Zwei Frauen, zwei grundverschiedene Leben, die sich trotzdem, wenn auch nicht persönlich, begegnen. In dem Buch „Sarahs Schlüssel“ beschreibt die Autorin Tatiana De Rosnay zwei fesselnde Geschichten, die eine fiktiv, die andere auf grausamen Tatsachen beruhend, die sich im besetzen Frankreich im Sommer 1942 zugetragen haben. Beide verschmelzen in der Mitte des Buches miteinander, um letztendlich als amerikanistisches, modernes Pseudohappyend auszuklingen. Alle Personen sind frei erfunden, die geschichtlichen Tatsachen leider nicht. Die Journalistin Julia Jarmond lebt als gebürtige Amerikanerin in Paris. Im Rahmen des 60igsten Jahrestages des „Vél d´Hiv“ im Juli 2002 bekommt sie den Auftrag einen Bericht über die große Zusammentreibung der Juden im Velodrome d`Hiver, mitten im Herzen von Paris, zu schreiben. Im Laufe der Recherchen stößt sie auf die Geschichte der Jüdin Sarah Stazinski, die bei der Massenfestnahme und darauffolgenden Deportation der 12 884 Juden durch die französische Polizei ebenfalls mit ihrer Familie verschleppt wurde. Am 16. und 17. Juli 1942 waren darunter 4000 Kinder, die zunächst im Vélodrome d'Hiver, – einer Radsporthalle – gesammelt wurden. Dort verbrachten die jüdischen Familien Tage zusammengepfercht und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Es gab laut Aussagen französischer Augenzeugen weder Toiletten, Wasser noch Nahrung für die Inhaftierten, die der mörderischen Hitze durch das Glasdach der ehemaligen Maschinenhalle ausgesetzt waren. Von dort wurden die Familien in das französische Internierungslager Drancy, 20 km nordöstlich von Paris, deportiert, bevor sie ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht wurden. Die Zusammentreibung war Teil der nationalsozialistischen Endlösung der Judenfrage und basierte auf einer groß angelegten antisemitischen Zusammenarbeit zwischen der französischen und deutschen Regierung. Die Beteiligung der französischen Vichy-Regierung sowie französischer Polizeibeamter an dieser Aktion war jahrzehntelang ein Tabu in Frankreich. Erst am 16. Juli 1995 entschuldigte sich der französische Staatspräsident Jacques Chirac öffentlich und bekannte offiziell die aktive Mitwirkung französischer Polizei an der Aktion.
Der Roman beginnt mit der nächtlichen Verschleppung der Familie der damaligen 10 jährigen Sarah. Alle, außer ihr kleiner Bruder, den sie in einem geheimen Wandschrank versteckt, um ihn nach ihrer Flucht aus dem Lager wieder zu befreien. Diese gelingt ihr, nicht ohne zuvor dem Leser einen erschütternden Einblick in den damaligen Lageralltag zu offerieren. In Drancy werden gleich nach der Ankunft die Väter von den Müttern und Kindern getrennt, nach ein paar Tagen die Mütter von den Kindern. Alle Altersklassen, vom Kleinstkind bis zum Teenager, sind auf sich allein gestellt, da man sich lange Zeit nicht im Klaren darüber ist, was mit ihnen geschehen soll. Anstelle sie, wie anfangs angedacht, in Kinderheime abzuschieben, entschloß man sich doch, sie ebenfalls nach Auschwitz zu verfrachten. Die Wochen bis zu ihrem Abtransport sind gezeichnet von Schmerzen, Trauer, Angst und Brutalität, die den wenig Überlebenden ein normales Dasein nach dem Krieg zeitlebens versagt. Sarah gelingt die Flucht, und mit Hilfe von Bauern, die sich des Kindes annehmen, schafft sie es bis in die elterliche Wohnung in Paris. Für ihren Bruder kommt jede Hilfe zu spät, er stirbt im Wandschrank, während inzwischen eine Pariser Familie die von den Juden gesäuberte Wohnung wieder bezogen hat. Er stirbt im Kinderzimmer des damals 12 jährigen Schwiegervaters der Journalistin Julia Jarmond.
Im Verlaufe der Aufdeckung dieser Tatsachen beschreibt die Autorin die gemeinsame Geschichte vieler Einwohner von Paris. Das schlechte Gewissen und Verdrängen, der verzweifelte Versuch von Vergangenheitsbewältigung, der bis heute anhält, um den Schmerz und die Abscheu zu ertragen. Aus dem ehemaligen Lager von Drancy, in dem ca. 63000 Juden inhaftiert waren, wobei ein Großteil an den katastrophalen Umständen der Unterbringung und der Behandlung starben, wird nach dem Krieg eine idyllische Wohnanlage für Familien, die die Journalistin, inzwischen auf das Schicksal der kleinen Sarah aufmerksam geworden, besucht. An die Greueltaten erinnert lediglich das Mahnmal des Bildhauers Shlomo Selinger und kleine, unauffällige Tafeln an den Häusern. Immer mehr verstrickt sich das Leben ihrer angeheirateten französischen Familie mit dem Leben der kleinen Sarah, als Julia Jarmond erfährt, daß ihre zukünftige Wohnung in Paris, die der jüdischen Familie ist. Die, in der der kleine Bruder jämmerlich und einsam mit 4 Jahren im Wandschrank verstorben ist. Zu einem persönlichen Kontakt zwischen der Journalistin und Sarah kommt es nie, denn der Jüdin gelingt es nicht, ein neues Leben in einem anderen Land zu führen und sie beendet es selbst, als sie im Alter von 40 Jahren ihr Auto an einen Baum auf einer vereisten Straße lenkt. Zurück bleibt Julia Jarmond, der das Leben von Sarah trotzdem so vertraut ist, und deren Sohn William als einzige Verbindung zwischen beiden Frauen und als einzige Möglichkeit, die Vergangenheit in beiden Familien zu verarbeiten.
In ihrem Buch Sarahs Schlüssel vereint die Autorin den generationsübergreifenden Konflikt zweier sich nur flüchtig bekannter Familien, verbunden durch die Greueltaten des Nationalsozialismus. Oft fällt das Lesen schwer, so erschütternd ist die Geschichte des Leides der kleinen Sarah, so daß einem die Passagen, in denen sie das geordnete Leben der Journalistin verändern, unweigerlich profan erscheinen lassen. Das Buch bleibt von Anfang bis Ende spannend, wobei sich der Schluß leider doch in einem typisch amerikanistisch erwünschten Happyend in die Länge zieht.
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