des berüchtigten Richters Jürgen Wetzenstein-Ollenschläger zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, die „zur Bewährung“ ausgesetzt wurden. Am 22. März erfolgte die Ausreise der 18 Ilmenauer mit dem Interzonenzug.
Schon in der Woche nach der Botschaftsbesetzung sah sich Botschafter Erik Krog-Meyer, der in Westberlin wohnte, heftigen Angriffen der dänischen Presse ausgesetzt, die ihm vorwarf, dem internationalen „Ansehen Dänemarks geschadet“ zu haben. Vor allem wurde kritisiert, dass die wehrlosen Flüchtlinge „von der Botschaft an die DDR-Behörden ausgeliefert“ und dass zuerst das DDR-Außenministerium eingeschaltet wurden und dann erst die dänische Regierung. Der hart bedrängte Botschafter wurde abgesetzt, begann zu trinken und verstarb am 9. September 1990.
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