Nachdem sich der US-amerikanische Autor Thomas Ligotti als Verfasser tiefsinniger Horrorgeschichten bereits einen Namen gemacht hat, liest er den Essay „Der letzte Messias“ des kaum bekannten norwegischen Autors Peter Wessel Zapffe (1899–1990). Offenbar bewirkt die Lektüre bei Ligotti einen Denküberschuss, der sich nicht mehr im Horrorgenre ausdrücken lässt, sondern nach philosophischer Verarbeitung verlangt. Bei Zapffe findet Ligotti bestätigt, woran er als Horrorautor keinen Zweifel lässt: dass das Grauen eine nichthintergehbare Konstante menschlichen Daseins ist. Zapffes Essay von 1933 entfaltet in Ligottis geistigem Haushalt enzymatische Wirkung, zieht ihn gleichsam hinunter in die Welt schauderhafter Tatsachen. Zapffe demonstriert ihm, dass der Horror immer schon in die Welt eingesickert ist und nur unter Aufbietung erheblicher Kulturleistungen auf Distanz gehalten werden kann. Zumal folgende Passage aus „Der letzte Messias“ dürfte Ligotti inspiriert haben, da sie das Grauen in der Conditio in-/humana dingfest macht:
„Eines Nachts in längst vergangenen Zeiten erwachte der Mensch und sah sich selbst. Er sah, dass er nackt war unter dem Kosmos, heimatlos im eigenen Leib. Sein hinterfragendes Denken versetzte alles in Auflösung, stellte ihn vor stets neue Rätsel und ließ immerfort neues Entsetzen in seinem Gemüte aufkeimen.“
Ligotti baut Zapffes Essay zu einem faszinierenden Buch aus, dessen Titel, „The conspiracy against the human race“, einiger Erläuterung bedarf: Mit Zapffe erkennt Ligotti im Bewusstsein das unlösbare Menschheitsproblem – tierisches Dasein sei vergleichsweise ein Spaziergang am Waldesrand. Vor dieses Problem habe der Mensch sich nicht selbst gestellt, sondern die Natur war es, indem sie ihn als nunmehr Fremden aus sich entließ. Indem die Natur uns zu Wesen mit überschießendem Bewusstsein mutieren ließ, überantwortete sie uns einem „House of horrors“, aus dem niemand mehr lebend herauskomme. Zumal in der zweiten Hälfte seines Buches informiert Ligotti umsichtig über das anspruchsvolle Horror-Genre – mit Autoren wie Poe oder Lovecraft – als literarische Verarbeitungsform des Anpralls jener unheimlichen Wirklichkeit, mit der der in unheimlicher Welt unheimisch gewordene Mensch fertig werden muss.
Sein überschießendes Bewusstsein verurteile den Menschen zum Alptraum des Daseins, weshalb eine permanente Begrenzung der naturgegebenen Wachheit geboten sei. Mit Zapffe ermittelt Ligotti vier naturwüchsige Dispositive der Entsorgung, die uns den Anprall eines sinnlosen Kosmos, die Unerträglichkeit des Daseins, vom Geiste fernhalten: Isolation (unerträgliche Daseinszumutungen werden in den Dachboden unseres geistigen Haushalts ausgelagert), Verankerung (Metaphysik und Institutionen wirken zusammen, um uns Halt zu geben), Ablenkung (um über den Horror der Welt nicht nachsinnen zu müssen, sehen wir fern), Sublimierung: So sei es etwa eine Sublimierung der Kosmophobie, dass er, Ligotti, das Buch „The conspiracy against the human race“ schreibe.
Aber warum „Conspiracy“, wer hat sich hier gegen uns verschworen? Die Verschwörung gegen die Menschheit besteht für Logotti darin, dass die vier Dispositive der Daseinsberuhigung dafür sorgen, dass auch in Zukunft Menschen geboren und leiden werden, dass es zu keiner bewussten Einsicht in die Notwendigkeit des Aussterbens mittels Nachkommenlosigkeit kommt. Dahingehend nämlich lauteten in Zapffes Essay die letzten Worte des fiktiven letzten Messias: „Erkennt euch selbst, seid unfruchtbar und lasst die Erde nach euch schweigen.“
Was die Einschätzung der Realisierbarkeit dieser pessimistischen Zielvorgabe angeht, ist Ligotti mit Zapffe Pessimist, da der Optimismus nun einmal unser Naturerbe sei und es ihm immer wieder gelinge, uns Menschen mittels positivem Denken leidens- und zukunftsfähig zu halten. Überzeugend erläutert Ligotti die große Branche psychologisch-lebensberatender Literatur als Bemühung, das von zahlreichen anderen Horrorautoren mit ihren spezifischen Mitteln geschilderte Unheimliche auf Abstand zu halten, als einen Schutzmechanismus, der den Durchbruch des Weltwahnsinns bannen soll.
Auf theoretischer Ebene sieht Ligotti – anders als etwa Hermann Vetter oder David Benatar (siehe „Vom Schaden des Existenzbeginns“ unter http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_594/) – eine ewige Pattsituation zwischen Optimismus und Pessimismus. Keine Partei werde die andere jemals mit rationalen Argumenten überzeugen können. Seine Ausführungen zu Horror und Metaphysik erinnern in manchem an Überlegungen Blumenbergs, wo dieser den Mythos als symbolische Anschauungs- und Lebensform zur Entängstigung vor dem Anprall der Wirklichkeit auslegt.
Wie haben wir uns nun jenes Bewusstsein vorzustellen, von dem Ligotti einerseits sagt, es sei unser Verhängnis und für die Tragik unseres Daseins konstitutiv, das aber andererseits als Steigeisen unverzichtbar sein muss, wenn es darum geht, aus dem die Wirklichkeit weichzeichnenden Optimismus heraus nach oben in die dünne Luft zu klettern, wo der letzte Messias haust?
Deuten wir es als bloßes Bewusstsein (im Unterschied zu Selbstbewusstsein), so stehen wir vor dem Problem, dass Menschen schon immer über sich und andere redende, künstlerisch tätige und somit selbstbewusste Wesen waren. Interpretieren wir Ligottis (und Zapffes) Bewusstsein hingegen als Selbstbewusstsein, so fragt sich, was der mutative Sprung noch bezeichnen sollte, von dem er redet. Vielleicht können wir uns den Sachverhalt so zurechtlegen, dass es sich um einen Sprung zu reflektierterer Bewusstheit handelt, wofür etwa die von Karl Jaspers so genannte Achsenzeit 800–600 vor der Zeitrechnung steht, als Menschen ihr Dasein in Asien, Europa und dem Nahen Osten im Taoismus, Buddhismus, der griechischen Philosophie und durch die Propheten des Alten Testaments auf ganz neue Weise problematisierten und auf neuartige Weise Sinn stifteten. Hierzu passt, dass Ligotti die spirituellen Lehrer für die Tragödie der Menschheit verantwortlich macht. Ganz offenbar wäre es ihm nur zu recht, wenn der Welt der Sinntreibstoff ausginge, weil allein in einer solchen Atmosphäre ein letzter Messias mit seiner Botschaft Gehör finden könnte.
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