„Macht hoch die Tür, das Tor macht weit …“. Es passt irgendwie, dass der rot-rot-grüne Senat in Berlin mitten in der Adventszeit seine Arbeit aufgenommen hat. Denn was im Roten Rathaus geschieht, soll nur das Vorspiel sein für Kanzleramt und Bundestag in einem Jahr: Ein „fortschrittliches“ Bündnis, das nur einen übermächtigen Staat für einen guten Staat hält, das „Genderpolitik“ für mindestens ebenso wichtig hält wie Wirtschaftswachstum und für das „sozial“ der alles überragende Begriff ist. Nicht der mündige Bürger ist das Ideal, sondern der Sozialstaatsuntertan – gut versorgt und wenig geneigt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Weil nur ein mächtiger Staat sich den Interessen des Kapitals entgegenstemmen kann, tritt „r2g“ mit starker Mannschaft an: 10 Senatoren und 25 Staatssekretäre – die personell größte Landesregierung in einem der kleineren Bundesländer. Die Kosten für die Versorgung des eigenen Personals spielen keine Rolle: Dank des Finanzausgleichs subventionieren der Bund und die deutschen Südländer auch weiterhin die Berliner Großmannssucht.
Nun hat das Bündnis aus staatsgläubigen Sozialdemokraten, auf Genderpolitik und Radwege fixierten Grünen und DDR-Nostalgikern aufgeschrieben, was es politisch vorhat. Einen Koalitionsvertrag von 251 Seiten – das kann nicht jeder Stadtstaat vorweisen. „Der Vertrag ist ein nahezu kompletter Wunschzettel aus allen verfügbaren links-alternativen Katalogen mit ein paar Zusatzangeboten aus der Sozialdemokratie“, schrieb selbst der links-liberale „Tagesspiegel“.
Deshalb lohnt es sich, das „r2g“-Kursbuch für die nächsten fünf Jahre anzuschauen. Denn auch mit Worten macht man Politik. Wichtigste Erkenntnis: Berlin hält die sprachliche Gleichstellung von Frauen, Männern und allen anderen Menschen irgendeines weiteren Geschlechts für das alles überragende Anliegen. Gleich 298 Mal – auf 251 Seiten – wird der „Genderstern“ verwendet, weil das große „I“ in BürgerInnen politisch nicht (mehr) korrekt ist. Würden doch Bi-, Trans- oder Sonstige-Sexuelle auf diese Weise diskriminiert, von den Geschlechtlosen wohl ganz zu schweigen.
Also wird kräftig gegendert: Es gibt nicht nur Berliner*innen, sondern auch Verbraucher*innenschutz oder „Bürger*innenschaftliches Engagement und Partizipation“. Zum Glück wurde selbst an die Kleingärtner*innen gedacht. Nicht auszudenken, was deren gendersprachmäßige Vernachlässigung an Leid zwischen Apfelbäumen und Blumenbeeten ausgelöst hätte.
„R2g“ hat in Berlin den Kampf gegen angebliche sprachliche Diskriminierung aufgenommen; die Koalition will zudem das Modell der „sozialen Stadt“ verwirklichen. Das Wort „sozial“ – groß- und kleingeschrieben, als selbständiges Wort wie als Begriffsbestandteil – verwenden die Koalitionäre im Durchschnitt 1 Mal auf jeder Seite. Da wird an allen Ecken und Enden soziale Not bekämpft, werden Sozialräume gefordert oder ausgebaut, soziale Entwicklungsgebiete entdeckt und soziale Erholungsgebiete angekündigt. Natürlich spielt der soziale Wohnungsbau eine zentrale Rolle wie die Notwendigkeit von Sozialmieten und Sozialtransfers.
Die Sprachpolitiker im Roten Rathaus schrecken vor keiner Innovation zurück, und sei sie noch so sinnfrei. „Neue Schulen sind grundsätzlich als inklusive, klimafreundliche Ganztagsschulen auszugestalten, die sich sozialräumlich öffnen lassen“, heißt es an einer Stelle. Auch will die Koalition „die Sozialraumorientierung (…) stärken, um den vielfältigen Bedürfnissen der Menschen dieser Stadt gerecht zu werden, ämterübergreifende Angebote zu etablieren und Ressourcen zielgerichtet einzusetzen“ – was immer das heißen mag. Nicht zu vergessen: Mit der „sozial ungleich verteilten“ bioklimatischen Belastung wird Schluss gemacht.
Schade, dass den Unterhändlern beim „Dichten“ offenbar unbekannt war, was der ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter und Stadtsoziologe Andrej Holm, der als „Staatssekretär für Wohnen“ soziale Missstände auf dem Wohnungsmarkt beseitigen soll, vor zwei Jahren zum sozialen Aspekt von Hausbesetzungen zu Papier gebracht hat. Holm schrieb: „Die soziale Praxis des Besetzens ist nach wie vor zeitgemäß und verspricht eine Reihe von Vorteilen im Vergleich zu anderen Formen der politischen Intervention. Das Nutzen von Räumen ohne die Zustimmung der Besitzenden stellt nicht nur die bestimmende Rolle des Eigentums infrage, sondern eröffnet vor allem Räume für andere Formen des Alltags.“ Das wäre doch zumindest eine Fußnote wert gewesen – auf 251 Seiten!
„Soziales, Soziales über alles“ und der Genderstern. Das sind – sprachlich gesehen – die tragenden Säulen des Koalitionsvertrags. Gespart wird im Koalitionsvertrag dagegen nur beim Flächenverbrauch und bei Energieverbrauch. Begriffe wie private Investitionen oder gar privater Wohnungsbau finden sich in dem Werk dagegen nicht. Warum auch? Der allmächtige Staat braucht keine privaten Investoren.
Bei all dem spielt natürlich das spezielle Berlin-Klima eine Rolle: eine Weltstadt, die von Kiez-Politikern mehr verwaltet als regiert wird. Doch läuft hier ein Feldversuch für Rot-Rot-Grün im Bund. Deshalb sei ein besonderes Ziel der Hauptstadt nicht verschwiegen: Berlin will „Regenbogenstadt“ sein. Was das ist? Schlag nach im Koa-Vertrag: „In Berlin leben eine große Vielfalt von Lebensentwürfen und starke Communities von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen, Transgendern, Intersexuellen und Menschen, die sich als Queer verstehen (LSBTTIQ*). Sie prägen Berlin mit und tragen mit viel Engagement zur Weltoffenheit und zum Berlin-Gefühl bei. Die LSBTTIQ*-Communities brauchen starke Partner*innen an ihrer Seite. Diesem Anspruch wird sich die Koalition stellen. Die Förderung von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe in ganz Berlin werden die Arbeit der Koalition bestimmen.“
Irgendwie schon spannend, dass „Lebenentwürfe“ so vor sich hin und neben sich her leben. Mir ist noch kein leibhaftiger Lebensentwurf auf der Straße begegnet. Was aber sicher an meiner Unfähigkeit liegt, das wahre Berlin zu erkennen. Wie lautete einst das durchaus pfiffige Berlin-Motto? Arm, aber sexy. Das rot-rot-grüne Berlin bleibt sicher arm. Deshalb klingt die inoffizielle Hymne „Berliner Luft“ von Paul Lincke aus dem Jahr 1904 nach 112 Jahren ganz aktuell: „Berlin! Hör‘ ich den Namen bloß, da muss vergnügt ich lachen! Wie kann man da für wenig Moos den dicken Wilhelm machen!“. Rot-Rot-Grün versucht genau das.
Veröffentlicht auf www.tichyseinblick“ vom 14. Dezember 2016
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