Das ist die Geschichte von Ben. Eine Geschichte über kleine Geister, über Worte, die Herzen zerfetzen, während eine Mehrheit lauthals schweigt.
So betrat Ben eines Abends in einen Twitter-Space. Dies ist vergleichbar mit Clubhouse, eine eigene Anwendung in der App, in der Mann mit dem gesprochenen Wort diskutieren kann. Leute, vielleicht fremde Leute, können den sogenannten Space betreten. Als Zuhörer, oder als Sprecher.
Zu jeder dieser Gesprächsrunde gehört mindestens ein Moderator; optional und maximal zwei Stellvertreter. Nichtsahnend begann Ben mit den Teilnehmern, die meisten, sagen wir „Menschen mit Migrationshintergrund“ zu diskutieren. Zunächst über die Ukraine, dann über dies und das. Der Space leerte sich und am Ende stand Ben so gut wie alleine gegen 4-5 Leute da.
So weit, so erträglich. Im Nachhinein werden viele Diskutanten sagen, sie wären von den Moderatoren entfernt worden. Der Ton wurde rauer. Bens Biographie, seine Tweets wurden auf Schwachstellen abgeklopft. Wie kann man ihn am besten fertig machen? Wo ist sein wunder Punkt?
In irgendeiner seiner Veröffentlichung steht etwas über das Judentum. „Bist du Jude?“, fragen die, sagen wir, Neudeutschen ihn. Weder verneint er, noch bestätigt er das. Was danach begann gehört zu den übelsten Stücken an nackten, puren Menschenhass, die auch dem Autor jemals untergekommen ist.
Sie gaben ihm eine Nummer. 312. Seine Spindnummer. Er solle beim Duschen aufpassen, wann das Gas kommt und sich seine Nummer merken. Sehr schnell sprachen Sie ihn nur noch mit der Nummer an. „Hey, warum redest du 312? Hat dich jemand aufgerufen?“ Weiter wurden Bilder aus seiner Timeline mit Gewaltsymbolen versehen und veröffentlicht, so wie viele andere Tweets, die auf vielen Ebenen bösartig, antisemitisch und gewaltverherrlichend sind.
Nur Menschen mit Herzen aus Holz können das mit sich vereinbaren. Nur Menschen ohne einen Funken Anstand, Moral, Menschlichkeit und Liebe in sich. „Nie wieder Opfer“, dachte sich immer Ben. Nie wieder der sein, der am Boden liegt, der bespuckt wird. Nie wieder der, der ausgegrenzt wird, weil er nie der lauteste Schüler war und nicht so schnell und gut im Wort sich ausdrücken konnte, wie die anderen. Weil er nicht sehr cool mit Mädchen umgehen vermochte, wie die Angeber und Machos. die wirklich coolen Typen mit den weiten Hosen und den schrägen Mützen, die ihn nie ernst genommen hatten.
Währenddessen sperrt der zynische Twitter-Algorithmus das Profil von Ben wegen „Hassschüren“. Traumschön.
Dieser Fall ist simpel, winzig klein im Kosmos der menschlichen Grausamkeiten. Und was ist schon Twitter? Doch er zeigt, wie Menschen aus bestimmten Kulturkreis – fürs Protokoll: Nicht alle – auf Andersartigkeiten reagieren.
Sie hassen Homosexuelle, weil sie schwul sind und weil der eine oder andere seine Neigung in dieser Gemeinschaft nicht ausleben kann. Sie hassen Frauen, es sei denn, sie liegen im Bett bereit und sorgen für den Abwasch. Sie hassen freiheitliche Menschen, weil sie die liberale Gesellschaft verachten. Sie hassen Konservative, weil sie ihnen zu abgestanden sind. Sie hassen die Linken, weil sie ihnen zu weich sind. Sie hassen Christen, weil sie Christen sind. Sie hassen Juden, weil sie Juden sind. Oder sein könnten.
Doch was das schlimmste ist: Sie hassen ihre Kinder, wenn sie -gottlob und hoffentlich – anders sind als die eigenen Eltern. Ob Homo, bi, feminin, ob nachdenklich, zu laut, phlegmatisch oder zu aufgedreht. Sie hassen sie, weil sie sich selbst hassen. Weil sie zutiefst ihr patriarchales, degeneriertes Männerbiotop hassen. Sie lesen nichts. Sie können nicht sprechen, außer Beleidigen und Denunzieren. Sie suchen sich die vermeintlich schwachen Opfer, die gar nicht schwach sind, nur eben nicht in ihrer vorgefertigten Welt leben möchten, in der jeder Jota Individualismus eine Beleidigung ihres Gottes ist.
Sie feiern einen Gott, ohne die Schrift zu kennen. Ein Gott, der nichts kann, außer bösartig, zu sein, gemein und niederträchtig. Eifersüchtig, kriegerisch und hinterhältig. Barmherzigkeit gibt es nur, wenn ihr euch gefälligst anpasst. Ansonsten droht die systematische Ausgrenzung bis zum Ehrenmord. Liebe muss man sich eben leisten können und der Tod kommt in Raten.
Wenige tun es aktiv, manche sind Mittäter und die meisten sind Mitläufer. Sie haben eines gemeinsam: Sie tragen Schuld. Sie bilden eine Gemeinschaft des Schauderns. Ein „Verfassungspatriotismus“ ist nichts mehr, als nur ein steiler, zu schwacher Wunsch. Diese Gesellschaft braucht Leitideen. Liebe, Barmherzigkeit, Freiheit. Aber auch Grenzen, Rechtsstaat, Prinzipien Tugenden und Vergeltung.
Am Ende können einem die Täter von Ben und den vielen anderen leid tun. Sie haben ihr eigenes, kleines, erbärmliches Leben nicht im Griff. Sie sind ein Niemand, wollen aber ein Jemand sein. Sie haben Herzen aus Holz.
Quelle: Neomarius