Völlig überraschend wurde der Münchner Literaturwissenschaftler am 7. Februar 2024 durch einen Unfall aus dem Leben gerissen. Der 1937 in Berlin Geborene floh im geschichtsträchtigen Jahr 1953 mit seinen Eltern aus der DDR. Er hat Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Durch seine jahrelange Mitarbeit an der historisch-kritischen Adalbert-Stifter-Ausgabe erwarb er sich bleibende Verdienste als Wissenschaftler und Editor. Über Thomas Mann hat er bei Professor Müller-Seidel promoviert, sein zweiter Autor, mit dem er sich ganz ausgiebig befasste, wurde indessen der bayrische Volksschriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967). Ganze 22 Jahre stand der Forscher an der Spitze der Graf-Gesellschaft. Noch an seinem letzten Tag saß er an einer Graf-Edition und abends am Graf-Stammtisch.
Der spätere Akademische Direktor begeisterte viele Studenten für den „bajuvarischen Gorki“ und er sorgte so dafür, dass am Münchner Stammtisch nicht ausschließlich Grauhaarige sitzen. Die Zahl seiner Graf-Publikationen, seiner Vorträge, seiner Ausstellungseröffnungen und Initiativen ist schwer zu ermitteln. In seinem Wohnort kämpfte er für eine Graf-Straße, einer seiner Enkel hört auf den Namen Oskar. Wichtiger wohl ist, dass Dittmann mit Hans Dollinger über Jahrzehnte das Graf-Jahrbuch redigierte. Vor allem seine im Allitera Verlag erschienene kleine, aber feine vierzehnbändige Graf-Taschenbuch-Ausgabe mit Texten, die etwas im Schatten der berühmten Bücher „Wir sind Gefangene“ und „Das Leben meiner Mutter“ stehen, wird bleiben.
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Ulrich Dittmann war ein streitbarer politischer Mensch. Am 3. Februar diesen Jahres reihte er sich in Seefeld in eine Demonstration gegen den Rechtsextremismus ein. Er hatte das Vermögen zuzuhören und genau hinzuschauen. Nach dem „Umbruch“ 1989 interessierte ihn nicht nur der deutsch-deutsche Literaturstreit, sondern auch die Frage, wie man in West und Ost mit „seinem“ Autor umging. Er wusste genauestens, warum manche Bücher Grafs in der DDR erschienen und in der Bundesrepublik nicht. Im Osten machte man aus politischen Gründen einen Bogen um den Wien-Roman „Der Abgrund“ und um die Autobiografie „Gelächter von außen“. Auch mit einigen Geschichten aus dem „Bayrischen Dekameron“ tat man sich in der DDR zunächst schwer. Der Kunstkenner Dittmann wußte indessen die Liebe ostdeutscher Graphiker für Graf-Texte zu schätzen.
Mit Ulrich Dittmann stand ich – als nach der „Wende“ ausgemusterter Graf-Forscher aus dem Osten – erstmals vor Oskars Geburtshaus, vor seiner Schule, vor seinem Grabe. Der Vorsitzende der Graf-Gesellschaft lud mich zum 100. Geburtstag des Erzählers ein, auch führte er mich am Stammtisch ein. Ich konnte auf zwei Konferenzen sprechen, mehrfach im Jahrbuch und im „Graf-Journal“ veröffentlichen. Dittmann stiftete den Kontakt zum Münchner Kirchheim Verlag, der zwei meiner Graf-Bücher drucken ließ. Kurzum, der nun verstorbene Mentor und Freund hatte dafür gesorgt, dass ich meine Würde zurückbekam, dass ich als Wissenschaftler wieder Boden unter den Füßen hatte.
Wie kann ich diesem solidarischen Menschen danken? Nur, indem ich mit anderen „Grafologen“ dafür sorge, dass unser gemeinsames Projekt– eine kommentierte Sammlung der Texte Grafs, die er für den New Yorker „Aufbau“ geschrieben hatte – zu einem guten Ende kommt.