To Screen or not to Screen – Teil II

Der erste Teil über die Sinnhaftigkeit der Brustkrebs-Früherkennung (Screening) lässt sich in Tabula Rasa nachlesen.
Nun schreibt die Aachener Zeitung AZ am 5. Februar 2013 unter der grammatikalisch seltsamen Aufmachung:

„Mit Screening sterben weniger

Etwa jede zweite Frau aus der Region Aachen, Düren und Heinsberg folgt der Screening-Einladung. Das entspricht dem bundesweiten Trend von 54%.
Mit Screening könne man die hohen Sterblichkeitsraten senken. In der Region bietet das Mammographie-Screening-Programm Frauen zwischen 50 und 69 seit fünf Jahren eine Untersuchung an zur Frühdiagnose von Brustkrebs, die sich an europäischen Leitlinien orientiert. Männern wird der Gang zum Urologen empfohlen.

Wie viele Frauen kann man mit dem Screening vor dem Tod durch Brustkrebs bewahren?
Wenn 10 000 Frauen zehn Jahre lang zum Screening kommen, können 540 Frauen gerettet werden. Ohne Screening würden 1550 Frauen an Brustkrebs sterben, mit Screening 1010. Anders gesagt: Von 100 erkrankten Frauen sterben in zehn Jahren 31 ohne Screening und 20 mit Screening an Brustkrebs.“
Es ist nicht meine Absicht, eine einzige Frau vom Screening abzuhalten. Ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Ich werde die in der Zeitung vorgetragenen Argumente veranschaulichen, nicht entkräften. Ich werde erklären, wie die dargebotenen Zahlen entstehen. Brustkrebs-Screening ist eine Rasterfahndung mit Röntgenstrahlen. Laut Röntgenverordnung dürfen Menschen nur dann geröntgt werden, wenn ein konkreter persönlicher Anlass besteht. Bei der zu screenenden Frau darf, um am Screening teilnehmen zu dürfen, kein Brustkrebs bekannt sein. Um Mammographie-Screening auf gesetzlich sichere Füße zu stellen, ist die Röntgenverordnung angepasst worden. Sicherungen sind gelockert worden.
Bei einer Rasterfahndung werden alle Personen, die bestimmte Merkmale aufweisen, in einem umgrenzten Gebiet kontrolliert.

Die Merkmale beim Screening sind: weiblich, Alterzwischen 50 und 69 Jahre, kein Brustkrebs bekannt.
Das umgrenzte Gebiet ist Deutschland.
Je mehr Personen sich der Rasterfahndung entziehen, desto geringer ist der Erfolg der Rastefahndung.
Je weniger Frauen gescreent werden, desto geringer ist die Aussagekraft des Screening.
Mathematisch reichen 54% weder für eine gelungene Rasterfahndung, noch für ein ausreichendes Screening aus.
Das Gegenstück zum Brustkrebs-Screening bei Frauen ist das Prostatakrebs-Screening bei Männern. Hier reicht eine (schmerzarme) Blutentnahme aus. Führende internationale Urologen, darunter der Erfinder des PSA-Prostatakrebs-Testes, raten von diesem Screening ab. Die Gründe sind anschließende Übertherapien, die überaus vielen gesunden „Patienten“ schaden.

Nun zu den Zahlen und ihrer Entstehung:
Von 100 erkrankten Frauen sterben in zehn Jahren 31 ohne Screening und 20 mit Screening an Brustkrebs.
Einleuchtend ist ein Beispiel, an dem sich jeder beteiligen kann.
Nehmen Sie zwei gleiche Weingläser.
Gießen Sie in jedes Glas je 200 ml Rotwein ein.
Schütten sie die Hälfte des Weins aus dem rechten Glas aus. Sie dürfen den Wein auch austrinken.
Gießen Sie nun ins rechte Glas 100 ml klares Wasser.

Ergebnisse:
Der Wein im linken Glas ist tiefrot, im rechten heller.
In beiden Gläser befinden sich jeweils 200 ml Flüssigkeit.
Die Alkoholmenge im linken Glas ist doppelt so groß wie im rechten.
Die Alkoholkonzentration im linken Glas ist doppelt so hoch wie im rechten.
Der Inhalt des linken Glases mundet.

Zurück zum Screening.
Linkes Glas = kein Screening; rechtes Glas = Screening.
In der Mammographie-Screening-Gruppe sind entdeckte bösartige Brustkrebse kleiner als in der Nicht-Screening-Gruppe.
Grund: Kleine bösartige Brustkrebse sind schlechter zu ertasten, jedoch gut auf Mammographien zu sehen.
In der Screening-Gruppe werden häufiger kleine nicht-bösartige Brusttumore als in der Nicht-Screening-Gruppe entdeckt. Diese „in-situ“ Karzinome sind größtenteils gutartig, verschwinden sogar von alleine.
Grund: Kleine gutartige Tumore der Brust sind schlechter zu ertasten, jedoch gut auf Mammographien zu sehen.

Ergebnisse:

In beiden Gruppen befinden sich gleich viele Frauen.
In der Nicht-Screening-Gruppe befinden sich mehr bösartige Brustkrebse als in der Screening-Gruppe, da in der Screening-Gruppe der Anteil gutartiger Brusttumore höher ist als in der Nicht-Screening-Gruppe.
Frauen in der Screening-Gruppe leben somit länger als Frauen in der Nicht-Screening-Gruppe.
Der Anteil einfacher, kosmetisch befriedigender Operationen ist in der Screening-Gruppe höher als in der Nicht-Screening-Gruppe.
Der Anteil notwendwendiger Operationen ist in der Nicht-Screening-Gruppe höher als in der Screening-Gruppe.

Die in der AZ angegebenen Zahlen lassen sich somit mit Hilfe der Logik und der Mathematik ausreichend erklären.

Wichtig:
In der Nicht-Screening-Gruppe sind entdeckte bösartige Brustkrebse größer, weiter fortgeschritten als in der Screening-Gruppe. Die Entfernung kleiner Tumore ist einfacher als die Entfernung großer Tumore,
Wenn wir berechtigterweise annehmen, dass bestimmte Brustkrebse nach einer gewissen, uns unbekannten Zeit zum Tode führen, dann sind größere Krebse älter als kleinere.
Somit sterben Frauen mit großen Brustkrebsen eher ab dem Zeitpunkt der Entdeckung als Frauen mit kleinen Brustkrebsen. Die Lebensdauer ab dem Zeitpunkt der Entstehung des Brustkrebses bleibt davon unbeeinflusst. Somit sterben Frauen mit bestimmten Brustkrebsen unabhängig vom Zeitpunkt der Feststellung des Brustkrebses. Frauen mit bestimmten Brustkrebsen leben gleich lang, unabhängig davon, ob sie sich screenen lassen oder nicht. Gescreente Frauen leiden länger unter dem Wissen, Brustkrebs zu haben.

Über Nathan Warszawski 535 Artikel
Dr. Nathan Warszawski (geboren 1953) studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie in Würzburg. Er arbeitet als Onkologe (Strahlentherapeut), gelegentlicher Schriftsteller und ehrenamtlicher jüdischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu Aachen.

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