Mit dem deutschen Luftangriff auf die polnische Kleinstadt Wieluń begann am 1. September 1939 der zweite Weltkrieg – damals wie heute schöpfen die Bewohner Kraft aus ihrem katholischen Glauben. Ein Ortsbesuch.
Sauber, modern und mit vielen Grünanlagen. So zeigt sich Wieluń seinen Besuchern. Über die gepflegten Alleen schlendern junge Leute mit Rücksäcken, bunten Haaren und dem obligatorischen Smartphone. Manche kommen aus der Berufsschule, andere gehen shoppen oder bevölkern abends die Clubs und Bars im Zentrum. Wielun ist eine fröhliche, freundliche Stadt, mit schönen Häusern, kostenlosem WLAN und Geschäften in allen Preisklassen. Auch die Kirchen seien sonntags gut besucht, heißt es, und dass junge Ordensleute im Habit hier wie selbstverständlich das Straßenbild prägten. Der katholische Glaube gehört in Polen zum Alltag wie wohl kaum sonst wo in Europa. Doch was nur Wenige wissen: In Wieluń begann am 1. September 1939 auch der zweite Weltkrieg, mit einem verheerenden deutschen Luftangriff, wenige Minuten vor dem Beschuss der Westerplatte in Danzig, was fälschlicherweise oft mit dem Beginn des Krieges assoziiert wird. In Erinnerung an dieses dunkle Kapitel Stadtgeschichte hat die Verwaltung unweit des Krankenhauses ein Ruinenfeld erschlossen, das als Mahnmal und Freilichtmuseum dient. Immer wieder tauchen dort Gruppen auf. Sie legen Kränze nieder, spazieren zwischen den steinernen Überresten und schießen Erinnerungsfotos; die Informationstafeln sind neben Englisch und Polnisch auch in Deutsch, was immer wieder zu Diskussionen führt. Denn bis 1944 war Deutsch die Sprache der Besatzer, das Verständigungsmittel einer angeblichen Kulturnation, die sich im Lande von Fréderic Chopin, Marie Curie und Janusz Korczak wie Barbaren aufführte und jede Menschlichkeit vermissen ließ.
Vorbereitete Mordlisten
Historiker sind sich einig: Das den Polen im zweiten Weltkrieg angetane Unrecht stellt in Europa bis heute alles Gewesene in den Schatten. „Allein in den ersten Kriegswochen durchkämmten SS- und Gestapoeinheiten systematisch polnische Städte und Dörfer und erschossen Menschen, die sie zur geistigen Elite zählten, rund 60.000 Männer und Frauen“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin. Ob Lehrer, Pfarrer oder Architekt, Polen sollte seiner Führungselite beraubt, die Bewohner versklavt werden. Die Polen sollten den Besatzern als Hilfskulis dienen, gerade so ihren Namen schreiben und bis 100 zählen können, so der perfide Plan Hitlers und seiner Komplizen. Es war kein Zufall, dass die Vernichtungslager der Nazis nicht im Westen, sondern eben hier ihren Platz fanden, an einem Ort, dessen Bewohner in der NS-Ideologie als slawische „Untermenschen“ galten. Kurz nach dem Einmarsch schlossen die Besatzer Universitäten und höhere Schulen, da sie dort mit Widerstand rechneten, wie das Beispiel der „Weißen Rose“ später zeigen sollte. Die Wohnadressen der zu Erschießenden, die berüchtigte „Polenliste“ hatten kollaborierende Volksdeutsche der Gestapo schon ab 1936 zugespielt, so dass die Terrorkommandos leichtes Spiel hatten. Dass Hitler den Krieg von langer Hand plante, wusste die polnische Auslandsaufklärung lange vorher. An ihren legendären Mitarbeiter, den Kryptoanalytiker Marian Rejewski, der bereits 1932 den Code der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma 1 geknackt hatte, erinnert heute an der Universität Posen ein Denkmal. Rejewski arbeitete später für die britische Regierung und starb hochdekoriert 1980.
Sühne durch den Sohn
Organisator des NS-Terrors in Wieluń und andernorts war Hans Frank, ein promovierter Rechtsanwalt aus München, der als „Schlächter von Polen“ in die Geschichte einging und dafür 1946 in Nürnberg gehenkt wurde. Angeblich habe er von den Verbrechen nichts gewusst, behauptete Frank gegenüber dem amerikanischen Gefängnispsychologen Gustave M. Gilbert. Kurz zuvor war er zum katholischen Glauben übergetreten. Sein Sohn Niklas Frank, ein ehemaliger „Stern“-Reporter, sieht sich heute als Fürsprecher der Opfer des NS-Terrors. Wiederholt war Frank Junior zu Gast im ZDF und trat als Zeitzeuge in TV-Dokumentationen auf. Auch in Wieluń ist er kein Unbekannter. Wiederholt hat sich der mittlerweile 84-Jährige mit Nachfahren der Opfer des Luftangriffs am 1. September 1939 getroffen und öffentlich seine Scham bekundet. Bis heute trägt Niklas Frank, der als Kind mit Eltern und Geschwistern in Krakau lebte, in seiner Jackentasche ein Foto des hingerichteten Vaters, um sicher zu gehen, „dass der auch wirklich tot ist“, so Frank Junior im Originalton.
Früher ein Kloster
Das Wieluńer Ruinenfeld zeige das, was nach der Luftattacke von der Stadt übriggeblieben ist, erklärt die freundliche Fremdenführerin in gebrochenem Englisch. Und dass die Kulisse auch gern von Brautpaaren und Gästen für Fotos genutzt werde.
Das heutige Wieluń ist vor allem nach dem Krieg neu auferstanden, was der Besucher deutlich an den geschlossenen Baulücken im Zentrum erkennt. Einen halben Kilometer entfernt liegt das Stadtmuseum, das im 17. Jahrhundert ein Frauenkloster beherbergte und sich eifrig bemüht, die Stadtgeschichte nicht allein auf die NS-Zeit zu reduzieren. „Und doch kommen die meisten Besucher allein deswegen hierher“, räumt ein Museumsmitarbeiter ein. Bis in die Steinzeit reicht die Geschichte Wieluńs, und noch heute lagern im Depot originale Rüstungen und Waffen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Da aber die Anfragen über den Ausbruch des zweiten Weltkrieges zunehmen, gibt es dazu nun eine Dauerausstellung, die zeigt, dass in Wieluń vor Hitlers Überfall ein buntes Völkergemisch aus Katholiken, Orthodoxen und Juden weitgehend friedlich Tür an Tür gelebt hat; auch wenn der Antisemitismus in Polen keine Erfindung Adolf Hitlers war, was mit zur schmerzvollen Geschichte des zweiten Weltkrieges gehört.
Barmherzige Schwestern
Jedes Jahr neu treffen sich in der polnischen Hauptstadt Warschau europäische Neonazis, um gegen alles Mögliche zu demonstrieren, wobei neben der polnischen Flagge auch Hakenkreuze und altgermanische Runensymbole zu sehen sind, was in Deutschland eine Straftat wäre.
Nach dem deutschen Einmarsch 1939 fanden die Wieluńer vor allem Trost in ihrem katholischen Glauben, den sie auch im Alltag lebten. Ordensschwestern kümmerten sich tagein tagaus um Schwerverletzte, auch um Deutsche, die bald darauf zum Alltag gehörten. Denn auch wenn die Invasion Polens innerhalb weniger Wochen gelang, so fielen dabei doch auch Zehntausende deutscher Soldaten; ein Umstand, den die Nazipropaganda systematisch ausblendete und stattdessen unablässig von Erfolgen im Kampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“ tönte; bevor sich das Kriegsglück wendete und im Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation ein apokalyptisches Ende fand.