Inwieweit spielt die neuplatonische Philosophie mit ihren Lehren von den drei Wesenheiten innerhalb Ihres christlichen Denkens eine prägende Rolle? Kann man mit diesem Denken heutzutage noch philosophieren?
Da stecken schon in der Frage ein paar Dinge, denen ich nicht so zustimmen würde. Zunächst was ist mein christliches Denken? Ich habe das nie auseinander dividiert. Ich würde sagen –mein Denken, denn ob ich die neuplatonische Philosophie einleuchtend finde oder nicht, ist für mein Christentum nicht entscheidend und umgekehrt auch. Das sind zwei verschiedene Dinge. Aber lassen wir das Christliche einmal weg und fragen: Inwieweit spielt die neuplatonische Philosophie für mein Denken eine prägende Rolle? Kann man mit diesem Denken noch philosophieren? Ja, man kann mit jedem Denken philosophieren, das einem einleuchtet. Die neuplatonische Einteilung der Wirklichkeit in drei Stufen, nämlich: Sein als blosses Vorhandensein, Sein als Leben und Sein als Bewusstsein, das scheint mir außerordentlich einleuchtend zu sein. Und meiner Ansicht nach ist es auch ein Fehler im neuzeitlichen Denken gewesen, ein Fehler bei Descartes zum Beispiel, dass der Wille des Lebens keine Rolle mehr spielt, und dass die Wirklichkeit in eine materielle Welt zerfällt, die durch Ausdehnung und durch ein reines Denken definiert ist, also durch ein Subjekt und ein Objekt. Aber Leben, Lebendiges, können wir in dieser Zweiteilung nicht unterbringen. Das Leben ist weder bloßes Vorhandensein – auch ein Leichnam ist vorhanden – noch ist es unbedingt Bewusstsein. Es sind tatsächlich drei Stufen der Wirklichkeit. Und wenn Sie fragen ob man heute noch so denken kann; ich denke ja schon so. Damit haben wir schon ein Beispiel dafür, dass man das kann.
Für welchen Gottesbegriff sehen Sie perspektivisch die größere Chance – für den „Gott der Philosophen“ oder für den „Gott des Glaubens“?
Da hat der große Pascal meiner Ansicht nach ein Unglück angerichtet, als er nicht der Gott der Philosophen, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs schrieb. Aber die klassischen christlichen Denker waren immer der Überzeugung, dass dies nicht zwei verschiedene Götter waren. Wenn Karl Jaspers zum Beispiel von Gott spricht, von dem philosophischen Glauben, dann bekennt er sich damit nicht als Christ, aber das, was er denkt, wenn er Gott sagt, ist ungefähr das, was die Christen auch denken. Es sind zwei verschiedene Zugänge! Ich gebe folgendes Beispiel: Ich habe eine Briefträgerin, die kenne ich nur als Briefträgerin. Ich weiß von ihr fast gar nichts, dann erfahre ich aber durch eines meiner Kinder, das sich in der Schule mit einem Jungen, dem Sohn der Briefträgerin, angefreundet hat, viel mehr von ihr. Denn dieser Junge weiß natürlich eine Menge über seine Mutter, die ich nicht weiß, weil ich sie nur als diese Briefträgerin kenne. So scheint es mir auch mit dem Gottesbegriff zu sein. Ein Gläubiger hat einen lebendigen Zugang zu Gott, er spricht mit Gott, er partizipiert an einer großen Gotteserfahrung, die durch Namen wie Abraham, Isaak und Jakob geprägt ist, aber das heißt nicht, dass dies ein anderer Gott ist. Wenn Kant von Gott oder wenn Jaspers von Gott sprechen, meinen sie nicht etwas anderes als den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Wir haben auch denselben Gott wie die Moslems, wir die Christen, obgleich wir über Gott sehr anders denken. Aber wir betrachten ihn auch, also wir Christen, als Schöpfer des Himmels und der Erde und als endgültigen Richter über Gut und Böse. In diesem Punkt stimmt der Gott der Philosophen mit dem Gott des Glaubens überein.
Für Benedikt XVI. ist die Unterscheidung zwischen Person und Individuum wichtig, auch für Ihre wissenschaftliche Arbeit war der Begriff der Person immer zentral. Warum?
Ja, der Begriff des Individuums reicht nicht aus. Löwen und Ameisen sind auch Individuen. Aber der Mensch übersteigt sein Individuum-Sein, das heißt: er kann sich über sein individuelles Interesse erheben und kann den Gedanken eines anderen Wesens denken. Dies kann er berücksichtigen – unter Vernachlässigung vielleicht sogar seines Interesses als Individuum – und darin erweist er sich als Person. Mir fällt gerade die Geschichte vom Krieg zwischen Preußen und Sachsen ein. Da befahl der preußische König einem General, das Schloss in Dresden zu plündern und zu zerstören. Der Offizier weigerte sich, und der König sagte: „Das ist Gehorsamsverweigerung“. Dafür kann ich sie erschießen lassen. Und der General antwortete: „Dem König gehört mein Leben, aber nicht meine Ehre.“ Das ist der Unterschied. Er hat als Individuum natürlich das Interesse zu überleben, aber als Person – er spricht von Ehre –, als Person, weigert er sich das zu tun und nimmt den großen Nachteil für sich als Individuum in Kauf, um sein Person-Sein zu retten.
Was dürfen wir hoffen? Welche Perspektiven sehen Sie für den Glauben in der postmodernen Gesellschaft?
Das ist schwer zu beantworten, was ist denn eigentlich eine postmoderne Gesellschaft? Wenn wir Moderne – mit Hilfe des Vernunftbegriffs – als Aufklärung definieren, dann würde ich sagen, ist die postmoderne Gesellschaft, in der alles geht, in der man experimentell alles machen kann, keine große Perspektive für den Glauben. Der Glaube wird sich in Widerspruch zu einer Herrschaft der Beliebigkeit setzen. Andererseits: Wenn man aber Postmoderne als ein Brechen mit einem verengten, auf die bloße Naturwissenschaft verengten Vernunftbegriff versteht, wenn man also die Vernunft als die Fähigkeit begreift, auch das Andere ihrer selbst zu denken, also das Nichtrationale selbst noch einmal vernünftig zu denken, dann ist die postmoderne Gesellschaft eine Chance für den Glauben. Aber unter dem Begriff der Postmoderne verbirgt sich so vieles, dass die Frage nicht gut eindeutig beantwortet werden kann.
Den zweiten Teil lesen Sie hier demnächst.
Das Interview führte Dr. Stefan Groß, gedankt sei Christa Dietl für die Verschriftlichung des Gespräches.
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