„Und deshalb glaube ich, dass wir in zehn Jahren eine viel bessere journalistische Qualität erreichen werden“ – Interview mit Mathias Döpfner

Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, im Gespräch mit Kai Anderson und Jane Uhlig

ANDERSON: Viele Verlage haben die Herausforderungen für Verlage im Internetzeitalter erst spät erkannt. Sie haben die Digitalisierung eigentlich von Anfang an als Chance verstanden und es geschafft, Axel Springer zu einem führenden digitalen Verlag in Europa zu machen. Wie ist Ihnen das gelungen?

DÖPFNER: Für mich waren die Chancen der Digitalisierung von Anfang an sehr naheliegend. Ende der 90er Jahre habe ich als Chefredakteur der Welt einen Kommentar geschrieben. Der Tenor lautete: Es gibt für Medienunternehmen eigentlich nur drei Prioritäten: erstens Internet, zweitens Internet, drittens Internet. Es war damals schon seit einigen Jahren erkennbar, dass sich ein dramatischer Wandel ereignet. Wenn man sich diesen mit gesundem Menschenverstand angesehen hat – nicht vernebelt durch die eigenen Wünsche –, konnte man erkennen, dass neue Vertriebswege und neue Lesemöglichkeiten entstehen. Und dass sich daraus eine Menge Vorteile gegenüber den Printprodukten ergeben und sich unsere Branche und wahrscheinlich unsere ganze Gesellschaft verändern werden. Diese Erkenntnis kam zuerst. Das Zweite war, die Konsequenz daraus zu ziehen. Nicht zu versuchen, den Fortschritt oder die Veränderung zu verhindern und Schutzwälle zu errichten, sondern diese Entwicklung zum Vorteil des Unternehmens zu nutzen und sie mitzugestalten. Dass man nicht immer genau wusste, wie etwas werden würde, ist auch klar. Es gibt in diesem Zusammenhang ja auch das schöne Zitat von Peter Drucker, dem Management-Guru und Lehrer, der geschrieben hat: „The best way to predict the future is to create it.“

UHLIG: Haben Sie im Laufe dieser Entwicklung auch auf Studien und Umfragen zurückgegriffen oder haben Sie sich auf Ihr Bauchgefühl verlassen?

DÖPFNER:Es kann gefährlich sein, sich auf Studien zu verlassen. Die eine Studie sagt, Zeitungen werden immer leben. Die andere Studie sagt, bald werden sie ganz weg sein. Wie Studien sich irren können, zeigt ein konkretes Beispiel. Als wir die euphorischsten Annahmen zur Entwicklung der Werbeerlöse im Internetzeitalter vor zehn Jahren in der Vorstandssitzung diskutiert haben, war allen klar: Dieses Szenario ist bestimmt viel zu optimistisch. Und was kommt heraus? Die Annahmen waren viel zu vorsichtig. Die Veränderungen sind noch viel gravierender ausgefallen, die Volumina der Werbeerlöse sind heute noch viel größer als damals prognostiziert. Ich setze viel auf den gesunden Menschenverstand, auf schonungslose Ist-Beobachtung. Um daraus abzuleiten, wie sich die Dinge entwickeln werden. Und noch einmal: Ich halte es nicht für einen Verdienst, das erkannt zu haben. Das konnte jeder sehen.

ANDERSON: Anfang der Nuller Jahre war die New-Economy-Blase geplatzt, der erste Kater war da, das war die Zeit als Sie als Vorstandsvorsitzender übernommen haben in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Wie viel Überzeugungskraft hat es damals gebraucht zu sagen: „Wir setzen trotzdem auf die Digitalisierung.“

DÖPFNER: Mein Anliegen, die WELT in eine digitale Marke zu verwandeln, wurde zunächst zurückgewiesen. Das passe überhaupt nicht in die Landschaft. Der Internet-Boom sei gerade geplatzt, das werde nichts mehr mit dem Internet. Ich war mir damals sicher: Natürlich wird das noch was, wir erleben nur gerade nach einer heftigen Überreaktion in der Frühphase ein bisschen Abkühlung. Und jetzt wäre der beste Zeitpunkt, antizyklisch zu investieren. Zwei Jahre später bekam ich dann selber die Chance, als Vorstandsvorsitzender bestimmte Weichen zu stellen. Und selbst dann war es noch immer schwer genug, alle davon zu überzeugen.

ANDERSON: Inwiefern?

DÖPFNER: Es gab drei strategische Prioritäten: Erstens die Stärkung des deutschsprachigen Kerngeschäfts, zweitens die Internationalisierung des Unternehmens und als dritte, wichtigste Priorität die Digitalisierung. Und dazu haben viele gesagt: „Jetzt übertreibt der aber!“ Und: „Das wollen wir doch nochmal sehen mit dem Internet…das wird doch nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird.“ So auch die Schlagzeile, als ich Vorstandsvorsitzender wurde und meine Strategie verkündete: „Jugend forscht“.

ANDERSON: Wie wurde Ihre Strategie im Unternehmen aufgenommen?

DÖPFNER: Natürlich war es anfangs auch intern keine Selbstverständlichkeit, Verbündete zu finden und die Skepsis in den Bestandsgeschäften zu überwinden. Aber ich war der Meinung, dass es besser sei, sich selbst zu kannibalisieren, als von anderen kannibalisiert zu werden. Das sagt sich als Betroffener, dem gerade etwas weggenommen wird, aber doch schwerer. Und deswegen gab es am Anfang erhebliche Widerstände. Dieser Widerstand hat sich erst durch eine wichtige Grundsatzentscheidung in Unterstützung gewandelt: Wir haben beschlossen, die digitalen Geschäfte nicht herauszutreiben aus dem Konzern und sie wegzuhalten vom Kerngeschäft. Sondern wir haben sie in gemeinsamen Verantwortungsketten Schritt für Schritt voll integriert. Eine Grundsatzentscheidung, die uns von beinahe allen Wettbewerbern rund um die Welt unterschieden hat. Ihr lagen folgende Überlegungen zugrunde: Das Digitalgeschäft machte damals vielleicht 2Prozent aus. Wenn man jetzt 2Prozent oder 5Prozent oder selbst 10Prozent digitale Verantwortung in Stellung bringt gegen 98 oder 95 oder 90Prozent analoge Verantwortung, dann gewinnt nicht die Minderheit, die die Zukunft gestaltet, sondern die Mehrheit, die die Vergangenheit verteidigen will. Und kulturell gilt: Die, die das neu gestalten, gewinnen; die, die das Alte verteidigen, verlieren. Die Verantwortlichen für die analogen Geschäfte hatten immer nur schlechte Zahlen zu präsentieren und Argumente, warum sie nichts dafür konnten, weil der Markt ja noch viel schlechter sei usw. Bei den digitalen Verantwortlichen war die Stimmung bombig. Die Reichweiten stiegen und das Geschäft entwickelte sich gut. Und so erging es vielen Verlagen. Und das Motto war, von der New York Times bis zur FAZ: Die Digital-Typen sind so anders als die analogen, die müssen weit weg, damit sie sich nicht stören und beeinflussen.

ANDERSON: Was war Ihre Reaktion?

DÖPFNER: Ich habe gesagt: Wir machen genau das Umgekehrte. Wir verbinden die beiden Gruppen. Wir schaffen eine integrierte Hierarchiepyramide, an deren Ende ein Chef steht, der für beides verantwortlich ist, für Digitales und Analoges, egal ob Inhalte, Technologie, Anzeigen und Werbevermarktung. Im Kern war, glaube ich, der entscheidende Hebel, der unsere Unternehmenskultur hin zur Digitalisierung verändert hat. Plötzlich gab es lauter Gewinner. Jeder hier im Unternehmen ist für die Digitalisierung seines Geschäftsmodells, seiner Marke, seiner Inhalte verantwortlich. Und damit war auch jeder für die erfolgreiche digitale Transformation verantwortlich. Und so treiben wir die digitale Transformation heute gemeinsam voran.

UHLIG: Viele waren der Meinung, der Journalismus würde durch die Digitalisierung schlechter. Sie haben von Anfang an das Gegenteil vertreten. Wie wurde das im Haus aufgenommen?

DÖPFNER: Wenn ich ganz ehrlich sein soll: Ich glaube, auch heute noch denken einige von mir: „Der spinnt!“. Einseitige Gefolgschaft gibt es nicht. Ich bin überzeugt: In der Natur des Online-Mediums liegen nur Vorteile. Sie können mit Online-Journalismus schneller und viel aktueller sein – 24Stunden rund um die Uhr. Sie können aber, wenn sie wollen, auch abwarten, etwa um in Ruhe über ein Thema nachzudenken. Sie sind flexibler. Außerdem können Sie wesentlich ausführlicher sein, weil sie unbegrenzten Platz haben. Das heißt, sie können viel tiefer, viel profunder sein. Sie haben Zugang zu anderen Informationsquellen, von der Online-Recherche bis hin zur Intelligenz ihrer Leser. Sie finden Fachleute, die sofort einen Fehler im Text korrigieren. Und Sie können die verschiedenen Mediengattungen, also etwa geschriebene Inhalte, bewegte Bilder oder Radioinhalte, zusammenmischen zu neuen kreativen Darstellungsformen. Damit wird Ihr Journalismus leser-, betrachter-, nutzerfreundlicher, vielfältiger, kreativer. Und natürlich ist der digitale Journalismus interaktiv. Sie können jederzeit auf die Bedürfnisse und Interessen ihrer Leser reagieren, sie können sehr spezielle, in die Tiefe gehende Angebote eröffnen. Und auch die Produktion vereinfacht sich: Kosten für Papier, für Druckereien, für den Transport der Zeitungen – all das fällt weg. Kurzum: Ich kann nur Vorteile erkennen. Und deshalb glaube ich, dass wir in zehn Jahren eine viel bessere journalistische Qualität erreichen werden.

ANDERSON: Wenn wir noch mal auf den Veränderungsprozess zurückkommen: Sie erwähnten Peter Drucker. Von Peter Drucker stammt ja auch der Satz: “Culture eats strategy for breakfast”. Wie viel Strategie haben Sie verordnet? Wie viele Impulse kamen von innen?

DÖPFNER: Wir haben als kulturelle Grundprinzipien im Unternehmen drei Werte definiert: Kreativität, Unternehmertum, Integrität. Sie müssen die besten kreativen Impulse haben, und zwar in allen Bereichen des Hauses. Sie müssen echte Unternehmer haben, die nach unten delegieren – nicht nach oben! – und Risiken eingehen, so agieren, als wäre es ihr eigenes Geld. Und sie brauchen, drittens, anständige Leute. Auf Basis dieser drei Werte haben sich eigentlich drei Prinzipien unserer Digitalisierung herauskristallisiert. Davon habe ich zwei schon genannt: keine Angst vor Selbstkannibalisierung und keine Silos, d.h. kein Kampf „analog gegen digital“. Das dritte Prinzip, und dieses knüpft vielleicht an Drucker an: Die Kultur ist wichtiger als die Strategie. Was heißt das? Bei Investitionen in neue junge Geschäftsmodelle und Unternehmen agieren wir nicht wie der klassische Großkonzern. Was macht der? Er integriert Assets nach allen Regeln der Managementkunst und erklärt von oben nach unten, was jetzt Sache ist: „In Zukunft holen wir die Pizza nicht mehr um die Ecke, sondern wir gehen in die Kantine mit der Essensmarke…und im Übrigen haben wir nicht mehr so und so viele Tage Urlaub, sondern so und so viel Tage…und Reporting-Gespräche finden jetzt immer montags um 10 statt, egal ob man sie braucht oder nicht!“ So infiltriert eine tendenziell träge und bürokratisch gewordene Großorganisation eine kleine, bewegliche, dynamische Neuorganisation mit alten Regeln und Prinzipien, zerstört damit die eigenständige Kultur, die Geschwindigkeit, die Motivation, die Inspiration – und am Ende auch den Wert des Assets. Also haben wir unser drittes Prinzip vereinbart: Maximale Toleranz für andere Unternehmenskulturen. Wir bieten die Synergien, die unser Unternehmen im Familienverbund hat, als Werkzeugkasten an. Jedes Unternehmen bei Axel Springer kann diese Instrumente nutzen, um sein Geschäft zu betreiben, um Werbung zu schalten, um über Cross-Promotion Verbundeffekte zu nutzen. Es gibt die Verkaufsorganisation, die hilft, Produkte besser zu verkaufen, und die internationale Infrastruktur, die hilft, zu internationalisieren. Es gibt Know-how, gerade auch IT-Know-how, Finanzmittel. Wer in der Axel Springer-Familie Bedarf hat, der mag sich bedienen. Wer glaubt, sein Geschäft besser ohne das alles zu betreiben, kann auch alles alleine machen. Wir lassen ihn in Ruhe, solange er das Budget einhält…

ANDERSON: …und die unternehmerischen Werte und Verfassung von Axel Springer akzeptiert?

DÖPFNER: So ist es. Sie sind der Kern. Mit dieser Strategie sind wir bisher gut gefahren. Es hat sich herausgestellt, dass die alte Regel gilt: „You cannot push the spaghetti over the table – you have to pull it”. Eine gekochte Nudel lässt sich nicht mit Gewalt über den Tisch schieben. Sie wird nur krumm. Wenn man an der Nudel zieht, dann geht das eben schnell. Und so muss man sicherstellen, dass die Leute ziehen. Ich erlebe gerade in der letzten Zeit ein wachsendes Interesse der vielen neueren, jüngeren Geschäfte, die sich zu Beginn kaum mit Axel Springer identifzieren konnten. Und jetzt möchten sie verstärkt kooperieren, zum Beispiel mit einer gemeinsamen IT-Lösung, die für uns alle zusammen viel günstiger und besser wird. Und so entstehen die Verbundeffekte. Die Großfamilie als Leitbild, vielleicht als eine Art Patchwork-Familie, in der es sehr unterschiedliche Familienmitglieder gibt. Wir haben viel Toleranz für Andersartigkeit und für Ausreißer und exzentrische Kinder solange wir, wenn es darauf ankommt, wirklich zusammenhalten und der Familienspirit besteht. Der ist erstens wertegebunden und zweitens leistungsgetrieben. Das sind die beiden Dinge, die dann wirklich zählen.

UHLIG: Und war es schwierig, diese Kultur zu etablieren? Immerhin ist Axel Springer ein Traditionsverlag, gegründet nach Kriegsende, geprägt vom alles überstrahlenden Axel Springer.

DÖPFNER: Ja und nein. Natürlich ist eine solche Veränderung schwierig. Es gibt diesen Satz von Gandhi: „Erst belächeln sie dich, dann bekämpfen sie dich und dann folgen sie dir!“. Und so ähnlich haben wir es auch erfahren. Am Anfang haben sie sich lustig gemacht. Dann haben sie gemerkt: „Oh, der meint es ernst!“. Dann wurde gekämpft. Und dann irgendwann sagte man: „Die Sache scheint zu funktionieren, da bin ich besser dabei.“ Ich glaube, das ist in jeder Organisation so – in der Auseinandersetzung außen und innen. Allerdings: Bei meinen Änderungen habe ich mich aus Überzeugung immer auch gerne auf Axel Springer berufen. Erstens haben meinen Kollegen und ich seine verlegerischen und unternehmerischen Werte durch den Veränderungsprozess wieder stärker betont. Wir haben sie aus der Mottenkiste des alten Traditionsballasts herausgeholt und gesagt: Werte sind etwas Modernes, sehr Motivierendes, Wichtiges. Sie sind für die Mitarbeiter wichtig, damit sie beitragen zu einem gesamten Ganzen. So haben wir die Springer-Werte mitgenommen. Wir haben den Standort Berlin, der Axel Springer immer am Herzen lag, zum Konzernstandort gemacht, das Unternehmen von Hamburg nach Berlin bewegt. Dazu kommt: Axel Springer war überaus technologieaffin und hat seinerzeit die modernsten Drucktechnologien eingeführt. Der erste, der mit Vierfarbdruck gearbeitet hat, der erste im Offsetdruck. Sicher würde er heute nicht herumsitzen und sagen: „Igitt, das Internet – Technologiekram, damit will ich nichts zu tun haben!“ Sondern er würde alles daran setzen, um an die Spitze der Bewegung zu kommen. Bei der Neuausrichtung des Unternehmens konnten wir uns also umfassend auf die Werte von Axel Springer berufen. Übrigens haben wir auch an Axel Springer gedacht, als wir unser Silicon-Valley-Projekt geplant und die drei wichtigsten Führungskräfte für neun Monate ins Silicon Valley geschickt haben. Wir haben uns gefragt: „Was würde eigentlich der Axel Springer machen, wenn er heute 40 Jahre alt wäre oder 30. Und wir waren uns einig: Er würde wahrscheinlich Facebook gründen. Aber dummerweise haben wir noch kein Facebook gegründet. Und die Erfindung der Bild-Zeitung ist auch schon lange her.

UHLIG: Und was haben Sie dann getan und geändert?

DÖPFNER: Uns war schnell klar: Wir müssen die glaubwürdigsten und wichtigsten Führungsfiguren unseres Unternehmens in die Pflicht nehmen. Aber: Wenn wir es ernst meinen, dann sollten wir auch den Mut haben, drei dieser Personen für längere Zeit dorthin zu schicken, wo digitale Innovation entsteht wie nirgendwo sonst auf der Welt – im Silicon Valley. Auch dieses Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir uns bei der Suche und Auswahl von Ideen immer wieder auch auf Axel Springer berufen konnten. Axel Springer war ja 1946 ebenfalls Startup-Unternehmer. Er hat den Verlag mit der gleichen Besessenheit nach vorne getrieben wie das ein Larry Page bei Google oder ein Mark Zuckerberg bei Facebook getan hat.

ANDERSON: Wie wichtig ist denn Besessenheit und Leidenschaft, um etwas erfolgreich zu machen?

DÖPFNER: Absolut erfolgsentscheidend. Ohne beides geht es nicht.

ANDERSON: Und wie kriegen Sie das in die Organisation?

DÖPFNER: Sicher durch die Auswahl der Leute, das ist ganz wichtig. Es hilft sehr, wenn man eine kritische Masse an Leidenschaftlichen und Besessenen und Befähigten hat. Diese inspirieren auch andere. Und natürlich gibt es immer ein paar, die nicht mitkommen oder die nicht mitwollen – aber ganz viele lassen sich dann doch auch gewinnen und motivieren.

ANDERSON: Das stelle ich mir für Ihr Printgeschäft nicht so schwer vor. Dort ist Axel Springer sicherlich eine erste Adresse. Jetzt suchen Sie aber Onliner und konkurrieren mit den Start-ups hier in Berlin. Wie gelingt Ihnen das?

DÖPFNER: Da wird Sie meine Antwort überraschen. Ich glaube, dass uns letzteres sogar leichter gelingt als die Suche nach Journalisten und guten Inhalten. Denn inhaltlich ist es leider so, dass dieses Haus immer noch mit den mittlerweile geradezu reaktionären Vorurteilen aus der 68er Zeit zu tun hat . Unser Haus hat damals auch Fehler gemacht. Der Verlag ist aber auch von ideologischen Gegnern positioniert worden. Dass diese Gegner zum Teil von der DDR bezahlt worden sind, ist heute keine Verschwörungstheorie mehr, sondern wissenschaftlich aufgearbeitete Tatsache.

ANDERSON: Und welche Ursachen hatte dies Ihrer Meinung nach?

DÖPFNER: Vor einigen Jahren haben drei Wissenschaftler von der FU Berlin ein sehr interessantes Buch vorgelegt – „Feind-Bild Springer: Ein Verlag und seine Gegner“. Darin kommen sie zu dem Ergebnis, dass etwa der Slogan ‚Enteignet Springer‘ Stasierfindung war. Von der DDR anschubfinanziert,sprangen westdeutsche Verleger wie Bucerius oder Augstein auf den Zug auf und haben ihrerseits noch ein bisschen Geld investiert, um den jungen Leuten beim Klassenkampf zu helfen… aber im Grunde ging es um die Schwächung Springers als Wettbewerber. Was ich sagen will: Diese alten Schlachten beeinflussen noch immer die Wahrnehmung der journalistischen Arbeit des Unternehmens Axel Springer in der Öffentlichkeit. Und das ist schade. Meine Überzeugung hingegen ist: Es gibt keinen Verlag, in dem Journalisten so frei und so plural arbeiten können wie bei uns! Und das sage ich mit großem Selbstbewusstsein, weil ich auch woanders gearbeitet habe – zehn Jahre bei der FAZ, sieben Jahre bei Bertelsmann, Gruner & Jahr. Trotzdem wird uns heute hier und da immer noch das Gegenteil unterstellt. Springer ist dann ein konservativer Meinungsmoloch. Da sitzt morgens der Vorstandsvorsitzende mit der großen Trommel und erklärt allen, wie nun kommentiert zu werden hat. Komisch, dass es dann regelmäßig so ausgeht, dass der eine für den EU-Beitritt der Türkei argumentiert und der andere am gleichen Tag dagegen.

ANDERSON: Woran erkennen Sie einen guten Journalisten?

DÖPFNER: Mit Sicherheit nicht daran, dass er einen eloquenten Eindruck beim Bewerbungsgespräch macht oder gar besonders adrett gekleidet ist. Sondern daran, dass er in einer unwiderstehlichen Sprache relevante Sachverhalte packend und faszinierend aufschreibt. Und am Ergebnis der Geschichte. Es ist ein großer Fehler, Journalisten an Formnoten zu beurteilen. Man müsste eigentlich Journalisten bei Bewerbungsgesprächen genauso behandeln wie Orchestermusiker, wenn sie Mitglied eines großen Orchester werden möchten. Jene spielen hinter einem Vorhang vor – man sieht sie nicht. Und so lenkt man die Konzentration auf das Wesentliche – die Inhalte.

ANDERSON: Jenseits der fachlichen Qualifikation: Was muss ein Mitarbeiter mitbringen, um in dieser Netzwerkorganisation erfolgreich zu sein? Um einen Beitrag zu leisten und vielleicht auch selber glücklich zu sein?

DÖPFNER: Individualität und eine wirklich eigenständige scharf profilierte Persönlichkeit., kein Mitläufertyp, niemand, der anderen nach dem Mund redet. Er sollte absolut sachlich und nicht politisch getrieben sein. Karriere als Selbstzweck funktioniert nicht – er muss eine inhaltliche oder auf jeden Fall fachliche Motivation haben. Und: Er oder Sie darf ruhig Spezialist sein. Wir brauchen also nicht nur Generalisten, die alles ein bisschen können, sondern genauso Leute, die eine Sache ganz besonders gut können. Schließlich: Er sollte leidenschaftlich, integer, weltoffen und vorurteilsfrei sein.

UHLIG: Wie erkennen Sie die Leidenschaft? Meiner Erfahrung nach fehlt bei einer Reihe von Journalisten die Leidenschaft.

DÖPFNER: Ich glaube, dass es bei Repräsentanten aller Berufsgruppen solche und solche gibt. Ein guter Journalist muss davon überzeugt sein, dass das, was er tut, das Wichtigste auf der Welt ist – und wenn er sich gerade mit einem Thema beschäftigt, dann haben sich gefälligst auch alle anderen mit diesem Thema zu beschäftigen. Und daraus resultiert ein inhaltliches Charisma, das den Inhalt unwiderstehlich macht, selbst für die, die sich eigentlich noch gar nicht dafür interessierten. Anders herum: Wer als Journalist nur träge danach fragt, was die Leser jetzt wohl hören wollen, der brennt ja gar nicht mehr. Und wer nicht brennt, kann niemanden anzünden. Ganz einfach.

ANDERSON: Welche Fähigkeiten zur Veränderung müssen Ihre Journalisten und Mitarbeiter mitbringen?

DÖPFNER: Die Vertriebswege, die Darstellungsformen, die Arbeitsweisen ändern sich – und vieles mehr. An inhaltlichen Qualitätsstandards und unseren Werten halten wir jedoch fest. Je besser man weiß, was man bewahren will, desto besser kann man sich radikal verändern. Und mit dieser Haltung haben wir unseren Mitarbeitern in den letzten Jahren sehr viele Veränderungen zugemutet. Wenn es so etwas gibt den „Veränderungsmuskel“, dann ist der bei uns besonders gut trainiert. Gestählt wie im Fitnessstudio. Weil wir uns kontinuierlich verändern, ist es für uns nicht mehr so schockierend, wenn es schon wieder nötig ist. Und die Mitarbeiter haben natürlich auch gelernt, dass sie für Veränderungen belohnt werden. Dass die Veränderungen Arbeitsplätze sicherer machen, weil sichere Arbeitsplätze Wertsteigerungen erfordern. Und dann sagt sich der Mitarbeiter: Jetzt haben wir uns schon dreimal verändert und dreimal was anders gemacht als früher – und das hat jedes Mal zum Ziel geführt.

ANDERSON: Zufriedenheit, soweit man blickt?

DÖPFNER: Im Gegenteil. Zufriedenheit leisten wir uns nicht. Wer zufrieden ist, der ist irgendwie träge, der wird auch schnell selbstzufrieden. Glück und Freude sollte man unbedingt empfinden und zulassen, auch Stolz auf das Erreichte. Aber niemals Zufriedenheit. Und deswegen wende ich mich gegen das bräsige Dasein des Marktführers, der alles erkennbar besser macht als andere. Es mag ja sein, dass wir unter den traditionellen Unternehmen unserer Branche in Europa vermutlich am besten dastehen.

UHLIG: Aber?

DÖPFNER: Das spielt keine Rolle für die Beantwortung der Frage, ob Axel Springer langfristig erfolgreich sein wird. Das wird entscheidend dadurch bestimmt, wie wir uns gegenüber den großen neuen digitalen Wettbewerbern aufstellen. Damit meine ich einerseits die großen Technologiegiganten Amazon, Facebook oder Google, andererseits die vielen disruptiven digitalen Verlagen wie Vox Media, Huffington Post, BuzzFeed oder Vice, die mit Start-up-Energie antreten und vielleicht alte Marken und Verlage einfach von der Bildfläche blasen. Angesichts dieser Herausforderungen besteht kein Anlass zu Zufriedenheit oder Selbstzufriedenheit.

ANDERSON: Wie gehen Sie mit Fehlern um?

DÖPFNER: Man sollte sich nicht von Fehlern entmutigen lassen. Die berühmte Fehlerkultur – das ist etwas, was wir im Silicon Valley lernen, d.h. Fehler machen, Fehler zulassen, Fehler schnell korrigieren. Allerdings: Manchmal habe ich das Gefühl, der Fehler wird fast schon verherrlicht. Natürlich ist es besser, wenn man viele Sachen richtig macht.

UHLIG: Wie motivieren Sie sich angesichts Ihrer langen Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender?

DÖPFNER: Ganz genau weiß ich es selbst nicht. Sicher spielt ein gewisses Grundnaturell eine Rolle. Außerdem weiß ich, dass die größten Herausforderungen noch vor uns liegen. Wenn man wirklich etwas langfristig Erfolgreiches gestalten möchte, gibt es auch in den kommenden Jahren viel Arbeit zu tun. Und drittens: Es wirkt enorm motivierend, wenn man positive Resonanz von Mitarbeitern bekommt. Und damit meine ich keine Komplimente. Es geht mir um das Gefühl, dass Mitarbeiter Freude haben an dem, was sie machen, dass sie am Erfolg Spaß haben, dass sie stolz darauf sind, in unserem Unternehmen zu arbeiten, dass sie mit Lust und Energie am Wettbewerb vorbeiziehen. Und schließlich hängt meine Motivation auch mit den Selbstzweifeln zusammen, die ich immer wieder bei meinen Entscheidungen habe. Wenn man die Zweifel überwindet und etwas macht, obwohl einem ganz viele sagen, das werde nichts, das sollte man so nicht machen – wenn man sich entscheidet und das dann aufgeht: Das ist ein tolles Gefühl.

UHLIG: Wann hatten Sie die meisten Zweifel?

DÖPFNER: Das dürfte ganz am Anfang meiner Amtszeit als Vorstandsvorsitzender gewesen sein, als wir die Auseinandersetzung mit Leo Kirch hatten. Ich hatte 30 Tage Zeit, um zu entscheiden, ob wir eine ‚put option’ gegen unseren zweitgrößten Aktionär – der als der größte Haifisch der deutschen Medienbranche galt! – ausübe oder nicht. Ziehe ich sie nicht, habe ich mein Selbstwertgefühl und meine Integrität gleich zu Beginn an der Garderobe abgegeben. Übe ich sie aus, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach drei Monaten entlassen bin, überragend hoch. Das waren keine erfreulichen Startbedingungen.

UHLIG: Und wie haben Sie es geschafft? Einfach durch und …?

DÖPFNER: Meine Erfahrung ist, dass mich großer Druck und große Probleme sehr konzentriert, sehr entschieden machen. Wir fassten also damals die Grundsatzentscheidung: Wir ziehen diese Angelegenheit nach bestem Wissen und Gewissen so integer, klar und sachlich wie möglich durch und weichen nicht vom Weg ab. Wir machen keinen falschen Kompromiss, verzichten auf Tricks und Scharaden. Wenn es gutgeht, dann haben wir es integer gewonnen, und wenn es schiefgeht, dann haben wir es integer verloren. Und vielleicht ist das die Lehre: Wenn Sie einmal so eine Schlacht mit diesem inneren Koordinatensystem für sich entschieden haben, dann ist es nachher kaum verlockend, wegen weniger wichtiger Auseinandersetzungen faule Kompromisse zu machen. Man bleibt bei dieser Linie.

UHLIG: Sie haben Musikwissenschaften und Geisteswissenschaften studiert und haben lange Zeit als Journalist gearbeitet. Heute sind Sie Unternehmer. Wie passt das zusammen?

DÖPFNER: Vielleicht waren mein Studienhintergrund und meine journalistische Tätigkeit sogar ganz gute Voraussetzungen. Beides hilft dabei, Axel Springer als Kreativunternehmen zu führen. Wer als Jurist oder Betriebswirt plötzlich mit einem anstrengenden, aber hochbegabten Reporter sprechen muss, ist vielleicht überfordert oder fühlt sich missverstanden. Aber ich glaube, man kann auch Medizin studieren einen Verlag erfolgreich führen. Mich haben die betriebswirtschaftlichen, kaufmännischen Aufgaben schon immer sehr interessiert, zum Beispiel das Verhandeln. Und es gab eine gewisse Ambivalenz: Ich wollte Journalist sein, aber ich wollte auch Unternehmer sein. Und das konnte ich hier in diesem Job so zusammenbringen. Deswegen bin ich jeden Tag froh, wenn ich ins Büro gehe.

Dieses Interview erschien in „Das agile Unternehmen – Wie Organisationen sich neu erfinden“ (Campus Verlag) von Kai Anderson und Jane Uhlig.

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