Über Franz Liszts Bergsymphonie

Den von ihm so genannten Symphonischen Dichtungen Franz Liszts nähert sich die Musikwissenschaft immer noch mit einer gewissen Reserve. Seit den zeitgenössischen Angriffen der Konservativen um E. Hanslick und J. Brahms sind sie mit einer großen Zahl an Vorurteilen behaftet, was leider auch dazu geführt hat, dass man sie immer noch selten im Konzert hört. Besonders das auch Bergsymphonie genannte Orchesterwerk Ce qu’on entend sur la montagne (Was man auf dem Berge hört), entstanden 1847-1857, provozierte eine ganze Reihe von Stellungnahmen, die sich mit Vorwürfen wie Redundanz und Formlosigkeit auseinander setzten. Diese in ihren Ergebnissen äußerst widersprüchliche Auseinandersetzung zeichnet die neue Studie mit dem Titel“Stets wiederkehrend und verschwindend”: Aufbau und Bedeutung der Bergsymphonie Liszts, erschienen im Are Musik Verlag Mainz, nach. Als Arzt, der auch musikalisch ausgebildet ist, versucht der Autor einen frischen Blick auf diese etwas mehr als halbstündige, einsätzige Komposition zu werfen. Glanz und Elend der Musikwissenschaft werden dabei sichtbar. Es ist kaum zu glauben, wie viele verschiedene Interpretationen seines Aufbaus und seiner programmatischen Bedeutung ein einziges, traditionell notiertes Stück hervorrufen kann. Die Tatsache, dass es keinen Königsweg der Analyse gibt, kann der Grund dafür nicht sein: Es gibt jede Menge musikalischer Werke, die von den verschiedensten Untersuchern ähnlich oder gleich analysiert wurden.
Die wechselnde Auffassung von Programmatik, einem bis heute problematischen Begriff, wird im Buch ebenso behandelt wie die unterschiedlichen Techniken der Analyse, mit denen man Aufbau und programmatischer Bedeutung dieses geheimnisvollen Werks beikommen wollte, wobei ihm letztlich vorgefasste Urteile aufgezwungen wurden. Das Werk sollte in einer Art Prokrustesbett an die Sonatenform angepasst werden. Liszt hat aber bewusst beabsichtigt, fortschrittliche Musik zu schreiben; dazu gehörte neben progressiver Harmonik und Instrumentierung auch eine neue Formsprache.
Ausgehend von der großen Bedeutung der Motive für eine “redende” Musik nimmt die Studie jene erstmals wirklich ernst und identifiziert sie genau: Es sind deren elf. Nach Definition ihrer Stellung im Gefüge des Stücks kann der Aufbau der Bergsymphonie objektiv dargestellt werden. Er ist von einem komplizierten Mosaik aus sich variiert wiederholenden und verzahnenden Motivzellen und -gruppen bestimmt. (Man kann dagegen kaum noch von echten „Themen“ sprechen, deren Behandlung im klassischen Sinn formale Konsequenzen hat.) An expressiven Stellen sind bis zu sechs Motive übereinander gelagert.
Davon ausgehend wird gezeigt, dass Form, Verlauf und Bedeutung des Werks im Verhältnis zum Programm, einer Ode Victor Hugos, von einer subtilen Folgerichtigkeit sind. Sowohl die Mikro- als auch die Makrostruktur beruhen auf dem Prinzip der Wiederholung. Die mikrostrukturellen Motive verkörpern den „poetischen Gedanken“, grob gesagt wird also durch das Auf- und Abtauchen von Motiven und Motivzellen der stete Wechsel von Wiederkehr und Verschwinden der in der Ode thematisierten Stimmen von Natur und Menschheit musikalisiert. Die Makrostruktur des formalen Aufbaus repräsentiert mittels eines „unsauberen“ Rondos das Nachdenken Liszts über diesen Wechsel, also vor allem das Konstatieren der Tragik der dauernden Wiederkehr des Konflikts von Natur und Menschheit (repräsentiert durch drei Ritornelle und die Andeutung eines vierten) und der von Zweifeln erfüllten, daher immer neu zu schöpfenden Hoffnung auf Gott (repräsentiert durch die Wiederholung eines Chorals). Die ursprüngliche Gattungsbezeichnung „Meditationssymphonie“ erscheint damit für dieses Werk weitaus passender.
Das Werk hat u. a. mit seinem Beginn unter Verwendung einer amorphen Tremolofigur, seiner Struktur aus sechs, durch markante Generalpausen abgeteilten Blöcken stark auf A. Bruckner eingewirkt, auf R. Wagner (Vorspiel zum 3. Aufzug „Siegfried“) und R. Strauß („Alpensymphonie“) ohnehin. Liszt erweist sich jedoch entgegen der falschen, aufgrund einer problematischen Rezeptionsgeschichte immer noch virulenten Auffassung nicht nur als großer Pianist und bloßer Anreger der Musikgeschichte, sondern als genialer Komponist, dessen fortschrittliche, erst heute langsam verstandene Techniken genuin gültige Werke wie die Bergsymphonie hervorgebracht haben, getreu seinem Motto: Neue Schläuche für neuen Wein!
Dem Buch liegt eine CD bei mit einer fulminanten Einspielung der Bergsymphonie durch das Große Rundfunk-Orchester der UdSSR unter der Leitung von Nikolai Golovanov aus dem Jahr 1953, ergänzt durch weitere seltene Aufnahmen repräsentativer Werke Franz Liszts.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Das Formproblem bei Franz Liszt
II. Die Entstehung der Bergsymphonie
III. Probleme der Analyse bei Liszt
IV. Das Programm der Bergsymphonie
V. Traditionelle Analyseversuche mit primärer Orientierung am Programm
VI. Traditionelle Analyseversuche mit primärer Orientierung an der Musik
VII. Weitere traditionelle Analysen unter Betonung der Harmonik
VIII. Topoi, Symbole und Bedeutung
IX. Kurzanalysen in Übersichtsarbeiten
X. Moderne Analyseversuche
XI. Prämissen der Analyse
XII. Untersuchung der Motive der Bergsymphonie
XIII. Definition der Motive der Bergsymphonie
XIV. Aufbau der Bergsymphonie
XV. Partiturbeispiel
XVI. Form der Bergsymphonie
XVII. Verwendung der Motivzellen
XVIII. Verlauf und Bedeutung der Bergsymphonie
XIX. Probleme der Rezeption Liszts
XX. Wirkung und Anregungen der Bergsymphonie
Bibliographie
Anhänge
„Stets wiederkehrend und verschwindend“: Aufbau und Bedeutung der Bergsymphonie Liszts. 167 Seiten. Hardcover. Mainz: Are Musik Verlag, 2013 (Musik im Fokus der Wissenschaft Bd. 1), ISBN: 978-3-924522-51-3, Preis: € 22,00 (mit beiliegender CD).

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