Terror im Innern

Martín Kohan, Zweimal Juni, Titel der Originalausgabe: Dos veces junio, Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main (März 2009), 183 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 351842078X, ISBN-13: 978-3518420782, Preis: 19,80 EURO

Argentinien – ein Land, welches die meisten spontan mit Tango, Gauchos, der weiten Pampa und mit Diego Maradonas spektakulärem Fußball assoziieren. Aber diese südamerikanische Republik hat auch eine äußerst unrühmliche Vergangenheit. Namen wie Videlas und Masseras, Freunde des chilenischen Generals Pinochet, rufen für viele traumatische Erinnerungen hervor.

Während der Jahre 1976 bis 1983 wurde das Land von einer Militärdiktatur regiert, die zu den blutigsten in ganz Lateinamerika gehörte. Ein Zeitraum von sieben Jahren, in dem die größte Tragödie geschah, die Argentinien in seiner Geschichte jemals erfuhr, nachdem es sich im Jahre 1816 von Spanien unabhängig gemacht hatte. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen beläuft sich die ungefähre Zahl an Opfern auf 30.000 Personen. Andersdenkende und politisch engagierte Menschen wurden entführt und in über das Land verteilten geheimen Haftzentren gefoltert und ermordet. Gezielt machten sich die Folterer daran, auch das Schicksal der nachfolgenden Generation massiv zu verändern und das in ihren Worten „subversive Erbe“ auszumerzen. Schwangere Frauen hielt man in der Haft trotz Folter so lange am Leben, bis sie ihre Kinder zur Welt gebracht hatten. Diese wurden dann illegal von Familien oder Freunden der Militärs adoptiert und mit den „richtigen Werten“ erzogen.

In dieses Szenario – die Winter der Jahre 1978 und 1982 – versetzt Martín Kohan den Leser. Als Erzähler fungiert ein junger Rekrut, ein namensloser Mitläufer der Militärdiktatur, der als Chauffeur des hochrangigen Militärarztes Doktor Mesiano seinen Dienst bestreitet. Kurz nach seiner Einberufung findet er im Benachrichtigungsbuch seiner Einheit einen Eintrag des diensthabenden Feldwebels, der ihn in Aufregung versetzt: „Ab wieviel Jahren kann man ein Kind folltern?“ Doch nicht die Signifikanz des Geschriebenen lässt ihn echauffieren, sondern der eine Buchstabe zuviel in diesem eminenten Satz. Denn kaum „etwas störte mich so sehr wie Rechtschreibfehler.“, stellt er fest. Mittels des danebenliegenden Kugelschreibers gelingt es ihm „aus den zwei zum Glück nah beieinander stehenden l eines zu machen, dem nur bei genauem Hinsehen anzumerken war, dass es das Ergebnis einer geschickten Korrektur darstellte, ein wenig fett vielleicht, aber letztlich doch ein l, wie es sich gehörte.“

Permanentes Relativieren und Herabsetzen des augenblicklichen Geschehens

Die menschenverachtenden Mechanismen der Videla-Diktatur erzeugen bei dem beinahe sympathisch erscheinenden Icherzähler, dem mehr oder weniger Involvierten, keine ethischen Bedenklichkeiten. Auch nicht, als er Zeuge eines „Fachgespräch“ seines Chef wird und jener ebendiese prekäre Frage salopp als falsch gestellt abtut. Denn „auf das Alter kommt es gar ich an, sondern auf die Masse, auf das Gewicht: Das entscheidet darüber, wie viel ein Körper aushält.“ Aber da das Neugeborene offensichtlich zu wenig wiegt – die Waage des Arztzimmers zeigt erst ein Gewicht ab fünf Kilogramm an – sei eine Folter des Säuglings wohl nicht sinnvoll. Auch wenn dies als letzte, wirkungsvolle Möglichkeit der kaum noch lebensfähigen „Delinquentin“ in Betracht gezogen wird, um diese doch noch zu einer Aussage zu bewegen.

Selbst als der Ich-Erzähler mit der leidgeprüften Frau „in Kontakt“ gerät und diese ihn anfleht, ihr Kind zu retten („Du bist keiner von ihnen. Du musst mir helfen.“), unternimmt er nichts. Im Gegenteil, er beschimpft die schwer gemarterte Frau auf chauvinistische Art und Weise: „Du bist tot, du Fotze […]Extremisten helfe ich nicht.“ Er reagiert ganz nach dem Gustos seines Chefs: „'Die Guerrilleras lassen sich extra schwängern', sagte Doktor Mesiano. 'Sie glauben, wenn sie schwanger sind, tun wir ihnen nichts.'“

Ein permanentes Relativieren und Herabsetzen des augenblicklichen Geschehens vor sich selbst bestimmt den Standpunkt des Erzählers, den mental eher ein gemeinsamer Bordellbesuch mit seinem Vorgesetzten, einem treuen Kirchengänger, beschäftigt, als die schrecklichen Dinge, deren Mitwisser er geworden ist.
Außerdem findet in diesem Juni gerade die Fußball-Weltmeisterschaft statt, bei der das argentinische Nationalteam auch noch als Sieger hervorgeht. Es herrscht Massenpsychose und -manipulation. Millionen sind in chauvinistischer Jubelpose. Der Erzähler interessiert sich mehr für Heimatclub, Trikotnummern und Größen der aufgestellten Spieler, als für die Verabreichung von Stromschlägen, Untertauchen als Foltermethode und andere Verbrechen an der Menschlichkeit.

Szenische Perspektiven, kalte Sprache

Den Epilog verlegt Martín Kohan ins Jahr 1982. Der ehemalige Rekrut hat sich mittlerweile als Medizinstudent immatrikuliert und besucht aufgrund einer Todesanzeige seinen hochgeschätzten ehemaligen Vorgesetzten Doktor Mesiano. Wieder wird eine Fußballweltmeisterschaft ausgetragen. Aber Argentinien erhält einen herben Dämpfer. Denn nicht nur der Falklandkrieg wird verloren, sondern auch das Fußballnationalteam scheidet in der zweiten Runde aus.

Trotz der allzeit spürbaren Schrecknisse ist der Text des 42-jährigen argentinischen Schriftstellers nicht vordergründig anklagend, sondern eher subtil, diffizil, beinahe unschuldig, ja unbeteiligt, aber gerade dadurch nahezu brillant in seiner Einfachheit. Martín Kohan schreibt mit ausgeprägtem Sinn für ambivalente Situationen. Sein Stil ist karg, funktional und knapp – manche der durchnummerierten Kapitel umfassen nur wenigen Zeilen – aber äußerst präzise. Die Hauptkapitel tragen ebenfalls Nummern, die jedoch in ihrer scheinbaren Ungeordnetheit einen ganz speziellen Bezug zum Text offerieren. Ständig setzt der Autor wechselseitig zwei oder mehrere Perspektiven gegeneinander, ja beinahe szenisch ein. Viele kleine Momentaufnahmen werden miteinander verschränkt. Die kalte Sprache scheint nahezu mathematisch kalkuliert und hektisch. Ob ihrer Schnelligkeit lässt sie dem Leser während der Lektüre kaum Zeit für Reflexionen. Diese setzen erst nach dem Zuschlagen der letzten Seite ein. Dann versucht man aus den vielen kleinen Splittern auf eigene Art und Weise ein stimmiges Bild zusammenzusetzen. Erst jetzt entstehen aus scheinbaren Banalitäten schockierende Erkenntnisse mit langer Nachwirkzeit.
Der Übersetzer Peter Kultzen hat den prägnanten Ton des Autors großartig ins Deutsche übertragen.

Fazit:
Ein dunkles Kapitel argentinischer Geschichte hat Martín Kohan in diesem beinahe wie ein fragmentarisches Puzzle anmutenden Roman „Zweimal Juni“ verarbeitet: die argentinische Militärdiktatur, ihre grauenvollen Machenschaften und das scheinbare Unbeteiligtsein, das Desinteresse, die Ignoranz ihrer Mitläufer, Erfüllungsgehilfen und Opportunisten. Nicht die Taten werden moralisierend hervorgehoben, sondern die Tatenlosigkeit. Ein Buch, das ungeheuer nachdenklich macht, auch ohne dass das Grauen mit direkten Worten beschrieben ist.

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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