Totentanz oder Auf der Suche nach der „verlorenen“Zeit

Wallace Stegner, Zeit der Geborgenheit, Titel der Originalausgabe: Crossing To SafetyAus dem Amerikanischen von Chris Hirte, DTV, München (Juli 2008), 144 Seiten, Taschenbuch, ISBN-10: 3423246618, ISBN-13: 978- 3423246613, Preis: 14,90 EURO

„Du hast doch eine Menge Bücher geschrieben, Larry. Aber eins schreit noch danach, geschrieben zu werden. / – Man kann nicht über seine Freunde schreiben. (…) Was du in den Büchern findest, sind keine Menschen, sondern Konstrukte. Ob Roman oder Biografie, das ist kein Unterschied, Ich könnte den echten Sid und die echte Charity nicht beschreiben geschweige denn erklären, und wenn ich sie erfinden würde, wäre das eine Verfälschung von etwas, was ich nicht verfälschen will.“
Diesen Dialog führt im letzten Roman des Pulitzerpreisträgers Wallace Stegner (1909-1993) sein Ich-Erzähler Larry Morgan – Stegners Alter Ego – mit der Tochter seines besten Freundes Sid. Und trotzdem beginnt er zu schreiben. Obwohl er sich nachdenklich fragt, wie man ein viel gelesenes Buch aus Gestalten, deren Leben so still verläuft wie bei diesen, machen soll. Entstanden ist ein Klassiker der amerikanischen Moderne, der wundervolle Roman „Zeit der Geborgenheit“, die facettenreiche Beschreibung einer fast lebenslangen und grundehrlichen Freundschaft zwischen zwei Paaren.
Larry und Sally Morgan, aus dem Westen der USA, verschlägt es während der großen Depression in den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Madison, Wisconsin, wo sich Larry als Dozent am College seine Sporen verdienen will. Dort treffen sie auf die Langs. Die beiden Harvard-Absolventen Sid und Charity stellen genau das Gegenteil der ehrgeizigen, aber mittellosen Morgans dar. Sie sind wohlhabend und genießen gesellschaftliche Anerkennung. Doch von Anfang an empfinden beide Paare tiefe gegenseitige Sympathie und Neugier aufeinander, so dass ihre großen Unterschiede, was Herkunft, Status und Charakter angeht, nahezu spurlos verschwinden. Fortan sind ihre Lebensläufe mehrfach miteinander verschränkt. „Wir, ein Asteroidenpärchen, wanderten in ihr geordnetes newtonsches Universum ein, wurden von ihrer Gravitation aufgesaugt und kreisten fortan als Monde um ihr Gestirn.“
1972, nach knapp dreißig Jahren, treffen die beiden Paare erneut zusammen, auch wenn der Anlass ein äußerst trauriger ist, denn die ehemals rastlose und tatkräftige Charity Lang liegt im Sterben. Die resolute Freundin hat noch einmal auf ihren Landsitz Battell Pond, in Vermont,geladen („Hier war und ist der Ort, wo in der schönsten Zeit unseres Lebens die Freundschaft zu Hause war und das Glück regierte“), um ihren Geburtstag zu feiern. Larry lässt dort die gemeinsame Freundschaft bruchstückhaft Revue passieren. Es sind Gedanken und Erinnerungen an glückliche, aber auch schwierige Jahre von vier Menschen, die miteinander Freude, Schicksal, Hoffnungen und Niederlagen geteilt haben, an denen jedoch alle vier – jeder auf seine Weise – gewachsen sind. Larry, der nur kurz im akademischen Getriebe gefangen ist, wird zum namhaften Schriftsteller, während der naturverbundene und ebenfalls lyrisch veranlagte Sid an der Universität und der Leine seiner Frau verharrt, anstatt es seinem Freund gleich zu tun. Sally wiederum, die Verständnisvolle und Einfühlsame, meistert nach einem schweren persönlichen Schicksalsschlag – sie erkrankt an Kinderlähmung – resolut ihr Leben als Körperbehinderte.
Charitys letzter Wunsch lässt die bereits melancholische Stimmung nahezu emotional eskalieren.
In einfacher Sprache, mit kurzen, direkten Sätzen, schildert Wallace Stegner eine komplexe Freundschaft und zwei Ehen, die von Anstand, Loyalität und stiller Aufopferung geprägt sind. Der Roman offenbart großartige Charakterstudien der vier Protagonisten. Die fein austarierten Dialoge zeugen von großer Tiefe. Sie lassen nachdenken oder regen zum Hinterfragen an. Zudem offenbart der Autor leise und malerische Beobachtungen der Natur und gewährt nebenbei einen nuancenreichen und vielschichtigen Einblick in die jüngste Vergangenheit Amerikas und die Annäherung ihrer westlichen und östlichen Bewohner.
Die Schriftstellerei muss vor allem frei sein, sinniert Stegners Alter Ego Larry, „sie muss ihren eigenen Vorgaben gehorchen, nicht den äußeren Einflüsterungen. Die Begabung hat ihre Rechtfertigung in sich selbst, und es kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden, ob das Produkt, abgesehen von der Berufung auf die Nachwelt, wirklich einen Wert hat oder ob es nur der kurzlebige Ausdruck einer Mode ist, die Befolgung eines vorgegebenen Musters.“ „Zeit der Geborgenheit“ zeugt auf jeden Fall von Wallace Stegners Begabung. Chris Hirte hat den unnachahmlichen Duktus großartig ins Deutsche übertragen.

Fazit:
Pathetisch, aber niemals kitschig, ist der stille und unaufgeregte Roman des leider viel zu wenig bekannten Autors des amerikanischen Westens, großes und meisterhaftes „Gefühlskino“. Ein Buch, nach dessen Lektüre man über das Wort Freundschaft neu nachdenkt. „Zeit der Geborgenheit“ sollte und wird seine Lesefreunde bei Liebhabern amerikanischer Literatur finden. Zeit wird es, an diesen wunderbaren Schriftsteller zu erinnern.

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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