„Ukraine Chemnitz Europa“: Kinderspielzeug statt Krieg

Impressionen aus dem Lager des Vereins in Chemnitz, u.a. Kinderzeichnungen aus ukrainischen Waisenheimen, Foto: Benedikt Vallendar

Im Verein „Ukraine Chemnitz Europa“ engagieren sich Menschen verschiedener Herkunft für ein vom Krieg geschundenes Land.

„Bei uns kann jeder mitmachen, egal, was er denkt oder welchen Gott sie oder er anbetet“, sagte Veronika Smalko vom Chemnitzer Ukraine-Verein. Bis zum 24. Februar 2022 waren Toleranz und Offenheit oberstes Gebot. Doch seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sei ihre „Toleranzgrenze auf Null“ geschrumpft gegenüber jenen, die den Überall rechtfertigen, sagt Smalko. Es gebe „erstaunlich viele Menschen“, Russen aber auch Deutsche, die den Einmarsch der Russen öffentlich rechtfertigen, woran man merke, dass die Moskauer Auslandspropaganda doch eine gewisse Wirkung zeige. Im Internet kursieren „Podcasts“, in denen Autoren das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin für „verständlich“ und „nachvollziehbar“ halten, darunter auch Prominente, wie der Schweizer Journalist Roger Köppel, einst Chefredakteur der WELT.  „Die Ukraine ist das Opfer eines Aggressors und schlittert in eine ungewisse Zukunft“, stellt hingegen Veronika Smalko klar, die früher regelmäßig in die Heimat fuhr, um Verwandte zu besuchen. Doch selbst Telefonieren sei im Moment schwierig, auch das Internet funktioniere nur eingeschränkt, heißt es.

Seit 2014 nennt sich ihr Verein „Arbeitsgemeinschaft Ukraine-Chemnitz-Europa e.V.“, mit dem Ziel humanitärer Hilfe für verarmte Menschen in der Ukraine. Also eigentlich ein Grundmotiv des Christentums, auch wenn das nicht so offen kommuniziert werde, so Smalko, die selbst jüdische Wurzeln hat. Zudem sei immer mal wieder Politik im Spiel, fügt die 37-Jährige hinzu. Denn im Moment sprächen ja alle „von diesem Konflikt“, so dass das Thema die Öffentlichkeit auf Schritt und Tritt begleite, so Smalko. Sie lebt in Chemnitz, arbeitet als Modeberaterin und ist vor wenigen Jahren mit ihrem Mann nach Deutschland emigriert. Sagt es und führt in den großen Lagerraum im Chemnitzer Gewerbegebiet, dessen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert noch immer den Charme der früheren DDR versprühen. Bis zur Decke stapeln sich die Kartons, gefüllt mit allem, was Menschen so brauchen. Essgeschirr, Kleidung, Spielzeug und Hygieneartikel. Geliefert werde an Familien, Seniorenheime und Schulen in sozialen Brennpunkten, sagt Smalko. In den Kartons befinden sich auch Medikamente und medizinisches Gerät für eine Kinderkrebsstation in der Nähe von Charkow, das im zweiten Weltkrieg stark umkämpft war, mehrfach zwischen Deutschen und Russen den Besitzer wechselte und nach dem Krieg auf blutgetränkter Erde wiederaugebaut wurde.

Adoptierte Kinder

Veronika Smalko führt ein Video vor, in dem eine junge Frau müde in die Kamera lächelt. Sie ist 21, hatte mit dreizehn einen bösartigen Tumor, der geheilt wurde, bis vor wenigen Jahren, kurz nach ihrer Schwangerschaft der Krebs wieder ausbrach. Ob die Erkrankung eine Spätfolge der Reaktorkatastrophe von 1986 im nahen Tschernobyl ist? Niemand weiß es, und doch munkeln viele, dass da womöglich ein Zusammenhang bestehe, denn die junge Frau ist beileibe nicht die einzige Patientin ihrer Altersgruppe.  In dem Video bekommt sie gerade ein Paket aus Deutschland überreicht, dessen Inhalt, vor allem Süßigkeiten, sie bislang nur aus der Fernsehwerbung kannte. Entsprechend groß ist die Überraschung der jungen Mutter, die nun wieder bei der  Oma lebt, wie so viele junge Leute in den Staaten der früheren UdSSR, deren Eltern sich angesichts sozialer Not getrennt und die Kinder ihrem Schicksal überlassen haben. Und was auch erklärt, warum ausgerechnet in der Ukraine so viele kinderlose Paare aus dem Westen nach einem Adoptivkind Ausschau halten.

Geklaute Autos und Häuser ohne WC

„Früher hatten wir eigene Fahrer, heute nicht mehr“, sagt Veronika Smalko. Da es nicht ungefährlich sei, in den oft abgelegenen Gegenden die jeweiligen Adressaten zu finden. Oft lebten die Familien in einfachen Holzbehausungen, an unasphaltierten Wegen oder manchmal auch auf offenem Feld, ohne Strom- und Wasseranschluss, was man im Westen erst glaube, wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat, so der Ökonom Roy Müller vom Berliner Online-Magazin „Justament.de“. Müller hatte bis zum Abitur 1997 am Zwickauer Clara-Wieck-Gymnasium Russisch belegt, spricht die Sprache fließend und kennt die Ukraine aus zahlreichen Reisen. Hinzu kommen dort kaputte Straßen, extreme Wetterlagen und manchmal auch kriminelle Handlanger, die es in der Vergangenheit immer wieder auf Hilfstransporte aus dem Westen abgesehen hatten, sagt er. Heute werden die Pakete des Chemnitzer Ukraine Vereins mit kommerziellen Transportdienstleistern verschickt und seien „meist nach zwei bis drei Tagen am Zielort“, so Veronika Smalko. Der Kriegsausbruch habe das erst einmal gestoppt, aber sehr wahrscheinlich würden die Hilfsgüter bald in Polen für die dort ankommenden Flüchtlinge gebraucht, sagt sie. Die Kosten hielten sich in Grenzen, heißt es. „Wir garantieren, dass jeder gespendete Kinderpullover sein Ziel erreicht“, sagt Smalko, auch im Hinblick auf die in ihrer Heimat grassierende Selbstbedienungsmentalität, in deren Folge in der Vergangenheit immer mal wieder Sachspenden abgezweigt und dann im Internet oder auf freien Märkten verschachert wurden, „oft neben gestohlenen Autos, wertvollen Münzen und geraubtem Elektronikequipment aus dem Schengenraum“, so eine Sprecherin des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden gegenüber dieser Zeitung.

Grüner Tee und eine große Landkarte

Die Lagerstätte des Vereins im Chemnitzer Gewerbegebiet ist indes nicht nur ein Aufbewahrungsort für gespendete Haushaltswaren und Heilmittel. Sie ist – im weiteren Sinne – auch eine Begegnungsstätte für Menschen, die sich für alles Ukrainische interessieren und dabei ein Stück weit in die „Seele“ des großen Landes mit seiner mehr als tausendjährigen Geschichte eintauchen möchten. Zu trinken gibt es ganz landestypisch Tee, wahlweise in den Geschmacksrichtungen Apfel, Vanille oder Zimt, so wie in vielen Ländern der früheren Sowjetunion, wo der Samowar das Wohnzimmer ziert wie andernorts die Kaffeemaschine. Doch mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass das duftende Heißgetränk heuer in Tassen mit den blau-gelben Nationalfarben der Ukraine fließt. Dazu passend prangt im Besprechungsraum eine große Landkarte des seit 1991 unabhängigen Landes; neben Fotocollagen, Plakaten und Kinderzeichnungen, auf denen Alltägliches, aber auch der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben in dem Vielvölkerstaat gezeigt wird.  Dass Kinder, ob ukrainisch, deutsch oder russisch einen oft unverblümten, authentischen Blick auf die Wirklichkeit haben, zeigen die Zeichnungen in den Vereinsräumen mit frappierender Ehrlichkeit. „Man beachte, dass sich die Konfliktparteien, Russland und die Ukraine kulturell sehr ähnlich sind“, so Experte Roy Müller. Es gebe zudem enge Familienbande, die auch in diesen Zeiten gepflegt würden.

Mehr als tausend Jahre Geschichte

Was in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist: Die Geschichte der Ukraine reicht zurück bis ins neunte Jahrhundert, war geprägt von Hunger, Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch von Handel, Austausch und christlichem Glauben, der in seiner heutigen Form im frühen Mittelalter entstanden ist. Und seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ein Revival erlebt, das bis heute anhält, so der katholische Theologe und Slawist Florian Hundhammer von der FU Berlin. Und in der Tat, aller Unterdrückung durch den Kommunismus zum Trotz: Verbindendes Element in der früheren Sowjetunion ist bis heute die orthodoxe Kirche, die neben den steinernen Überresten der roten Diktatur auch in der Ukraine fast flächendeckend mit Kirchen, Klöstern und Kapellen vertreten ist –  was zeigt, dass eine Politik ohne christliches Fundament wohl noch nie eine Zukunft hatte.

 

Eine Aktivistin des Chemnitzer Ukraine Vereins, im Hintergrund die Karte ihrer Heimat, Foto: Benedikt Vallendar
Eine Aktivistin des Chemnitzer Ukraine Vereins, im Hintergrund die Karte ihrer Heimat, Foto: Benedikt Vallendar

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Über Benedikt Vallendar 83 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.