Ukrainekrieg: Stresstest für Europa und die westliche Welt

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Die Frage aller Fragen lautet derzeit „wann und mit welchem Ergebnis endet der Ukrainekrieg“. Nachdem diese Grundfrage nicht wirklich beantwortet werden kann, müssen trotzdem und erst recht alle im Vor- und Umfeld auftretenden Probleme dieses Krieges einer Lösung zugeführt werden und wir alle müssen auch für den worst case einer lang dauernden, mehrjährigen Auseinandersetzung gewappnet sein.

Da wäre als erstes die steigende Inflation zu benennen: die Antwort auf diese wahrlich gigantische Herausforderung muss lauten: der Staat und die Bürger müssen alle Instrumente nutzen und alle Ideen aufgreifen, die eine Eindämmung dieser Geisel versprechen. Dazu zählen seitens des Staates die Zinspolitik, die Unterstützung der Bedürftigen und die Schuldenbegrenzung der öffentlichen Haushalte. Und die Privaten, also die Unternehmen und die privaten Haushalte, müssen alle Sparideen aufgreifen und individuell angepasst, umsetzen. Die Inflation wirkt „regressiv“, d.h. sie trifft die ärmeren Schichten mehr als den wohlhabenden Teil der Bevölkerung.

Als zweites ist natürlich die Verknappung der Energie zu nennen. Die hier zu treffenden Maßnahmen sind Gegenstand vieler öffentlicher Diskussionen und müssen nicht weiter erörtert werden.

Die Diskussionen darüber, welche politisch-strategischen Maßnahmen (welche Waffen, welche strategischen Güter, u.ä.) den Krieg eher verlängern oder verkürzen, müssen primär in den diplomatischen und internen parlamentarischen Gremien unter Kenntnis geheimdienstlicher Informationen geführt werden. Mit unvollkommener Information zu diesen Themen etwas „Richtiges“ zu sagen ist ziemlich unwahrscheinlich.

Zu wenig öffentlich analysiert, wird dagegen die psychische Belastung der Bürger durch entstehende Zukunftsängste, Sorgen und hohe Erwartungen, die richtigen Entscheidungen jetzt treffen zu müssen. Es entsteht dadurch auch eine intellektuelle Belastung, weil es so schwer zu beurteilen ist, welche Maßnahme jetzt die richtige ist, also z.B. Wärmepumpe oder doch noch Öl, Elektroauto oder nochmal Verbrenner, Sparanlagen in Fonds oder Immobilien, Berufswechsel jetzt oder später, Unternehmensinvestitionen jetzt oder gar nicht mehr, usw.

Insgesamt läuft die Situation darauf hinaus, dass praktisch von allen Bürgern, also von den sog. „Eliten“ wie auch von den „Normalos“ eine immense psychische und geistige Kraftanstrengung abverlangt wird, wie wir sie seit dem zweiten Weltkrieg nicht kannten. Es ist sozusagen ein gigantischer Stresstest darüber ob die westlichen Gesellschaften, also die liberalen Demokratien, überhaupt noch in der Lage sind, eine derart herausfordernde Krisensituation zu bewältigen, zumal noch nicht gesagt werden kann, wann mit einem Ende des ganzen Problems gerechnet werden kann.

Der Staat allein schafft es auf gar keinen Fall. Nur wenn weite Teile der Menschen aller Bereiche aber auch der Medien incl. der sozialen Medien etwa durch seriöse und helfende Informationen mitmachen, ist diese Aufgabe zu meistern. Für Grabenkämpfe alter Art nach dem Motto „allein entscheidend ist meine individuelle Interessenlage“, ist nun wahrlich kein Platz mehr.

In dieser „Testsituation“ steckt – wie bei allen Herausforderungen – aber auch eine Chance, nämlich die Chance einer Erneuerung und Ertüchtigung der westlichen Welt.

Seien wir ehrlich, das bisherige Ansehen von Politikern wie Trump, Johnson oder Erdogan war doch kein Zeichen von Zukunftsfähigkeit der westlichen Welt. Umgekehrt waren aber auch die übertriebenen Identitätsdiskussionen bis hin zur Ausladung missliebiger Professoren an den Universitäten und die ganze ebenfalls überzogene Gender- und Sternchendiskussion auch kein Zeichen für richtige Prioritätensetzung.

Insgesamt muss in der gesellschaftlichen Diskussion dringend „abgerüstet“ werden und wieder mehr Gelassenheit und Toleranz gegenüber anderen Meinungen geübt werden. Hier bietet der heute von uns allen abverlangte Stresstest die Chance, ein Stück Normalität in die zu heißen und zu persönlich geführten Auseinandersetzungen einzubringen, wenn man erkennt, wo die wirklich wichtigen Probleme stecken. Insbesondere gilt diese Feststellung auch für die bisherige Führungsnation USA! Die dortige fast brutale Spaltung der Gesellschaft verheißt nichts Gutes und muss mit Blick auf die ganz westliche Welt und die Dimension der akuten Probleme überwunden werden.

Hoffen wir, dass wir als Europa und westliche Welt den historischen Stresstest namens Ukrainekrieg bestehen und aus dieser Krise gestärkt und nicht geschwächt hervorgehen.

Über Ingo Friedrich 62 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Er war Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP) und Präsident der Europäischen Bewegung Bayern. Seit 2009 ist er Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und war Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.