Bei der Wahl zur Nationalversammlung in Venezuela hat „El Comandante“, der sozialistische Präsident Hugo Chavez, erstmals seit 2005 wieder den direkten Gegenwind der Opposition zu spüren bekommen. Zwar errang sein Parteienverbund PSUV die Mehrheit im Parlament, verfehlte jedoch die angestrebten zwei Drittel der Stimmen, um ohne Verhandlungen mit der Opposition Gesetze verabschieden zu können. Die Gegenseite MUD („Tisch der Einheit“) errang dabei 65 der 165 zu vergebenden Sitze; geht man jedoch von der reinen Zahl der Stimmen aus, hätten die Chavez-Gegner sogar noch mehr Sitze errungen. Dass das reine Stimmenverhältnis, das bei etwa 50 zu 50 lag, immer noch ein so deutliches Ergebnis zugunsten des „Comandante“ ergab, verdankt dieser vor allem Wahlrechtsreformen, die seine Klientel begünstigen.
Die Diskussion um das Wahlergebnis und die Reaktion der ausländischen Kommentatoren sind symptomatisch für die Lage im Land und außerdem ein wichtiger Indikator für die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren. Spätestens dann wird sich nämlich zeigen, ob es Chavez gelingt, noch eine ausreichende Mehrheit zu mobilisieren. Die jetzige Wahl, bereits mit enormem Aufwand und kompromissloser Polarisierung betrieben, war somit nur die Generalprobe für 2012, denn dann wird sich nicht nur das Schicksal Venezuelas entscheiden, sondern gewissermaßen die Zukunft Lateinamerikas: Denn dann steht die Idee des von Chavez und anderen avisierten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auf dem Prüfstand.
Einstweilen bleibt das Land das, was es seit Chavez’ Amtsantritt als Präsident im Jahr 1998 gewesen ist: der Schauplatz eines Kampfes der Systeme, das Laboratorium eines von links geführten politischen Innovationsversuchs inmitten der globalistischen Stürme, der, wenn man ein Auge auf die Begleiterscheinungen wirft, einer „Operation am offenen Herzen“ gleichkommt.
Chavez arbeitet spätestens seit dem gescheiterten Putsch gegen ihn im Jahr 2002 an einer massiven Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft seines Landes. Dazu hat er sich mit dem Höchstmaß an politischer Vollmacht ausgestattet, welches institutionell zu erreichen war, ohne die Demokratie formell abzuschaffen und eine Diktatur zu errichten. Er hat Schlüsselbereiche wie Ölförderung, Stromnetz und Telefonnetz verstaatlicht, reihenweise Eliten ausgetauscht und eine Neuordnung des Agrarsektors angeordnet, die aber nur schleppend vorankam, da sie auf militanten Widerstand der Großgrundbesitzer stieß. Begleitet wurden diese Umbaumaßnahmen von engagierten Sozialprogrammen, den Misiones, deren Ziele unter anderem der Aufbau einer umfassenden Gesundheitsversorgung, die Bekämpfung des Analphabetismus und die Etablierung eines flächendeckenden Netzes von Supermärkten zur Sicherung der Grundversorgung waren.
Außenpolitisch schmiedete Chavez Bündnisse und Kooperativen mit nahezu allen prominenten Gegnern der USA, darunter Kuba, China, Iran und Brasilien. Diese „antiimperialistische Politik“ findet möglicherweise sogar Niederschlag in einer Unterstützung der kolumbianischen Guerillatruppe FARC; eine Verbindung ist jedoch bisher nicht zweifelsfrei bestätigt. Mit dem Amtsantritt Obamas sollte ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen den USA und Venezuela, die wirtschaftlich stark miteinander verbunden sind, beginnen; bisher hat sich hier allerdings nichts Nennenswertes getan.
Auf seinem Weg zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat Chavez bisher nur zwei Dämpfer hinnehmen müssen, einen davon bei der soeben erfolgten Wahl zur Nationalversammlung. Den anderen, schwerwiegenderen, seine einzige Wahlniederlage, erlitt er 2007, als in einem Referendum sein politisches Grundsatzprogramm mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde. Dieses beinhaltete traditionelle sozialistische Maßnahmen wie Rätemacht („kommunale Demokratie“), Arbeitszeitverkürzung, Verbot bzw. Enteignung von Großgrundbesitz und die Aufhebung der Unabhängigkeit der Nationalbank.
Beobachter befürchten nun, dass Chavez versuchen wird, einige dieser Punkte noch schnell durchzupauken, bevor das neue Parlament in drei Monaten seine Arbeit aufnehmen wird. Dies ist umso wahrscheinlicher, als der Umbauprozeß durch die weltweite Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 ins Stocken geraten ist. Auch Venezuela, mit seiner starken Abhängigkeit vom Erdölexport, blieb davon nicht verschont und erlebte einen wirtschaftlichen Abschwung, der für Chavez’ Rückhalt in der Bevölkerung nicht folgenlos blieb.
Unterdessen geht unterhalb des politischen Tagesgeschäfts der ‚Klassenkampf‘ unvermindert weiter. Venezuelas Mordrate ist eine der höchsten der Welt, sie ist in den Nuller Jahren stetig gestiegen und war dort höher als in den Bürgerkriegsländern Kolumbien und Irak. Dies liegt neben der immer noch grassierenden Armut und Perspektivlosigkeit in den städtischen Slums vor allem an der Polarisierung der Gesellschaft in ein sozialistisches und ein antisozialistisches Lager: hier die überzeugten Chavisten, darunter ein Großteil der Besitz- und „Anteilslosen“ (Rancière); dort die bürgerliche Allianz der Sozialdemokraten, Christdemokraten, Kapitalisten und Katholiken. Hinzu kommen die große Verbreitung von Schusswaffen und das Fehlen einer funktionierenden Polizei; im Gegenteil herrscht dort, auch als Folge des politschen Kampfes, Korruption vor.
Die Frage wird also sein, ob es Chavez trotz dieses neuerlichen Rückschlags gelingen wird, bis zur entscheidenden Wahl 2012 auch nur die drängendsten Probleme zu lösen: Stabilisierung der Wirtschaft, Verbesserung der Sicherheitslage – möglicherweise auch durch Entschärfung der politischen Debatte – sowie die wirksame Fortsetzung der Maßnahmen zur Verbesserung des Lebens des armen und ärmsten Teils der Bevölkerung. Ansonsten könnte der Traum vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ sehr schnell ausgeträumt sein.
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