Vier Jahrzehnte lebte er in Kaisborstel, einem Dorf von 75 Einwohnern bei Itzehoe in Schleswig-Holstein, wohin er im Herbst 1979 aus dem SED-Staat vertrieben worden war. Da war er schon, auch in Westdeutschland, ein berühmter Schriftsteller, der nach seinem ersten Gedichtband „Wegschilder und Mauerinschriften“ (1950) noch vier Dutzend weitere Bücher (Gedichtbände, Erzählungen und einen Roman) veröffentlicht hatte. Wer schon vor dem Mauerbau im Sommer 1961 die DDR-Literatur aufmerksam beobachtete, konnte frühe Gedichte von ihm in der Anthologie „Deutsche Lyrik auf der anderen Seite“ (1960) des niederländischen Literaturkritikers Ad den Besten finden.
Das Kriegsende 1945 war für ihn, den 15jährigen Schüler, der als „Halbjude“ kein Abitur machen durfte, wie eine Erlösung aus ständiger Todesangst, nachdem alle Verwandten seiner jüdischen Mutter in Konzentrationslagern umgebracht worden waren. Jetzt konnte er in Ostberlin fünf Semester Grafik studieren und wurde 1948 SED-Mitglied. Die Freundschaft mit Bertolt Brecht (1898-1956), die damals entstand, zeigte ihre stilbildende Wirkung auch in seiner Lyrik. Noch zu DDR-Zeiten wurde er als Gastdozent 1972 nach Austin/Texas und 1975 nach Warwick/England berufen. Da er diese Länder mit wachen Augen und Ohren bereiste, entstanden so wunderbare Bücher wie „Der andere Planet. Ansichten von Amerika“ (1974) und „Ein englisches Tagebuch“ (1978).
Zuhause in Ostberlin freilich hatte er ständigen Ärger mit der Zensur. Wer die Liste seiner Veröffentlichungen von 1963 bis 1979, dem Jahr der Ausreise, durchsieht, entdeckt allein elf Bücher, das bekannteste davon „Die Schreie der Fledermäuse“ (1979), die im Münchner Hanser-Verlag erschienen sind. Dorthin konnte er ausweichen, wenn seine Texte am Ort ihrer Entstehung abgelehnt wurden. Das Gedicht über den blinden König Tharsos, der über die griechische Insel Xantos herrscht., erschienen 1963 in der „Weltbühne“, erregte besonderes Aufsehen: Der von Geburt blinde König hat in seinem Reich die Produktion von Lampen verbieten lassen „als unnötigen Luxus“, weil er sie nicht brauchte. Von DDR-Lesern wurde diese Parabel sofort verstanden, von Westlesern erst auf Umwegen! Einmal hat Günter Kunert auch ein Hörspiel über Goethe geschrieben, dem seine berühmte Italienreise von den DDR-Behörden verboten worden war. In seiner Autobiografie „Erwachsenenspiele“ (1997), die nur bis 1979 reicht, hat er die Zumutungen durch die DDR-Zensur beschrieben.
Mit der Ausreise 1979 begann sein neues Leben. Er erhielt einen Literaturpreis nach dem anderen, auch wenn ihm der wichtigste, der Darmstädter „Georg-Büchner-Preis“, versagt blieb. Mit zunehmendem Alter wurde er pessimistischer und skeptischer, was die Zukunft der Menschheit anging, das Attribut „männliche Kassandra“ hat er gerne angenommen. Am 21. September ist er an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben, zwei Tage nach seinem Tod erschien in München sein letzter Gedichtband „Zu Gast im Labyrinth“.