Halt! Nicht auf jeden Werbetext reinfallen! „Für alle Menschen ab 10 Jahren. Schüler*innen und Studierende zahlen nur 8 Euro.“ Schon recht, liebes Residenztheater. „Andersens Erzählungen“, das neueste Stück „Musiktheater, Tanz und Schauspiel“ legt es nahe, die Kinder anzusprechen. Hans Christian Andersen – der Märchendichter. Gewiss, er steht im Zentrum der von Star-Regisseur Philipp Stölzl inszenierten und bebilderten Neuproduktion, die ohne Pause zweieinhalb Stunden Durchhaltevermögen fordert. Was selbst Erwachsenen nicht leicht fällt. Ein „Familienfilm“ live also, so vor und rund um Weihnachten? Es geht um Mehr.
Es geht um H.Ch.s Jugendliebe. Die war mehr Leid als Freud. Denn sie gehörte einem Jungen. Edvard Collin, dem Sohn von H.Ch.s Zieh-Eltern Christine und Jonas Collin. Die freuen sich auf die Hochzeit Edvards mit Henriette Thyberg. Eine bürgerlich-biedermeierliche Angelegenheit also. In die passt der seitwärts Liebende H.Ch. ganz und gar nicht hinein. Der Männer-Schwärmer, der Poet, der Erfinder der „Kleinen Meerjungfrau“. Die sehnt sich wie er nach Liebe. Will nicht länger unter Wasser bleiben, fünfzehn Jahre alt werden, um zu heiraten. Einen Prinzen, den Prinzen ihrer Wahl. Aber ach, das geht ja nicht. Sie ist ja – ein Wasserwesen…
Für seine Basler Uraufführung von „Andersens Erzählungen“ sah Jan Dvorak, der Texter des von Jherek Bischoff mit Musik unterlegten Stücks, bald klar: „ … dass der Aspekt der Sublimierung von Homoerotik im Werk des Dichters unglaublich vielschichtig war. Wählte doch der große Däne ausgerechnet das Medium des Kindermärchens, um seine subtilen Botschaften von Andersartigkeit, unerfüllter Liebe und Außenseitertum zu formulieren und erreichte durch diese literarische Camouflage eine universelle Aussagekraft“.
Zur Heirat seines Jugendschwarms war H.Ch. nicht erwünscht. Seine Story deckte sich mit der seiner kleinen Meerjungfrau.
In der traumhaft-surrealen Dekoration von Stölzl und Heike Vollmer und den überdreht-bunt-diversen Kostümen von Kathi Maurer kommt das Stück allen Liebes-Sehnsüchtigen genau richtig: Liebe ist Leid und Schmerz und zerreißt dieHerzen. Wenn dazu einlullende Musik (am Pult: Stephen Delaney) ertönt und opernhaft schön, nicht nur von Isabell Antonia Höckel (als singende Nixe), sondern auch von ihren beiden großen Fischschwanz-Schwestern (Laura Richter, Fee Suzanne de Ruiter) gesungen und getanzt wird (allen voran: Pauline Briguet im tödlich-tragisch endenden Schlussteil), ist das doppelt und dreifach die überlange Aufführung wert.
Christoph Stölzl, der am Staatsschauspiel das thematisch gleiche zweiteilige „Vermächtnis“ herausbrachte, hat das große Glück, wieder Moritz Treuenfels einsetzen zu können. Der unglaublich vielseitige, so perfekt Klavier spielende wie hinreißend singende und verblüffend sehnsuchtsvoll spielende Darsteller zeichnet dasPorträt des großen Dänen, das dessen Melancholie ebenso wie sein scheues, menschenfernes Fühlen zum mimischen Ereignis macht. Da sind auch seine Partner, für die es lohnt, sich in das bald Traum-, bald Real-Geschehen zu vertiefen: die wunderbar zerbrechlich-starke Linda Blümchen als empathische Seelen-Verwandte des Helden und tragisch-unwissende Rivalin, die sich zur Großmutter wandelnde, felsenharte Ziehmutter Cathrin Störmer und ihr geschäftiger, als Meerhexe reüssierender Gatte Jonas Collin (Oliver Stokowski), nicht zuletzt Thomas Lettow, der hin- und her geschüttelte, als Meerjungfrau-Prinz respektabel singende Bräutigam. Ein Abend der Superlative für alle, die sich nachdenkendes Theater als Alternative zum Alltags-Desaster wünschen.