Unerträgliches Selbstmitleid

Ein Kommentar zum Rücktritt Horst Köhlers

Am 31.5.2010 erklärte Bundespräsident Horst Köhler in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz überraschend seinen sofortigen Rücktritt.
Der von ihm genannte Hintergrund seines Rücktritts war ein am 22.5. ausgestrahltes Interview über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Köhlers Äußerung, ein Land mit einer Orientierung auf den Außenhandel müsse erkennen, dass „im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit auch auf unsere Chancen zurückschlagen (…), bei uns durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.“[1]
Diese Aussage traf auf harsche Kritik vor allem aus den Reihen der Oppositionsparteien. Der Parlamentsgeschäftführer der SPD, Thomas Oppermann, erklärte, dass das Grundgesetz keine Wirtschaftskriege gestatte.[2] Jürgen Trittin von Bündnis 90/Die Grünen bezeichnete Köhler als „lose rhetorische Deckskanone an der Spitze des Staates.“[3] Die Linken, die die deutsche Teilnahme am Krieg in Afghanistan immer wieder kritisierten, fühlten sich durch die Aussage Köhlers dahingehend bestätigt, dass dort ein „Krieg um Einfluss und Rohstoffe“ ausgetragen werde.[4] Verteidigungsminister zu Guttenberg äußerte erst auf Anfrage, dass der „Einsatz in Afghanistan“ nicht ökonomischer Natur sei, sondern auf einem UN-Mandat basiere.[5] Angela Merkel erklärte:[6] „Als Verfassungsorgan äußere ich mich nicht zu Äußerungen des Verfassungsorgans Bundespräsident.“
Nach dieser Kritik erklärte Köhler, dass er mit seiner Ausführung nicht den „Afghanistan-Einsatz“ gemeint habe, sondern zum Beispiel den „Einsatz gegen Piraten am Horn von Afrika“.[7]
Mit selbst inszeniertem Pathos und zur Schau getragenem Selbstmitleid verkündete Köhler daraufhin in einem kurzen Statement 10 Tage nach seiner Stellungnahme:[8] „Meine Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 22. Mai dieses Jahres sind auf heftige Kritik gestoßen. Ich bedauere, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen.“
Gleichzeitig bat beim fassungslosen Publikum um „Verständnis“ für seine Entscheidung.
Dieses eingeforderte „Verständnis“ zeigten jedoch die wenigsten. Hagen Strauss kritisierte in den Aachener Nachrichten:[9] „Wenn Köhler tatsächlich so dünnhäutig und empfindlich sein sollte, dann hätte er sich auch nicht derart in die Tagespolitik einmischen dürfen, wie er es getan hat. Der Bundespräsident ist zwar erster Mann im Staate, der achtungsvoll behandelt werden muss. Aber er ist deshalb nicht unangreifbar. Großen Respekt, den Köhler ja vermisst, hat er für diesen Schritt nicht verdient. Wer so aus dem Amt geht, muss sich fragen lassen, ob er diesem überhaupt jemals gerecht werden konnte. (…) Köhler nimmt nun in Kauf, dass die vielen Menschen, die ihn gemocht und vertraut haben, ratlos zurückbleiben. (…) Das ist wahrlich kein feiner Zug des Mannes im Schloss Bellevue.“
Die „Neue Zürcher Zeitung“ konstatierte:[10] „Auch ein deutscher Bundespräsident agiert nicht im politikfreien Raum. Sein Amt ist eine Verpflichtung, und wer dieser nicht mit einem Mindestmaß an Resonanz nachkommt, wird sich nicht wundern müssen, wenn er mit der Zeit in das Räderwerk des parteipolitischen Dauerstreits gerät“, meint die „Neue Zürcher Zeitung“. „Schade um die Person. Aber auch schade um das Amt.“
Die taz sprach in ihrer Berichterstattung von dem „beleidigten Präsidenten“.[11] SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles schüttelte den Kopf:[12] „Die Kritik an Köhler rechtfertigte keinen Rücktritt.“ Wolfgang Thierse, SPD-Bundesvizepräsident, urteilte:[13] „Ich halte den Rücktritt auch am Tag danach weder für zwingend noch für ausreichend begründet. (…) wer sich wie Köhler als politischer Präsident verstand und politische Bewertungen vornahm, der muss auch politischen Widerspruch ertragen.“ Die Süddeutsche Zeitung schrieb:[14] „Es hat wohl noch nie jemand dem Amt des Bundespräsidenten so großen Schaden zugefügt, wie es (…) Horst Köhler getan hat. Köhler hat die Präsidentschaft dieses Landes nicht bedächtig niedergelegt, etwa weil ihn Krankheit oder ernste Umstände im Familienkreise dazu gezwungen hätten. Nein, er hat das höchste Amt im Staate hingeworfen, weil er beleidigt ist. Er ist darüber beleidigt, dass ihm, der ja auch immer ein politischer Bundespräsident sein wollte, politische Kritik entgegengeschlagen ist.“
Köhler hat nicht nur dem Amt des Bundespräsidenten einen nie da gewesenen Schaden zugefügt, sondern auch der Diskussionskultur in einem demokratischen System. Der Inhalt von Demokratie beschränkt sich nämlich keinesfalls auf bloße Wahlen oder andere Abstimmungen. Vielmehr gehört eine allumfassende und allgegenwärtige Diskussion innerhalb aller Gesellschaftsmitglieder als Ausgangspunkt aller Politik dazu. Im steten Meinungs- und Argumentsaustausch finden einzelne Menschen zueinander, passen ihre Ansichten neu gewonnenen Erkenntnissen an und kommen so über den Weg der Reflektion zu einer mehr oder weniger mehrheitsfähigen Willensbekundung.
Köhler negiert mit seinem Selbstmitleid des Kritisierten dieses Prinzip. Der elementare Grundsatz, auch die kritischen Gegenargumente politisch Andersdenkender aushalten zu können, findet bei einem der höchsten Vertreter der BRD keine Anwendung.
Dass er als Bundespräsident auch eine Vorbildsfunktion vor allem für jüngere Generationen besitzt, interessierte ihn keinen Augenblick.
Wie sollen Akteure der politischen Bildung Kindern oder Jugendlichen die elementaren Prinzipien Anrecht und Akzeptanz der Meinungen von anderen Personen vermitteln, wenn der Bundespräsident auf diesem Gebiet wie ein kleines Kind nach einem Streit das Feld räumt?
Muss man jetzt Befürchtungen haben, dass der/die nächste Bundespräsident(in) beim kleinsten Gegenwind wieder zurücktritt?
Kein Bundespräsident kann eine sakrosankte Stellung beanspruchen, wenn es um den Austausch von Argumenten geht. Niemand darf eine solche Stellung beanspruchen.
In der Vergangenheit mussten viele Bundespräsidenten mit öffentlicher Kritik fertig werden. Als Richard von Weizsäcker in seiner Rede vom 8.5.1985 den 8.5.1945 als „Tag der Befreiung“ vom Nationalsozialismus bezeichnete, wurde er besonders von nationalkonservativen Vertretern angegriffen, die in diesem Datum das „Ende des deutschen Nationalstaates“ und den „Beginn der deutschen Teilung“ sahen.[15] Damals gab es keine Inszenierung des Selbstmitleides bei von Weizsäcker und natürlich auch keine Rücktrittsgedanken.
Wenn man sich ansieht, dass in der Vergangenheit und Gegenwart Politiker wie Merkel, Westerwelle oder Lafontaine –auch unsachlich- in der Öffentlichkeit kritisiert wurden und dennoch nicht in Wehklagen oder Selbstmitleid ausgebrochen sind, zeigt sich ein unreifes Persönlichkeitsmerkmal bei Horst Köhler. Es ist kein Geheimnis, dass jede Person, die eine verantwortliche Stellung in der BRD anstrebt, mit gerechtfertigter oder auch ungerechtfertigter Kritik umgehen muss. Andernfalls sind diese Personen fehl am Platz.
Dies soll nicht bedeuten, dass nur noch Politiker wie Adenauer, Kohl oder Schröder mit der Machtgier eines Niccoló Machiavelli verantwortliche Stellungen erhalten sollen. Ellenbogenmentalität ist nicht gefragt, sondern eine selbständige und lernwillige Persönlichkeit.
Köhler sonnte sich gerne im Applaus von Teilen der Bevölkerung und der Medien. Nun als Buhmann bei einer öffentlichen Diskussion dazustehen, konnte und wollte er nicht verkraften. Aus diesen Gründen ist sein Rücktritt zu befürworten, sogar zwingend angemessen.
Die Aussage zu seinem/r Nachfolger(in) innerhalb von Regierungskreisen, dass es „nicht erneut ein Quereinsteiger wird“, zeigt eine gewisse Distanz in der Retrospektive zur Person Köhlers.[16] Wer dies letztendlich werden sollte, sie/er muss den Versuch unternehmen, den von Köhler verursachten Schaden am Amt des Bundespräsidenten zu reparieren und sich gleichzeitig als verlässlicher(e) Diskussionspartner(in) zu erweisen.


[1] Zitiert aus Aachener Nachrichten vom 1.6.2010, S: 3 [2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Aachener Nachrichten vom 25.5.2010, S. 4
[8] www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,697798,00html
[9] Aachener Nachrichten vom 1.6.2010, S: 2
[10] Neue Zürcher Zeitung vom 2.6.2010, S. 6
[11] www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/der-beleidigte-praesident/
[12] www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,697897,00.html
[13] Aachener Nachrichten vom 2.6.2010, S. 3
[14] Süddeutsche Zeitung vom 1.6.2010, S. 2
[15] Gaus, G.: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, München 1986, S. 23
[16] Aachener Nachrichten vom 2.6.2010, S. 3

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Über Michael Lausberg 572 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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