Mit dem zunächst einschüchternden Titel „L’art de guillotiner les procréateurs“ (Die Kunst, die Erzeuger zu guillotinieren) legt der belgische Philosoph Théophile de Giraud (*1968) ein gleichwohl humanistisches Werk vor: ein für die Beendigung menschlicher Misere und deswegen für die Einstellung menschlicher Fortpflanzung argumentierendes Manifest. Worin sollte eine „Kunst, die Erzeuger zu guillotinieren“ bestehen? Nun, de Girauds Werk, sein auf den Leser zugehender, geschmeidiger und neologismenreicher Stil ist diese Kunst:
Das bislang nur in französischer Sprache vorliegende Buch richtet sich an eine nach 100en Millionen Menschen umfassende Leserschaft: an Umweltschützer, Globalisierungsgegner, vor allem aber an Menschen, die vor der ungeheuren Entscheidung stehen, Menschen zu zeugen. Zugleich erfüllt das Buch die von vielen anderen Autoren unerfüllten Wünsche der Literaturkritik, die sich nicht selten in der Klage ergeht, es gebe keine kräftigen, engagierten, korrosiven und revolutionären Texte mehr.
Der Autor darf sich als Humanist verstehen, da er für die Einstellung der Fortpflanzung plädiert. Wer nicht für die Einstellung der Fortpflanzung plädiert, verordnet den eigenen Kindern, als Element der Conditio humana, dreierlei Schmerz: 1. Den vom zur Welt kommenden Menschen durchzustehenden Schmerz des Geborenwerdens; 2. den mit der Daseinsfristung einhergehenden Schmerz; 3. den Schmerz des Sterbens. Den zwischen Geborenwerden und Sterben liegenden Daseinsschmerz fächert Giraud näherhin in einen bionomischen Dekalog auf, in 10 Gesetze der Existenz, deren unverbrüchlichstes darin besteht, dass Schmerzen und Entbehrungen länger währen, intensiver sind und einfacher zu haben sind als Glückserfahrungen. Markant ist, dass Giraud unser Augenmerk auf den Geburtsschmerz des Geborenwerdens lenkt, während sich die perinatale Aufmerksamkeit bislang auf die Schmerzen der Gebärenden richtete.
Weit davon entfernt, die Fortpflanzung ungeprüft abzulehnen, untersucht – und verwirft – unser Autor eine Serie von Gründen, die für sie sprechen könnten: Liebe, das großartige Abenteuer des Daseins; die Fortsetzung der Menschheit; der Wunsch, etwas zu hinterlassen; religiöse Pflichten: Gott verlangt…; das Kind als Wirtschaftsfaktor und Rentenbringer; Neid und andere Gründe mehr.
Nach der Demontage dieser nativistischen Beweggründe präsentiert de Giraud seinen Lesern diejenigen Mechanismen, die seines Erachtens die tatsächlichen Lokomotiven der Fortzeugung sind. Neben unserer genetischen Justierung sind dies: Egoismus, Narzissmus, Sadismus, Eifersucht, Stolz, Despotismus, verkappte Pädophilie, Infantilismus. In Anbetracht dieser vom Autor aus der generativen Psyche herausdestillierten Liste eher niederer Beweggründe stellt sich die Frage, warum wir unsere Eltern dennoch lieben oder ehren. de Giraud bleibt seinen Lesern keine Antwort schuldig, sondern erinnert an das Stockholm-Syndrom, dem zufolge das Opfer einer Untat (hier: die Zeugung) Sympathien für den Missetäter entwickelt, der ihn – in diesem Fall: ins Dasein – entführt hat. Der Autor bleibt seinen Lesern nicht bloß keine Antwort schuldig, sondern vorenthält ihnen auch kein Zitat. Wer Giraud liest, wird mit einer Fülle humanistisch geprägter Stellungnahmen zahlloser Autoren aus Philosophie, Religion und Weltliteratur beschenkt, ohne den Eindruck zu gewinnen, der Autor, wolle seine Belesenheit zur Schau stellen.
Ethisches Hauptstück des antinatalistischen Manifests bildet das fünfte Kapitel, welches von der Inkompatibilität von Ethik und Fortpflanzung handelt, die de Giraud mit folgendem Syllogismus transparent macht:
Zu bewirken, dass ein anderer leidet, ist mit jeglicher Ethik unvereinbar;
wer lebt, kommt nicht umhin zu leiden;
folglich ist es unethisch, jemanden zu zeugen.
An das Kapitel über die Unvereinbarkeit von Ethik und Fortpflanzung schließen sich Ausführungen über ein künftig zu etablierendes Recht aller Kinder an, die eigenen Eltern dafür zur Rechenschaft ziehen zu können, dass sie (die Kinder) gezeugt wurden. Diesbezüglich hat Giraud einen französischen in Georges Poulet einen Vorläufer, der diesen Gedanken 1913 in seinem Roman Rien n’est formulierte (siehe: http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3818/).
Im siebten Kapitel machen wir nähere Bekanntschaft mit einem von mehreren gelungenen Neologismen de Girauds: Surpollupopulation, was sich mit Übervölkerungsverschmutzung übersetzen ließe. Mit jedem zusätzlichen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften gezeugten Kind, rechnet Giraud uns vor, werden 200.000 kg Abfall in die Welt gesetzt, die unseren bereits moribunden Planeten weiter belasten. Bei unverminderter Surpollupopulation würden die im Jahr 2050 ihr Dasein fristenden 10–12 Milliarden Menschen nur mehr als zum Vegetarismus Zwangsbekehrte ernährt werden können. Leider nimmt Giraud den Vegetarismus nur als enggeschnallten Gürtel wahr, statt in ihm einen Komplizen des Antinatalismus zu erkennen, dem es schließlich nicht nur um Menschen, sondern um alle schmerzempfindlichen Wesen gehen sollte. de Giraud lässt unbedacht, dass der Vegetarismus praktizierter Antinatalismus ist, sofern eine pflanzenbasierte Ernährung die Nachfrage nach neuen Schlachtungen, Zeugungen und somit Geburten sogenannter Nutztiere mindert.
Unter der Überschrift Agathogenese fordert de Giraud nach dem Vorbild des für Fahrzeuge obligatorischen Führerscheins einen Elternschein, der erst nach gründlicher Ausbildung vergeben werden sollte. – Eine Forderung, wie sie auch G. Bleibohm in seinem Fluch der Geburt (2. Aufl. 2011) ausspricht. Mit dem obligatorischen Elternschein sollen die Chancen künftiger Kinder auf eine erträgliche Kindheit und Jugend erhöht werden. Eng verknüpft mit der Forderung nach einem Elternschein ist de Girauds Eloge auf die Adoption: Wer die Kinder dieser Welt liebt und nicht das eigene Selbst, zu dessen Feier, Aufwertung, Schutz oder Verwirklichung Kinder gezeugt werden, möge existierende Kinder adoptieren, um deren Los zu verbessern. Statt mit einem eigenen Kind neue Notlagen hervorzubringen, so kann Giraud überzeugend argumentieren, sollte man mittels Adoption ein bereits in Not befindliches Kind aus seiner misslichen Lage befreien. Nachdrücklich und -denklich wirft de Giraud die Frage auf, warum noch die ungeeignetsten Eltern beliebig viele Kinder in ein voraussichtlich leiderfülltes Dasein treten (lassen) dürfen, während mutmaßlich gute Eltern umständlich belegen müssen, dass sie psychosozial zur Adoption eines bereits notleidenden Kindes geeignet sind.
Zu seinen Verbündeten kürt de Giraud den Feminismus sowie die Globalisierungsgegner. Die Globalisierungsgegner ruft er zu einem weltweiten Fortpflanzungsstreik auf, der so lange währen soll, bis die Welt von ihnen selbst als bewohnbar beurteilt wird. Den Gegeneinwand: „Aber unser Kind wird mit uns für eine bessere Welt kämpfen!“, lässt Giraud nicht gelten. Es obliege den gegenwärtig lebenden Menschen, die Welt so einzurichten, dass sie bewohnbar wird. Sich Kinder als Werkzeuge zu zeugen, auf dass sie die Welt bewohnbar und das Leben für künftige Generationen lebbar machen, sei infam.
Neben praktischen Forderungen nach einem Elternschein oder dem Aufruf zu einem globalen Fortpflanzungsstreik tritt unser Autor als bedeutender Theoretiker hervor. de Giraud bietet eine theoretische Handhabe zum Verständnis des kulturenübergreifenden Phänomens der Misogynie sowie der Scham. Warum sind die Religionen bestrebt, uns davon zu überzeugen, dass das Böse durch die Untat einer Frau in die Welt kam, wenn nicht deshalb, weil die Person, die die Schuld für unseren Eintritt in diese Welt trägt, eine Frau war? Weil wir durch die Frau ins Böse kommen, kommt alles Böse von der Frau, was die Misogynie aller Zeiten und aller Orte konstituiere. Auch für seine Hypothese zur Deutung des Phänomens der Scham zieht Giraud die von ihm so genannte Genethliophobie herbei: Das schamhafte Verbergen der Fortpflanzungsorgane, gründe wie die Misogynie in unserer unbewussten Ablehnung des Gezeugt- und Geborenwordenseins, woran diese Organe erinnern. In letzter Instanz sei der vielen Religionen eignende Keuschheitskult der Erbe eines gegen die Fortzeugung gerichteten esoterischen Kerns der jeweiligen Religion, deren antinatalistischer Impetus längst verwässert sein mag.
In zwei Anhängen stellt uns de Giraud pessimistische (also realistische) sowie feministisch-antinatalistische Zitatensammlungen zur Verfügung – leider ohne genauere Literaturangaben. Man gehe einmal der Frage nach, wie viele der zitierten nativitätskritischen Frauen neben ihren geistigen oder künstlerischen Werken leibliche Kinder zur Welt brachten.
Théophile de Giraud
L’art de guillotiner les procréateurs. Manifeste anti-nataliste, Nancy 2006, 207 S.
ISBN: 2-9165-0200-9
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