Talent Plus und Eager Learners heißen die beiden Playgroups in meiner unmittelbaren Nachbarschaft, einem Vorort Singapurs mit vielen jungen Familien und Kindern. Dem entspricht die Dichte an Vorschulen und Kindergärten, die aber auch untereinander konkurrieren, die etwa durch Transparente um die Aufmerksamkeit der Eltern werben und regelmäßig auf den nächsten Anmeldetermin hinweisen. Die Träger sind überwiegend Vereine, Stiftungen, religiöse Gruppen und kommerzielle Unternehmen, die sich durch die nach Einkommen gestaffelt subventionierten Gebühren finanzieren. Wie oft in Asien kann Pädagogik auch ein erfolgreiches Geschäft sein, in Singapur beispielsweise mit dem exklusiv auftretenden Großunternehmen „Eton House“, das mit eleganten Kindergartenpalästen schon architektonisch Akzente setzt und mit dem Prestige des legendären britischen Upper Class-Internats Eton wirbt. In den 1980er Jahren und nach einer Auslandserfahrung in London von einer Mutter von zwei kleinen Kindern in Singapur gegründet, ist Eton House inzwischen ein Konzern mit 120 Vorschulen weltweit, aber mit Schwerpunkt in Asien und fünf Einrichtungen allein in Singapur.
Vergleiche zwischen historisch gewachsenen Systemen sind immer schwierig. Zwischen einem föderalen und an vielen Stellen umstrittenen Flickenteppich von Bildungssystemen in Deutschland, das sich oft durch eine ausgeuferte Bürokratie selbst die Chance zu notwendigen schnellen Anpassungen verbaut einerseits und andererseits einem Stadtstaat mit ausgesprochen pragmatischer Führung und einem permanenten Reform- und Optimierungswillen in Singapur liegen natürlich Welten. Trotzdem ist die Frage berechtigt, warum Singapur und weitere asiatische Länder immer wieder so viel besser bei PISA abschneiden als wir. In den Kernkompetenzen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften schnitten die Singapurer Schüler über die letzten fünfzehn Jahre weit vor Deutschland und auch vor Hongkong, Japan, Taiwan und Korea immer ganz vorn in der Spitzengruppe ab. Die üblichen Argumente wie Tigermütter, autoritärer Unterricht, Faktenhuberei, Nachhilfestunden und ähnliches kann man sich sparen, denn asiatische Schüler schneiden auch in Europa besser ab als die Einheimischen, von der Kluft in den USA ganz zu schweigen. Denn es geht vor allem um die intrinsische Motivation zum Lernen und wie diese systematisch geweckt und gefördert werden kann.
In Deutschland scheint die Zahl der Warn- und Alarmrufe von Pädagogen aller Stufen zwischen Kindergarten und Universität nur noch von der Kaskade der Schuldzuweisungen übertroffen zu werden. Die Kindergartenkinder seien nicht reif genug für die Grundschule, die meisten dann nicht geeignet für die weiterführenden Schulen und schließlich die Abiturienten nicht studierfähig, so hört man es allenthalben. Um möglicherweise einige Fehler im System besser analysieren zu können seien hier einige Aspekte der Vorschulerziehung in Singapur angesprochen, denn etwas wie die besagten deutschen Klagelieder hört man hier überhaupt nicht.
Singapur hat außer seiner Bevölkerung von 3,4 Millionen Einheimischen noch weniger Rohstoffe als Deutschland, nämlich gar keine, und war deshalb von Anfang an darauf angewiesen, massiv in die Aus- und Weiterbildung zu investieren. Die ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede stellten dabei eine besondere Herausforderung dar, weil die vier amtlichen Sprachen, Englisch, Mandarin, Malaiisch und Tamil im Unterricht sowohl differenziert als auch gegeneinander ausbalanciert unterrichtet werden mussten. Auch hier könnte Deutschland bei zunehmender Immigration vielleicht einiges abgucken.
Gerade die Vielfalt der jeweiligen Schülerjahrgänge machte eine Vorbereitung auf die Schule und einen durchstrukturierten pädagogischen Ansatz der frühkindlichen Förderung und Erziehung notwendig, weit entfernt von Aufbewahrung und kindgerecht spielen lassen. Gleichzeitig erleichterte dies die Integration der Mütter in den Arbeitsmarkt, denn die hohe Eigentumsquote bei Wohnungen, die inzwischen bei rund 90% liegt, verlangt trotz staatlicher Subventionen für Ersterwerber natürlich auch spürbare Eigenleistungen beim Tilgen der Hypotheken. Aber eine Mehrheit junger Paare kann recht schnell in eine Eigentumswohnung des sozialen Wohnungsbaus einziehen, in denen 79% der Bevölkerung leben.
Wie sieht nun das Singapurer System der Vorschulerziehung in der Praxis aus? Seit 2013 wird der gesamte Sektor von der „Early Childhood Development Agency“ (ECDA) betreut und gesteuert, die den Ministerien für Bildung und Familie untersteht. Unter dem Motto „Ein guter Start für jedes Kind“ sorgt die ECDA dafür, dass Infrastruktur, qualifiziertes Personal und ständig weiterentwickelte pädagogische Programme zur Verfügung stehen und für jede Familie finanzierbar sind. Dazu gehören auch die Aus- und Weiterbildung der Erzieher, die Qualitätskontrolle der Lehrpläne sowie die Beratung freier Träger, die eine Playgroup oder einen Kindergarten einrichten möchten. Die Bandbreite des Angebots ist ein Spiegel der Bevölkerungsvielfalt, von religiösen oder ethnisch orientierten Trägern bis zu zahlreichen Einrichtungen der PAP Community Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung der Regierungspartei, die etwa die Hälfte aller 495 Kindergärten bereitstellt. Insgesamt gibt es über 200 unterschiedliche Träger. Für Deutschland besonders interessant ist eins der Aufgabenfelder der ECDA, seit 2016 ausgelagert an eine Unterorganisation mit dem Namen KidSTART, die sich um die Einbeziehung und Kommunikation mit den Eltern kümmert , die beraten oder auch von Sozialarbeitern besucht werden, wenn Sie ihre Kinder nicht anmelden und zu Hause behalten. Es geht bei KidSTART um eine Zusammenarbeit mit Eltern, Erziehern, Schulen und Sozialarbeitern, um den betroffenen Kindern, auch den aus Problemfamilien, eine erfolgreiche Schullaufbahn zu ermöglichen. Dies ist ein langfristiges und erfolgversprechendes Entwicklungsprojekt mit internationaler Zusammenarbeit, das Expertenwissen auf Problembereiche anwendet und vom Bildungsministerium finanziell unterstützt wird. Dessen Jahresausgaben für die Vorschulerziehung liegen deutlich über einer Milliarde S$ (720 Millionen Euro).
Das Betreuungsangebot ist sehr differenziert und steht weitgehend flächendeckend allen Eltern zur Verfügung. Es gibt Kleinkinderbetreuung (infant care für 2 bis 18 Monate alte Kinder), danach childcare oder playgroups ab 18 Monaten, und Kindergärten mit Vorschulprogramm für 2 bis 6-Jährige. Insgesamt stehen 1800 Vorschulangebote (preschools) zur Verfügung. Auch wegen der stagnierenden Geburtenrate übersteigt die Zahl der angebotenen Plätze die tatsächlichen Anmeldungen, insofern kann jedes Kind betreut werden, meist auch in unmittelbarer Nähe zum Wohnort. Beim Eintritt in die Grundschule mit sechs Jahren haben mehr als 99% aller Kinder mindestens ein Jahr Vorschule absolviert und können bereits weitgehend lesen, schreiben und rechnen. Wie weit diese Vorkenntnisse gehen, ist im Internet mit den standardisierten Lehrplänen nachzulesen. Es geht nicht um ein „Eintrichtern“, sondern Freude am Entdecken und Lernen sowie das soziale Verhalten in der Gruppe. Einen sehr interessanten Einblick in die Lerninhalte und wann sie bewältigt werden sollen, bietet die Website https://sg.ixl.com, ausführliche Informationen über die ECD findet man unter www.ecda.gov.sg. Die Abstimmung mit den Lerninhalten der Grund- und weiterführenden Schulen zielt auf eine Erleichterung des Übergangs hin und eine möglichst passgenaue Vorbereitung darauf. Ein Vergleich mit den angestrebten und tatsächlichen Ergebnissen in deutschen Kindergärten sei den Eltern und Erziehern dort überlassen.
Für finanziell schlechter gestellte Familien, die es auch im reichen Singapur gibt, werden die monatlichen Gebühren erheblich subventioniert, aber auch für im Vergleich recht gutverdienende Eltern. Bei einem Haushalts-Bruttoeinkommen von monatlich unter 3000 S$ (im Juli 2022 rund 2.100 Euro) wird für die ganztägige Kinderbetreuung zwischen 7 und 19 Uhr ein Zuschuss von 467 S$ gezahlt bei einer Mindest-Selbstbeteiligung von eher symbolischen 3 S$. Die Förderung endet erst bei einem Haushaltseinkommen von über 12.000 S$, zwischen 11.500 und 12.000 gibt es noch einen Zuschuss von 80 und eine Mindest-Selbstbeteiligung von 390 S$. In Deutschland sind die Kindergartengebühren ebenfalls nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt, aber der Singapurer Ansatz, auch und gerade die Kinder aus finanzschwachen Familien einzubeziehen, geht deutlich weiter. Die Subventionen gelten für einheimische Kinder, Ausländer mit Dauer-Aufenthaltsgenehmigung, die in der Regel auch besser verdienen, zahlen die doppelten Gebühren.
Basierend auf der Erkenntnis, dass die kognitive Entwicklung des Menschen im Kleinkindalter entscheidenden Einfluss auf den weiteren Bildungsweg hat, soll die Vorschulerziehung vor allem die Kompetenz zum Lernen und die Freude am Lernen vermitteln. Zu diesen Kompetenzen zählt die ECDA vor allem:
- Den natürlichen Trieb zu lernen, zu entdecken und auszuprobieren, auch außerhalb der normalen Routine (out oft the box).
- Die Fähigkeit, kritisch zu denken, Optionen abzuwägen und sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
- Die Fähigkeit, mit Kindern aus anderen Kulturkreisen zusammen zu arbeiten, sie zu verstehen und ihre unterschiedlichen Sichtweisen zu akzeptieren.
Die Kinder sollen selbstbewusste, flexible und belastbare Persönlichkeiten werden, die Situationen einschätzen, ihre Gefühle kommunizieren und ihre Reaktionen kontrollieren können. Sie sollen selbstbestimmt lernen, Dinge hinterfragen, mit anderen teilen und gut in Teams arbeiten können oder selbst kleine Gruppen anführen. Eine holistische Entwicklungsförderung soll sie darauf vorbereiten, dass es auf ein lebenslanges Lernen ankommt. Die Ziele sind ehrgeizig, aber die Umsetzung des Systems durch die Ministerien, die ECDA, KidSTART, die Lehrer und die Träger der Vorschuleinrichtungen als eine nur partnerschaftlich erfolgversprechende Gemeinschaftsaufgabe ist eine bemerkenswerte politische Leistung. Die Ausbildung und die gesellschaftliche Anerkennung der Lehrkräfte in der Vorschulerziehung tragen zur Qualität und zum Erfolg erheblich bei. Sie sind in Singapur „teacher“, weitgehend ohne hierarchische Abwertung gegenüber den Kolleginnen und Kollegen an den Grund- und Sekundarschulen. Ihr Engagement und Enthusiasmus im Unterricht wird geachtet und auch entsprechend honoriert. Kein Politiker würde es wagen, ihre Arbeit herabzuwürdigen, wie es einmal ein deutscher Spitzenpolitiker getan hat. Im Gegenteil, das Bildungsministerium verleiht regelmäßig Auszeichnungen an besonders verdiente Pädagogen und ehrt den gesamten Berufsstand, indem es dessen Verantwortung für die Zukunft des Landes und jedes einzelne Kind hervorhebt. Die Preisträger werden in einem Jahrbuch mit Darstellung ihrer besonderen Beiträge veröffentlicht. Neben diesen offiziellen Ehrungen gibt es den „Teacher Appreciation Day“ und einen entwickelten Geschäftszweig für kleine Geschenke und Urkunden, mit denen Kinder und Eltern sich bei den Lehrerinnen (in den Vorschulen so gut wie alle) und den Lehrern bedanken können. Otto von Bismarck hat einmal treffend formuliert, dass die Haltung eines Staates gegenüber seinen Lehrern verrät, wie stark oder wie schwach er ist. Das ist leider lange her.
Alternative Illustrationen (aus ECDA-Broschüre und Internet)