Teilnehmende Beobachtungen oder Die Fülle der Zeit


„Das Fragen und Antworten ist in guten Dialogen eine Lust und ein Fest, doch man muss von dieser Kunst etwas verstehen, um sie als Lust und Fest zu erleben. Ich glaube davon viel zu verstehen, ich bin eine Art Fachmann für diese Kunst, und es ist mir gelungen, daraus sogar meinen Beruf zu machen. (…) Ich beginne also jeweils mit den leuchtenden, schmucken Oberflächen der städtischen Räume, betrachte dann ihre Bewohner, bringe sie zum Sprechen und dringe dann ein in die Tiefenschichten der Bewusstseinräume und psychischen Keller. (Meine Arbeit ist Raumforschung, und ein Verhältnis zur Zeit entsteht ganz nebenbei…)“.
Was der Ich-Erzähler in Hanns-Josef Ortheils neuem Roman hier beschreibt, ist die Arbeit eines Ethnologen. Diese beschreibende, vergleichende und reflexive Kultur- und Sozialwissenschaft umfasst u. a. auch die Konstruktion und Dekonstruktion des Eigenen und des Fremden. Ihr Ziel ist, ein Verständnis von dynamischen kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen, von Handlungskontexten und Sinnstiftungen herzustellen. Und genau dies beinhaltet die Forschungsarbeit von Benjamin Merz, Ortheils knapp vierzigjährigem Protagonisten, der sich zu diesem Zweck in dem kleinen südsizilianischen Städtchen Mandlica niederlässt, das vor allem durch seine leckeren Dolci bekannt ist und das in manchem dem real existierenden Modica ähnelt.
Durch seine gekonnte und raffinierte Fragetechnik wird er schnell als „Magier des Fragens“ bekannt. Ihm gelingt es scheinbar mühelos, jedem noch so verschlossenen Gegenüber selbst kaum mehr bewusste oder verborgene Geheimnisse des innersten Lebens und Fühlens betreffend, zu entlocken. Seine „ethnologischen Vermessungen“ des Städtchens und eine beginnende Liebe offenbaren alsbald auch einen inneren Reife- und Werdeprozess. Italien scheint wie schon in den anderen Romanen des Autors dafür der ideale Ort zu sein. Aus dem anfänglich extrem scheuen Ethnologen Benjamin Merz wird zunehmend ein anderer Mensch.
Unter dem heiteren, leichtfüßigen, kunst- und lustvollem Plot, steckt allerdings etwas Tiefernstes, liegt eine geheime Welt verborgen. „Ich werde so lange von meiner Kindheit erzählen, bis ich selbst das Gefühl habe, es sei genug.“, platzt es am Ende aus Benjamin Merz beinahe wie eine Erlösung und Befreiung heraus. Vier Brüder kamen vor Ortheils Geburt ums Leben und er lebte eine Zeit lang selbst sprachlos in enger, ängstlicher Symbiose mit seiner verstummten Mutter. Nun macht er das real Geschehene ungeschehen und dichtet sich in Gestalt von Benjamin Merz seine vier Brüder hinzu. Doch aus seiner Schreibfeder entsteht alles andere als eine heile Familienwelt. Wiederum sind es die Brüder, die den Nachzügler verstummen und sich abkapseln lassen. Einzig seine unzähligen Schreibhefte zeugen von den heruntergeschluckten Worten und Fragen, von den einsamen Monologen in seinem Leben.

Hanns-Josef Ortheils Sprachforschungsroman entfaltet sich ähnlich wie die so typische italienische Kommunikation, bei der mit Sonnenaufgang in den Wohnhäusern und Geschäften der „Erzählmotor angeworfen“ wird, „Erzählkerzen entzündet und erste Erzählpirouetten gedreht“ werden. „Wie ein schwieriges Puzzle, dessen Stücke sich nach reiflichen Überlegungen hoffentlich kunstvoll zusammensetzen lassen“, konstruiert er sein in drei Teile gegliedertes Buch (Der Morgen/Der Mittag/Der Abend). Diesen Kapiteln, die sinnbildlich für die Jahreszeiten Frühling, Sommer und Herbst stehen, setzt er Motti aus Gedichtversen des sizilianischen Lyrikers Salvatore Quasimodo, der1959 den Nobelpreis für Literatur erhielt, voran. Scheinbar mühelos und fast ohne Pausen sprudelt seine Erzählung nur so von Ideen, Anspielungen und Pointen. Worte, Sätze und Assoziationen tauchen ganz spielerisch auf und drängen nach oben. Erneut sucht er wie schon in seinen vorangegangen Romanen „nach Themen, die auch das Seelische oder Emotionale der Menschen berühren“. „Das Kind, das nicht fragte“ ist eine weitere intelligente „psychische Landvermessung“ der Ortheilschen Kindheit, die zuweilen haarscharf an so genannten Klischees vorbei schrammt, sie aber immer wieder gekonnt umschifft.

Hanns-Josef Ortheil
Das Kind, das nicht fragte
Luchterhand Verlag (November 2012)
432 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630873022
ISBN-13: 978-3630873022
Preis: 21,99 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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