Die hektischen Vorgänge um den jähen Tod eines NVA-Offiziers im Sommer 1962 an der innerdeutschen Grenze muten den heutigen Betrachter, nach Mauerfall, Wiedervereinigung und Aufdeckung unglaublicher DDR-Verbrechen, wie Nachrichten aus einer fernen Zeit an, die kaum noch berühren. Damals aber, am 14. August vor 50 Jahren, als DDR-Grenzsoldaten und BGS-Beamte an der hessisch-thüringischen Grenze zwischen Geisa und Hünfeld aufeinander schossen, wurde der Vorfall als „politischer Auftragsmord“ gewertet, der fast einen „Dritten Weltkrieg“ ausgelöst hätte.
Heute, ein halbes Jahrhundert danach, wo alle Denkmäler für den erschossenen Hauptmann Rudi Arnstadt (1926-1962) längst geschleift sind, ausgenommen das Ehrengrab auf dem Erfurter Hauptfriedhof, wo Betriebe und Schulen, die seinen Namen trugen, umbenannt sind, wo die „Nationale Volksarmee“, der er angehörte, seit 1990 aufgelöst ist, sieht man die bis 1989 von DDR-Ideologie verstellten Ereignisse klarer und gelassener. Die Archive sind ohne Einschränkung zugänglich, DDR-Zeugen konnten nachträglich befragt werden, auf beiden Seiten der Grenze angefertigte Protokolle zum Tatgeschehen konnten miteinander verglichen werden.
Wenn man den 153 Seiten starken Band, der den Untertitel trägt „Zwischen Aufklärung und Propaganda“, gelesen hat, dann kann man den Fleiß und die ausdauernde Kärrnerarbeit der beiden Autoren nur bewundern: Sie haben sich durch Aktenberge, Zeitungsbände und einander widersprechende Zeugenaussagen hindurchgearbeitet, haben Archivreisen und Tatortbesichtigungen unternommen und sind letztendlich, wie im Schlusskapitel „Fazit“ ausgesagt wird, doch nur zu dem Ergebnis gekommen, dass die „Todessache Rudi Arnstadt“ nach wie vor unaufgeklärt ist.
Dass die zuständigen DDR-Stellen wie Staatssicherheit, Volksarmee, Kriminalpolizei und ihre heutigen Apologeten an einer objektiven, das heißt: auf die Sache bezogenen Aufklärung dieses Todes nicht interessiert waren, ist leicht erklärbar: Die aggressive Friedensideologie des SED-Staates, die konstitutiver Bestandteil seines Gründungsmythos war, folgte eingefahrenen Denkmustern, wonach der „imperialistische Klassenfeind“ an der „Staatsgrenze West“ nur das einzige Ziel hatte, den DDR-Sozialismus zu vernichten. Jedes, auch noch so geringe Vorkommnis an der innerdeutsche Grenze bot einen „erneuten Beweis“ für diese Hypothese! Von dieser Sicht aus sind die Aufklärungsergebnisse der DDR-Verantwortlichen zu bewerten. Nicht Aufklärung, sondern Umdeutung und Verschleierung waren das Ziel ihrer kriminalistischen Arbeit!
Für dieses Verfahren, Tatbestände nach politisch-ideologischen Gesichtspunkten zu sortieren und dann zu instrumentalisieren, gibt es ein eklatantes Beispiel zwei Jahre später, als der NVA-Unteroffizier Egon Schultz (1943-1964) in Berlin erschossen wurde. Als am 5. Oktober 1964 der Fluchttunnel zwischen Bernauer und Strelitzer Straße, durch den 57 DDR-Bürger nach Westberlin gelangen konnten, von der Staatssicherheit entdeckt worden war, kam es u einem Schusswechsel mit den Fluchthelfern, wobei Egon Schultz aus Versehen von den eigenen Leuten erschossen wurde. Das von der DDR-Regierung verbreitete Gerücht, Egon Schultz wäre von „westlichen Agenten“ erschossen worden, wurde ein Vierteljahrhundert geglaubt, selbst die Fluchthelfer machten sich Vorwürfe, dass sie einen jungen DDR-Soldaten umgebracht hätten. Diese wahrheitswidrige Behauptung, die nach dem Mauerfall 1989 durch Akteneinsicht wiederlegt werden konnte, führte zu einer ähnlichen Heldenlegende wie die, welche um Rudi Arnstadt zwei Jahre zuvor entstanden war: Mehrere Schulen wurde nach Egon Schultz benannt, eine Unteroffiziersschule, mehrere Brigaden, Straßen, Kasernen und Erholungsheime. Dieser politische Spuk, der auf einer glatten Lüge beruhte, verschwand über Nacht, als die Wahrheit bekannt wurde.
An den „letztlich noch immer ungeklärten Todesumständen“ sehen die Verfasser die Schuld aber auch bei den Westermittlern, die die Aussagen eines später geflüchteten DDR-Grenzsoldaten zum Schusswechsel ignoriert hätten. Damit erwecken sie Zweifel an der Ernsthaftigkeit westdeutscher Ermittlungsbemühungen, die schließlich auch von der Verlagswerbung übernommen wurden: „War der Todesschuss eine vorsätzliche Provokation? Oder war er Notwehr?“
Wer sich durch die 30 Kurzkapitel, die leicht lesbar geschrieben sind, durchgearbeitet hat, erfährt, was zu erwarten war, dass es zwei Versionen der Tatumstände gibt, eine bundesdeutsche und eine DDR-offizielle, die einander widersprechen. Die Unzulänglichkeit der bundesdeutschen Version lag darin begründet, dass es keine Möglichkeit gab, auf DDR-Gebiet zu ermitteln, auch wenn die Aussagen geflüchteter NVA-Soldaten einbezogen wurden. Aber die Autoren wägen ab, ziehen in Zweifel und verlautbaren: „Beide Versionen mögen auf ihre Weise durchaus glaubwürdig erscheinen.“
Was hier stört, ist die Standpunktlosigkeit der Verfasser und die Gleichsetzung der Ermittlungsversuche auf beiden Seiten der Grenze, wonach „die Fakten individuell zurechtgebogen“ wurden, was schließlich auch eine Gleichsetzung von Demokratie und Diktatur impliziert! Das zeigt schlagend, dass noch eine dritte Version des Tatgeschehens angeboten wird, eine DDR-interne, die von der DDR-offiziellen abweicht. Hier wird der Leser hellhörig und fragt sich , wieso die DDR-Ermittler zwei Versionen brauchen, während die „westdeutschen Imperialisten“ mit nur einer Version auskommen.
Hildigund Neubert, die Thüringer „Landesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit“, die das Vorwort geschrieben hat, sieht das alles viel klarer und eindeutiger: „Die SED plante Tote von Anfang an ein…Sie brauchte Helden. Rudi Arnstadts Tod musste einen Beweis liefern für die Bedrohung aus dem Westen.“ Dem ist nichts hinzufügen!
Jan Schönfelder/Rainer Erices „Todessache Rudi Arnstadt. Zwischen Aufklärung und Propaganda“, Verlag Bussert und Stadeler, Jena/Quedlinburg 2012, 156 Seiten, Euro 12.90
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