Obwohl sich die Ouverture spirituelle in diesem Jahr dem Thema „Lacrimae – Tränen“ widmet, habe Igor Levit zusammen mit Intendant Markus Hinterhäuser und Konzertleiter Florian Wiegand kein trauriges Programm ersonnen. Fröhlich aber werde es auch nicht, sagt der Pianist beim TerrassenTalk einen Tag vor seinem ersten Solistenkonzert bei den Salzburger Festspielen. Vielmehr sei es ein zutiefst freies Programm. Es gehe um den Geist des In-sich-Gehens und gleichzeitig um das Aus-sich-heraus-Sprechen.
Johann Sebastian Bach sei in diesem Programm allgegenwärtig. Es erklingt etwa Franz Liszts Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen. – Variationen über ein Motiv von Bach. – „Mit diesem Stück wird das Bach‘sche Werk von den Ketten gelassen“, sagt der Pianist. Genau dieses Gefühl habe er aber auch bei Ferruccio Busonis Fantasia contrappuntistica, mit dem er den Abend beschließt. „Busoni ist ein Held! Nicht nur ein wichtiger Komponist und Pianist, auch ein wichtiger Mensch und Denker“, sagt Igor Levit. Seine Fantasia sei ein Paradebeispiel für dieses Gefühl, Bach von den Ketten zu lassen. Busoni beginnt dieses Stück mit dem letzten Kontrapunkt von Bachs Die Kunst der Fuge, seinem berühmten B-A-C-H. Während Igor Levit darüber spricht, wandern seine Finger über die Tasten des Klaviers, um das Gesagte zu verdeutlichen.
Die Variation, das sei seine liebste musikalische Form. „Variationen fordern meine Neugierde und meinen – sehr schnellen – Spieltrieb. Meine Augen und Ohren müssen überall gleichzeitig sein“, sagt der Pianist. Er kreise im Privaten gerne um ein Problem herum und das sei bei der Variation ähnlich. Das Thema von allen Seiten beleuchten zu können, mache ihm wahnsinnig viel Freude. Wenn dies dann auch noch fast 60 Minuten lang dauere, gehe ihm das Herz auf. „Ich entdecke dabei immer Neues“, sagt er.
Als Florian Wiegand im Jahr 2013 von Markus Hinterhäuser gefragt worden sei, ob er als Konzertchef bleiben möge, habe er sofort ja gesagt. – Es war allerdings eine Bedingung daran geknüpft. Er habe dem Intendanten versprechen müssen, Igor Levit erst in seinem ersten Intendanten-Jahr, 2017, zu seinem Debüt nach Salzburg zu bitten. Und so kam es auch: Am 24. Juli 2017 gab Igor Levit zusammen mit Markus Hinterhäuser mit einem Kammerkonzert sein Debüt und gab seither sechs Konzerte, in diesem Sommer folgen zwei Solistenkonzerte am 22. Juli und am 4. August. „Igor Levit ist ein wunderbarer Partner, denn man spricht mit ihm nie darüber, ein Tourneeprogramm in Salzburg abzuspulen“, sagt Florian Wiegand. „Vielmehr geht es mit ihm immer um die Frage, welche Werke programmatisch passen.“ Und der Pianist schaffe es auch immer wieder ihn zu überraschen. Bei der „Hammerklavier-Sonate“ von Beethoven im vergangenen Jahr etwa habe er das Gefühl gehabt, das Werk zum ersten Mal zu hören, obwohl er es sehr gut kenne.
Den Fokus auf die Eigenproduktionen zu legen, und nicht auf Tournee zu gehen, das sei ein Thema, mit dem sich die eigene Branche in den kommenden Jahren stark auseinandersetzen müsse, sagt Igor Levit. „Was ist der künstlerische Mehrwert von einem Leben als Musiker, der heute in Paris, morgen in Tokyo und übermorgen in New York auftritt?“ – Der Klimawandel sei ein allgegenwärtiges Thema und das werde sicherlich wirtschaftliche und damit in der Konsequenz auch künstlerische Folgen haben. Man müsse sich fragen, was es bedeute für ein gesamtes Orchester durch die Welt zu fliegen. „Vor allem der normale Konzertbetrieb muss sich warm anziehen. Wir werden über eine Deglobalisierung nachdenken müssen.“
Bei seinem zweiten Solistenkonzert am 4. August im Haus für Mozart erklingen am Ende Beethovens Diabelli-Variationen, ein Stück, das er sicher schon über 400 Mal gespielt habe, sagt der Pianist. „Manchmal nervt es mich, aber das liegt an mir. In Wahrheit ist es das wichtigste Werk in meinem Repertoire, der Dreh- und Angelpunkt und ein intellektuelles sowie emotionales Ereignis“, sagt er. Zehnmal schlägt er den selben Ton am Klavier an. – „Das ist das wichtigste Motiv in diesem Werk“, sagt er. „Das ganze Stück basiert auf diesem repetitiven nerv tötenden Ton. So einfallsreich ist das nicht. Aber was Beethoven daraus erschafft, ist einfach ein Weltwunder.“ Die erste Variation sei eine Ohrfeige gegen den Walzer – ein Walzer mit 2/4-Marsch gebrochen, das sei eine geniale Ohrfeige.
Am Ende des Gespräches kam Igor Levit auf die Rolle des Interpreten zu sprechen: Wenn er am Klavier sitze, sei er weder der Diener noch der Meister des Komponisten, sagt Igor Levit. Es sei unkünstlerisch und eingebildet zu glauben, man sei eine Art Medium des Komponisten. „Ich versuche meinen Auftrag zu erfüllen“, sagt der Pianist und zeigt auf eine Seite seiner Partitur.