Twain, Montaigne, Bierbaum, Staël, Kessler, Goethe, Forster, Fontane, Heine Deutschlandreise – „Der Brocken ist ein Deutscher“ (H. Heine)

Goethestraße in Jena, Foto: Stefan Groß

„Nichts ist dauernd, als der Wechsel; nichts beständig, als der Tod. Jeder Schlag des Herzens schlägt uns eine Wunde, und das Leben wäre ein ewiges Verbluten, wenn nicht die Dichtkunst wäre. Sie gewährt uns, was uns die Natur versagt: eine goldene Zeit, die nicht rostet, einen Frühling, der nicht abblüht, wolkenloses Glück und ewige Jugend.“

Mit diesen Worten beginnt der damalige Jurastudent Heinrich Heine 1824 seine »Harzreise«. Die Nase voll von langweiligen Vorlesungen und staubtrockenen Lehrbüchern, brach er zu einer Wanderung durch die wilde Natur auf, um das wirkliche Leben jenseits von Hörsälen und Bibliotheken wiederzuentdecken. Die Begeisterung und die unbändige Lebensfreude, die ihn unter freiem Himmel ergriff, ist in jeder Zeile, egal ob politisch, privat, romantisch, lyrisch-schwärmerisch oder realistisch wiedergegeben, zu spüren. Hinzu gesellen sich eine sarkastisch-bissige Zeitkritik und jede Menge Ironie. Es quillt nur so über von geistreichen Beobachtungen, treffsicheren Wortneuschöpfungen und witzigen Anspielungen auf das politische und kulturelle Zeitgeschehen.

Heines »Harzreise« ist nur eines der neun historischen Werke, die auf den acht CD dieser »Deutschlandreise« enthalten sind. Die Erzählungen, Essays und Berichte – beginnend mit Mark Twain (»Fußwanderung durch das Neckartal«), über Michel de Montaigne (»Reise durch Süddeutschland im Jahr 1580«), Otto J. Bierbaum (»Von Berlin nach München mit dem Automobil«), Germaine de Staël (»Über Deutschland«), Harry Graf Kessler (»Ankunft in Hamburg«), J. W. von Goethe (»Sankt-Rochus-Fest zu Bingen«), Georg Forster (»Ansichten vom Niederrhein: Köln Düsseldorf«) bis hin zu Theodor Fontane (»Ausflüge in die Umgebung Berlins«) und eben jener »Harzreise« von Heinrich Heine – kommen derweil keineswegs altbacken oder wie aus der Zeit gehoben daher. Im Gegenteil: Sie sprühen mehr als einmal unglaublichen Esprit, Witz und eine nahezu erschreckende Zeitlosigkeit aus. Beinahe alle Reisebeschreibungen wirken noch heute frisch wie am ersten Tag.

Dies hat neben den ausgezeichneten Texten vor allem in den hervorragend intonierenden Sprechern ihre Ursache, die allesamt mit Verve, Esprit und Leidenschaft vortragen. Egal ob Frank Arnold, Heikko Deutschmann, Ulrike Hübschmann, David Nathan oder Oliver Rohrbeck – alle lesen den Text nicht nur, sondern sie leben ihn auch. Die Auswahl der Sprecher darf ohne Einschränkung als überaus gelungen bezeichnet werden.

Aber haupt- und letztendlich wurde vor allem bei der Auswahl der Texte exzellente Feinfühligkeit an den Tag gelegt. Keine CD wirkt langweilig oder spröde. Im Gegenteil. Schon der „Opener“ – Mark Twains Auszug aus seinem Werk »Bummel durch Europa« – lässt mehr als einmal nicht nur schmunzeln, sondern laut auflachen. Doch auch die anderen Autoren stehen ihm in nichts nach. So wundert sich Montaigne bei seiner kulinarischen Reisebeschreibung in Zeiten der Reformation über die (damalige) eigenartige Sitte der „großsprecherischen, hitzigen, selten nüchternen, aber ehrlichen“ Deutschen, bei ihren opulenten Mahlzeiten zuerst den Braten aufzutischen und erst am Ende die Suppe zu reichen. Überaus köstlich „mundet“ auch die Reisebeschreibung Otto J. Bierbaums, der 1902 zusammen mit seiner Frau und einem Chauffeur eine Reise im Laufwagen (=Automobil) über die Alpen bis an die Adriaküste antrat. Eine zu dieser Zeit mehr als gewagte Herausforderung.
Die Beobachtungen der französischen Schriftstellerin Germaine de Staël hingegen sind von mehr Ernsthaftigkeit und feiner Analyse gezeichnet. Auch wenn der nicht sehr gewandte und geschickliche, stets beunruhigte, schwerfällige und nicht gerade von Unabhängigkeit im Denken geprägte Deutschen mitunter nicht gut wegkommt, lassen sie mehr als einmal schmunzeln. ergen sie doch eine tiefe Wahrheit über immer noch zu beobachtende Eigenheiten unserer Nation. Hervorgehoben darf vor allem der Bericht Georg Forster, der als junger Mann mit James Cook die Welt umsegelte. Eine derart tiefgründige und treffende Analyse der Gesellschaft kann für die damalige Zeit als ungeheur fortschrittlich und innovativ angesehen werden.

Um noch einmal auf Heines »Harzreise« zurückzukommen… Sind seine Worte nicht immer noch wahr und zeitgemäß? Dieser Dialog des Ich-Erzählers mit einem Burschenschafter auf dem Brocken könnte auch heute noch so stattgefunden haben:
„Am allerwenigsten begriff der junge Mensch die diplomatische Bedeutung des Balletts. Mit Mühe zeigte ich ihm, wie in Hoguets Füßen mehr Politik sitzt als in Buchholz’ Kopf, wie alle seine Tanztouren diplomatische Verhandlungen bedeuten, wie jede seiner Bewegungen eine politische Beziehung habe, so z. B., dass er unser Kabinett meint, wenn er, sehnsüchtig vorgebeugt, mit den Händen weit ausgreift; dass er den Bundestag meint, wenn er sich hundertmal auf einem Fuße herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen; dass er die kleinen Fürsten im Sinne hat, wenn er wie mit gebundenen Beinen herumtrippelt; dass er das europäische Gleichgewicht bezeichnet, wenn er wie ein Trunkener hin und her schwankt; dass er einen Kongress andeutet, wenn er die gebogenen Arme knäuelartig in einander verschlingt […]“

Twain, Montaigne, Bierbaum, Staël, Kessler, Goethe, Forster, Fontane, Heine
Deutschlandreise
Audiobuch (20. März 2018)
8 CD + Booklet
ISBN-10: 3958620434
ISBN-13: 978-3958620438
Preis: 21,79 EURO

 

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.