Ein Standardwerk besonderen Art: Die Weimarer Klassikerstätten

weimar bibliothek goethe sehenswürdigkeiten gebäude, Quelle: bboellinger, Pixabay License Frei zu verwenden unter der Pixabay-Lizenz Kein Bildnachweis nötig

Wilfried Lehrke. Die Weimarer Klassikerstätten – Ereignisse und Gestalten. Eine Chronik, Band 5,1962-1967, Band 5. quartus –Verlag 2023. 488 Seiten, ISBN 978-3-947646-48-7

Der in Weimar lebende Philosoph Wilfried Lehrke hat nach einem Jahrzehnt Arbeit nunmehr mit dem fünften Band seine Weimar-Chronik abgeschlossen. Nach seinem 80. Geburtstag geht er davon aus, dass der fünfte auch sein letzter Band sein wird. Wer setzt dieses gewaltige Unternehmen wenigstens bis in die Phase des gesellschaftlichen Umbruchs 1989 fort? Die Buchreihe, angeregt durch Lothar Ehrlich, erschien in der von Dieter Höhnl geführten „Schriftenreihe des Freundeskreises Goethe Nationalmuseum“.

Abgebildet wird im jüngsten Band der Zeitraum von 1962 bis 1967. Warum sind gerade die in den Blick genommenen sechziger Jahre in der Geschichte der NFG wichtig? Eine der  zentralen Fragen lautete: Wird es nach 1961 gelingen, die Goethe-Gesellschaft, über die Grenze hinweg, zusammenzuhalten? Letztlich war dies eine politische Entscheidung, die ganz „oben“ entschieden wurde. Nach langen Debatten war es Walter Ulbricht, der das Bestreben der Mitglieder aus beiden deutschen Staaten unterstützte. Was die Professoren Helmut Holtzhauer (als Vizepräsident) und der Westberliner Germanist Andreas B. Wachsmuth (als Präsident) für den Erhalt dieser „gesamtdeutschen“ Literaturgesellschaft leisteten, kann kaum überschätzt werden. Trotz beträchtlicher politischer Differenzen und eines sehr unterschiedlichen Goethe-Verständnisses gelang es beiden Seiten, durch schwieriges Fahrwasser zu kommen. Angedacht war seinerzeit eine eigene Goethe-Gesellschaft der DDR oder aber eine internationale Goethe-Vereinigung, in der die DDR eine Führungsrolle anstreben sollte.

Präsident Wachsmuth hatte ein echtes Interesse an der DDR. Im Osten besuchte er einige Industriebetriebe, um zu sehen, wie es an der Basis des anderen deutschen Staates aussah. Trotz aller Empathie konnte auch er die DDR-Mangelwirtschaft nicht übersehen. Immer wieder fragte der solidarische Präsident in Weimar an, womit er helfen könne: Um Schreibmaschinen, Ersatzteile, spezielle Briefumschläge und andere Dinge handelte es sich.

Durchgehend sind für Lehrke die großen Themen der Goethe-Forschung, aber auch die bedrückenden, scheinbar banalen Fragen des Arbeitsalltages im Sekretariat wichtig. Um das umfangreiche Material darzubieten (Briefe, Pressetexte, Versammlungsprotokolle u.a.) hat der Herausgeber das Regestverfahren gewählt. Sparsam werden hier und da Lesehilfen gegeben, an anderen Stellen fehlen diese – inkonsequenterweise.

Als Steffen Dietzsch (im Palmbaum 2/ 2019) die archivalisch-empirischen Bemühungen Lehrkes, die 1945 einsetzen, anerkennend besprach, nannte er den Namen Helmut Holtzhauer – warum auch immer – nicht. Dieser energische Mann hatte in Weimar und anderswo nicht nur Anhänger. Er ist indessen auch in dem vorliegenden Band der Protagonist. Nicht umsonst werden die realen Ereignisse, die Lehrke summiert, nicht aber bewertet, oft im Kontrast gezeigt. Der Herausgeber stellt mehrfach private Zitate Holtzhauers aus den „Weimarer Tagesnotizen“ (erschienen 2017) hinzu.

Im besagten Zeitraum ging es desöfteren um die Entwicklung der Zeitschrift „Weimarer Beiträge“, die – was oft übersehen wird – Holtzhauer 1955 angeregt hatte. Erst danach übernahmen der Germanist Thalheim und der Dichter Fürnberg die redaktionelle Arbeit.  In den sechziger Jahren gab es das Bestreben, die Weimarer Zeitschrift zu „öffnen“, sie nach und nach auch zu einem Forum für die Gegenwartsliteratur zu entwickeln. Damit hängt die Entscheidung zusammen, die Redaktion der „Weimarer Beiträge“ nach Berlin zu verlagern und sie dem Aufbau-Verlag anzuschließen.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre deutete sich an, dass die zwölfbändige „Geschichte der deutschen Literatur“ vor allem an der Berliner Akademie der Wissenschaften und den Universitäten erarbeitet wird. Dies spürte man natürlich an den Weimarer Forschungsstätten. (Größere Abschnitte für dieses Projekt hat vor allem der Holtzhauers Mitstreiter, der Fontane-Spezialist Hans-Heinrich Reuter, geschrieben.)

Zu den bleibenden Leistungen der NFG und ihrem Direktor gehört seit 1956 die umfangreiche Edition der Bibliothek Deutscher Klassiker (BDK). So gab Hotltzhauer – gemeinsam mit seinen Mitarbeitern – die zwölfbändige Goethe-Werk-Ausgabe, die Briefe Goethes sowie eine Heine- und eine Winckelman-Edition heraus. Das Großprojekt „Lexikon der deutschen Klassik“ erschien nicht, wie Bernd Leistner in seinen „Erinnerungssplittern“ (2017) zu berichten wusste.

Auch die Bitterfelder Konferenz von 1964 spielte – was man kaum vermuten wird – für die Arbeit der NFG eine wesentliche Rolle. Das Anliegen dieser Initiative nahm Helmut Holtzhauer durchaus ernst. In Betrieben trat er mit seinen Mitarbeitern auf, um Kontakte zu Arbeitern und Bauern zu knüpfen. Es galt auch dort, Verständnis für die Aufgaben der NFG zu wecken. Man lockte Arbeiter und Bauern nach Weimar: ins Theater, in die Museen und Gedenkstätten, auch in jene, die außerhalb der Goethe-Stadt liegen.

Zunehmend verfestigte sich in den Forschungs- und Gedenkstätten die Überzeugung, dass weitere Kulturorte nur erfolgreich erschlossen werden können, wenn man Arbeiter, Handwerker, Bauern, Gastwirte u.a. in diese Prozesse einbindet. Besonders wird dies durch die dokumentierten gewaltigen Anstrengungen beim Wiederaufbau des Wasserschlosses Kochberg (mit dem Theater und dem Park) erfahrbar. Dies unterstreicht Lehrke, in dem er einen niederschmetternden Tagebuchauszug eines jungen Kustoden dokumentiert:  Dieser kämpfte gegen Windmühlen, fror, verlor fast seine Familie, scheiterte und floh – ohne Abschied.

Holtzhauers Hauptleistung, die akribische und schwer zu leistende Restauration und Erschließung der Erinnerungsorte für Wieland, Goethe, Herder und Schiller findet in den durch Lehrke beigebrachten Dokumenten eine gebührende Würdigung. Nur seinen privaten Notizen vertraut Direktor Holtzhauer an, wie mühselig die Bauprojekte vorankommen, wie er an den verkrusteten Strukturen scheitert, wie kritisch er einige Politiker und Mitarbeiter und gar das Konstrukt Sozialismus in der DDR sieht. Hier spürt man bei dem Nimmermüden tiefe Resignation.

Germanisten, Literaturfreunde, Historiker, Architekten und Restauratoren, die sich heute oder später für die Innensicht oder einen Blick auf die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten interessieren, sollten nicht zu lange im Netz verweilen, sondern zum viel genaueren „LERHKE“ greifen. Diese Bände lesen sich spannend und enthalten weit mehr, als man in wenigen Zeilen anzudeuten vermag.

Finanzen

Über Ulrich Kaufmann 34 Artikel
PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.