„Time“-Magazin: Angela Merkel – die wichtigste Frau der Welt

Wer glaubt, die Flüchtlingskrise hat der Bundeskanzlerin Angela Merkel weltweit geschadet, sieht sich wiederum getäuscht. Sie hat es geschafft, wenngleich nicht in Deutschland, so doch in Amerika. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“ – so ein berühmtes Jesuswort. Nun blickt die Kanzlerin mit stahlblauen Augen in Ölmalfarben von der Titelseite der „Time“ auf alle ihre Kritiker herab, nach 29 Jahren die erste Frau auf dem Titel des amerikanischen Magazins. Aus „wir schaffen das“ ist ein „ich schaffe es“ geworden.
„Kanzlerin der freien Welt“ – Person des Jahres 2015 – so die neue Ehre, die der gebürtigen Hamburgerin zuteil wird. In den letzten Jahren wurden elf US-Präsidenten insgesamt 19 Mal mit dem begehrten „Time“-Titel ausgezeichnet. Auf Platz zwei im großen Ranking 2015 kam der Chef der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) Abu Bakr al-Bagdadi. Bereits 1938 hatte es Adolf Hitler und 1939 Josef Stalin auf das Cover geschafft, aber auch Martin Luther King und Mahatma Gandhi zierten die Titelseite. Bei der Nominierung der „Time“ geht es eben um die einflußreichsten Menschen, die das Weltgeschehen prägen, dies gilt sowohl für besonders moralische, aber eben auch für besonders grausame Menschen, Massenmörder, brutale Fanatiker oder rassistische Scharfmacher.

Merkel als Retterin Europas

Zur Begründung hieß es, dass Merkel es gelungen sei, Europa im vergangenen Jahr vor dem Zerfall zu retten. Und die Chefredakteurin Nancy Gibbs der „Times“ schreibt: „Nicht ein oder zwei Mal, ganze drei Mal gab es in diesem Jahr Gründe, sich zu fragen, ob Europa weiter bestehen würde, nicht kulturell oder geographisch, sondern als historisches Experiment ehrgeiziger Staatskunst.“ Als unverzichtbare Akteurin innerhalb der europäischen Verschuldungskrise, als scharfe Kritikerin von Wladimir Putins Aggressionspolitik in der Ukraine und durch ihr engagiertes Handeln bei der Flüchtlingskrise hat sie die Führung Europas übernommen. „Deutschland hat Griechenland mit seinen eigenen strengen Bedingungen gerettet. Es hat die Flüchtlinge als Opfer radikaler islamistischer Grausamkeit aufgenommen und nicht als deren Träger. Und es hat Truppen ins Ausland geschickt für den Kampf gegen den IS.“, so weiter die „Times“.
Gerade Merkels Führungsstil in der Krise, ihre Leitbildfunktion gegen die Widerstände sowohl in der eigenen Partei, als auch in der CSU und in großen Teilen der Bevölkerung, von den EU-Ländern ganz zu schweigen, zeige erst, was eine Persönlichkeit auszeichne. Merkel hatte den Mut, gegen den Strom zu schwimmen, und „Anführer werden nur dann getestet, wenn ihnen die Leute nicht folgen“, so Gibbs. Sie hat sich nicht nur für den einfachen Weg entschieden, sondern ihrem Land auch mehr abverlangt, als es die meisten Politiker sich trauen würden. Kurzum: Merkel hat ihre moralischen Führungsqualitäten in einer Welt bewiesen, wo es genau an diesen Führungspersönlichkeiten mangelt.

Die Kanzlerin als neue Kaiserin Europas und der Welt

Die Kanzlerin steht damit auf dem Podest wie eine Kaiserin, die sich mit den Insignien von Humanität, Großzügigkeit und Toleranz schmücken kann. Nun hat es also Merkel doch noch geschafft, nachdem der Friedensnobelpreis an ihr vorrübegezogen war. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump, der nur auf Platz drei auf dem „Time“-Podest 2015 kam, kommentierte Merkels Titelerfolg mit dem Satz: „Sie haben die Person gewählt, die Deutschland ruiniert.“
Für Merkel ihrerseits kam die Nobilitierung zur rechten Stunde. Nie stand die Bundeskanzlerin in den letzten zehn Jahren ihrer Amtszeit mehr unter Druck. Für eine Vielzahl von Bundesbürgern löst die Auszeichnung der „Times“ pures Kopfschütteln aus – aus gutem Grund: die EU ist dank ihrer Flüchtlingspolitik mehr denn je gespalten. Nationalisten im Ausland fahren einen Wahlsieg nach dem andern ein; Marie le Pen hat bei den Regionalwahlen 27,96 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können, der rechtskonservative ungarische Premier Viktor Orban sieht in der Flüchtlingsbewegung gar eine Verschwörung. Und auch in Polen ist ein Rechtsruck zu verzeichnen, als bei der Parlamentswahl die nationalkonservative Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit Abstand stärkste Kraft wurde. Die Polen haben gleich die Europaflaggen einkassiert. In der Bundesrepublik öffnet Merkels Flüchtlingspolitik der Alternative für Deutschland (AfD) Tor und Tür. An „Deutschland einig Vaterland“ ist zumindest ein großes Fragezeichen zu setzen und an das Europa Merkels zumindest zwei.

Die unpolitische Kanzlerin und das Zeitalter des Neo-Biedermeier

Während die Bundeskanzlerin auf der anderen Seite des Atlantiks gefeiert wird, zur Retterin der Welt und ihrer Werte, zur Richtungsgeberin der westlichen Welt aufgestiegen ist, die den Freien Willen der Welt auf sich vereinigt, aber sicherlich auch, weil der derzeit führungsschwache amerikanische Präsident Barack Obama im Herbst seiner Amtszeit steht und „missing in action“ ist, hat sich ihr Status der Unanfechtbarkeit in Deutschland radikal geändert. Die Kanzlerin sei das Problem bei der Flüchtlingsthematik und keineswegs seine Lösung – tönt es hierzulande. Auch Sandra Maischberger hatte jüngst ihre Sendung „Menschen bei Maischberger“ mit „Das Schicksalsjahr der Kanzlerin: Scheitert Merkel? übertitelt.
Für den langjährigen ZDF-Journalisten Wolfgang Herles, einer der Talkgäste, ist Merkel völlig unpolitisch, sie passe in keine bzw. in alle Parteien hinein. Wie „ein blutleerer Zombie“ führe diese „Legende“ ihre Partei und hat darüber hinaus ihr Land und Europa gespalten. Sie gleiche, so Herles Metapher, einem Einarmigen, der auf einen Kirschbaum steigt und nur die Chance hat, entweder zu pflücken oder herunterzufallen. Merkel ist zumindest für Herles, politisch am Ende, nur eine Alternative für sie fehle, weswegen sie noch an der Macht sei. Es sei insonderheit die Wandlungsfähigkeit der Kanzlerin, durch der es ihr gelingt, sich jedem neuen Konsens, sei es bei der Energiepolitik oder bei gesellschaftspolitischen Fragen, anzupassen, die Merkels Deutschland in ein Neo-Biedermeier verwandelt hat, das die Kanzlerin perfekt verkörpert. Merkel hat Deutschland nicht sozialdemokratisiert, sondern nur entpolitisiert und die „Emotionalisierung“ des politischen Diskurses in Gang gesetzt.

Statt Politik – Emotionalisierung

Die Emotionalisierung hat Merkels Paradigmenwechsel in Sachen Flüchtlingspolitik eingeläutet. Während die Kanzlerin im Frühjahr in Rostock gegenüber dem palästinensischen Flüchtlingskind Reem noch betonte, dass es nicht zu schaffen sei, alle Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, folgte wenige Wochen später die Öffnung der Grenzen. Das „Wir schaffen das“ ist mittlerweile zum geflügelten Wort und die ungesteuerte Zuwanderung als politisches Schicksal schon längst zur Realität geworden. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen ist die neue Richtlinienkompetenz aus dem Bundeskanzleramt.

Merkels „Herkulesaufgabe“ steht noch bevor

Merkels große „Herkulesaufgabe“ steht aber noch bevor. Eine Million Flüchtlinge sind in Deutschland angekommen, die Zahl der nichtregistrierten dürfte deutlich höher sein. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes leben 1.100 gewaltbereite Islamisten in der Bundesrepublik, worunter laut seinem Präsidenten, Maaßen, 430 Personen als so gefährlich eingestuft werden, dass ihnen jederzeit eine schwere Straftat zuzutrauen ist. Die Lage in den Flüchtlingsheimen ist mittlerweile katastrophal, oft menschenunwürdig die Unterbringung in Zelten, Turnhallen und Werkshallen. Die Willkommenskultur ist das eine, die Gewährleistung humanitärer und würdevoller Aufnahme das andere. Die Grenze, die Obergrenze ist also schon längst erreicht, nicht nur die Helfer sind völlig überfordertet auch die Regierung mit der Eingliederung und Registrierung der Flüchtlinge. Doch das geht an Merkel noch spurlos vorbei – und auch an der SPD, die auf ihrem Parteitag in Berlin Mitte Dezember 2015 eine Obergrenze weiterhin ablehnte.
Auch dürfte sich die Lage in den nächsten Jahren keineswegs entschärfen, sondern noch an Brisanz gewinnen. Die Hauptaufgabe bleibt dann die gelingende Integration, die Vermittelung in den Arbeitsmarkt, in die Schulen, in den Alltag. Wer keine Beschäftigung hat, der wird sich um die europäischen Werte von Aufklärung und Christentum und um seine Integration in die westliche Kultur überhaupt nicht kümmern wollen, was sich sicherlich auch in der Kriminalitätsrate spiegeln wird. Angst und vielleicht bürgerkriegsähnliche Unruhen werden vielleicht die Realität von morgen sein.
Merkels große Stunde ist also nicht, wie die „Time“ meinte, schon gekommen, sie wird sich erst in den nächsten Jahren unter Beweis stellen dürfen, wenn es darum geht den status quo zu halten, das Land vor weiteren Spaltungen und die innere Sicherheit zu bewahren, damit wir nicht, wie in Frankreich, vor den Städten lauter Banlieues bekommen, wo nicht die Gesetze des Rechtsstaates, sondern das Recht des Stärkeren regiert. Wir brauchen nicht noch mehr Parallelgesellschaften, sondern ein friedliches Land, wo zumindest die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes von allen respektiert werden. Sollte dies tatsächlich gelingen, dann wäre Angela Merkel auf dem Titel der „Time“ tatsächlich richtig positioniert.

Quelle: theeuropean.de

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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